Das Fabrikat "Große Koalition"

Seite 2: Ruhe als Bürger- und Abgeordnetenpflicht

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Die Freude bei SPD-Mitgliedern darüber, dass sie befragt wurden, ist kurzfristig. Wie wenig auch dieser Partei am Plebiszit als einer Reform der politischen Willensbildung im Bund gelegen ist, zeigt sich im Koalitionsvertrag: Hier ist die Möglichkeit von Volksbegehren und Volksentscheid nicht einmal erwähnt. Aber auch die parlamentarische Politikform gedenkt die Koalition nicht zu beleben; ausdrücklich vereinbart ist im Vertrag, dass im Bundestag strikte Fraktionsdisziplin herrschen soll und ein "Wechselverhalten" der Koalitionsfraktionen bei Abstimmungen wird ausgeschlossen. Offenbar wünscht sich die neue Regierung stetiges Wohlverhalten im Bundestag, eine reichliche Mehrheit hat sie ja, die Opposition ist schwach, und die Grünen werden nicht mutwillig sein, sie möchten bei nächster Gelegenheit mit der regierenden Union partnern.

Dieses regierende Begehren nach Ruhe und Ordnung im Parlamentarismus steht in einem merkwürdigen Kontrast zu den inzwischen üblichen Beteuerungen aller Parteiprominenzen, mehr Partizipation an politischen Entscheidungsprozessen, von Mandatsträgern bis hin zum gemeinen Staatsbürger, sei höchst willkommen, "Mitmachdemokratie" werde nun angestrebt.

Unter der Regie der Großen Koalition werden allerlei Formen politischer "Beteiligung" sicherlich pfleglich behandelt werden, solange sie den Regierungsbetrieb nicht stören. Sie haben, wenn sie sich der Bestimmung von "Richtlinien der Politik" fernhalten, eine Ventilfunktion. Wer aus dem Staatsvolk mitreden will und die nötige Zeit dazu hat, kann Dampf ablassen. Eingehegte Plebiszite wie der SPD-Mitgliederbefragung sind ungefährlich; die Entscheidung über die Prozedur und über die Situation, in der sie arrangiert werden, liegt in der Hand der jeweiligen Führungsgruppen. Politische Herrschaft ist wesentlich Verfügungsgewalt über Verfahren.

Eine Große Koalition mit kleiner Legitimation

Die jetzt amtierende Regierung beruft sich auf den politischen Willen einer ganz großen Mehrheit des Wahlvolkes. Bei näherem Hinsehen sieht es damit gar nicht so üppig aus. Die Wahlverweigerer fallen legimitatorisch aus. Die Anhänger der Unionsparteien haben vermutlich zu einem großen Teil eine Alleinregierung der CDU/CSU, manche auch eine Fortsetzung der Koalition mit der FDP im Sinne gehabt. Die grünen Wähler kommen als Liebhaber einer Großen Koalition nicht in Betracht. Die SPD trat im Wahlkampf mit der Ansage auf, sie werde die Unionskanzlerin zum Abschied aus ihrem Amt bringen. Der Anteil von Wählerinnen und Wählern, die sich für eine Partei entschieden, die nicht ins Parlament kam, was besonders hoch.

In den demoskopischen Umfragen nach der Wahl allerdings schien die Zustimmung zur Großen Koalition nicht gering. Aber da spielte das Gefühl mit, nun sei keine andere Lösung machbar, eine Regierung müsse ja schließlich gebildet werden, Neuwahlen seien eine Quälerei.

Dem Zutrauen des Wahlvolkes in die gestaltende Kraft der Stimmabgabe dient eine solche Form der Installation einer Regierung nicht. Sie fördert, so ist zu vermuten, Verdruss oder auch Apathie - in ihrer Praxis erscheint parlamentarische Demokratie als ein System, in dem Politprofis der etablierten Parteien vor der Wahl Schaukämpfe aufführen, um sich danach in bester Kumpanei zusammen zu tun und die Regierungsposten unter sich zu verteilen.

"Die da oben machen sowieso was sie wollen" ist ein Spruch, der Realitätsbezug hat, in ihm steckt Resignation und doch auch der Wunsch, es möge anders zugehen, insofern ist er in seinem Motiv der Demokratie nicht feindlich. Freilich hilft er dieser nicht auf die Beine. Schon kommen Vorschläge auf, eine Wahlpflicht auch in der Bundesrepublik einzuführen, damit die Legitimationsbasis von Volksvertretung und Regierung nicht zu schwach werde. "Beteiligung" an der Politik als Zwang? Das würde die Demokratie nicht revitalisieren.

Teil 2: Die Parteien - nicht oppositionsfähig.

Dr. Arno Klönne, em. Professor für Sozialwissenschaften, Buchveröffentlichungen u.a. über die Sozialstruktur der Bundesrepublik, das "Dritte Reich" und die Geschichte der Arbeiterbewegung. Mitherausgeber der Zweiwochenschrift "Ossietzky".