Das "Geisterschiff" der Flüchtlingsdebatte

Von vollen Booten und anderen Sachzwängen, die angeblich zur nationalen Selbstgenügsamkeit verpflichten

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Wer die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung kritisiert, fängt sich oft den Vorwurf ein, er sei ein weltfremder Moralist und Spinner, der die banale Tatsache übersieht, dass nicht alle Elenden dieser Welt nach Deutschland kommen können. Das Boot ist voll, heißt dann das einschlägige Schlagwort, mit dem die angeblichen Realisten deutlich machen wollen, dass die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen oder Migranten nicht geht, Deutschland bereits jetzt überfordert ist und daher solche Forderungen als illusionär oder verantwortungslos abzulehnen seien. Der zuständige Minister Horst Seehofer drückt den gleichen Sachverhalt etwas vornehmer aus:

Es muss endlich aufhören, dass der Eindruck erweckt wird, nur wer für unbegrenzte Aufnahme ist, habe ein Herz, und wer für kluges, überlegtes Handeln, für Begrenzung und Steuerung von Migration eintritt, sei ein herzloser Unmensch. Ich kann das für die gesamte Bundesregierung sagen: Wir haben ein weites Herz, aber wir haben keine unbegrenzten Möglichkeiten, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir haben uns für eine Aufnahme einer verantwortbaren Anzahl von besonders Schutzbedürftigen, nämlich Familien mit Kindern, entschieden.

Horst Seehofer, Bild am Sonntag, 20.9.2020

Das mehr oder weniger volle Boot

Wenn man allerdings genau wissen will, wo die Grenze liegt, ab der das Boot voll sein soll, tun sich die Vertreter dieses Realismus schwer: Das Maß des Erträglichen, das hier angegeben wird, ist offenbar sehr variabel. Am konkreten Fall, den unhaltbaren Zuständen im Lager Moria auf Lesbos (Der Brand von Moria), wird das wieder überdeutlich. Sollten zunächst 150 unbegleitete Kinder und Jugendliche aufgenommen werden, so verzehnfachte sich die Anzahl innerhalb kürzester Zeit, ist jetzt aber immer noch weit von der Zahl entfernt, die der Minister vor Jahren als Höchstgrenze für Deutschland angab:

Wir werden nach jetzigem Stand in diesem Jahr weniger als 100.000 Migranten aufnehmen. Das ist auch ein Grund, warum die jetzt gefundene Lösung vertretbar ist. Um aber Missverständnissen vorzubeugen: Wir werden die Zahl nicht etwa so weit auffüllen, dass die von der CSU durchgesetzte Obergrenze von 200.000 Zuwanderer erreicht wird. Die Zahl 200.000 ist keine Soll-, sondern Höchstzahl.

Horst Seehofer, Bild am Sonntag

Warum jetzt bei 1550 Schluss sein soll und nicht gleich alle 13.000 in Lesbos Gestrandeten aufgenommen werden können, will und muss der Minister offenbar gar nicht begründen: Es reicht die Selbstverständlichkeit - die von der Regierung bis zur Opposition der AfD geteilt wird -, dass sich die "Willkommenskultur" von 2015 auf keinen Fall wiederholen darf, vielmehr als definitiver Ausnahmefall zu gelten hat. Dafür hatte damals die CSU die Zahl 200.000 willkürlich festgelegt, als Signal nämlich für ihren Einspruch gegen die Merkel-Linie. Heute erfüllt die Begrenzung auf 1550 oder auf eine andere bescheidene Größenordnung dieselbe Funktion, den Ausnahmecharakter eines Notfalls deutlich zu machen.

Auffällig ist auch der Sprachgebrauch des Ministers, der vorzugsweise von Migranten spricht und die "Begrenzung und Steuerung von Migration" betont - eine Betonung, die ebenfalls im neuen Migrationspakt der EU vorherrscht (vgl. EU: Neuer Pakt zur Asyl- und Migrationspolitik). Der Innenminister richtet damit die Aufmerksamkeit allgemein auf Leute, die von A nach B wollen, aus welchem Grund auch immer. Während Flüchtlingen nach internationalen Vereinbarungen eine Notlage zugestanden wird, soll dies für die Mehrheit der Menschen, die in Deutschland und Europa ihr Heil suchen, nicht gelten. Ein Blickwinkel und ein Sprachgebrauch, die von der Presse weitgehend übernommen wurden.

Soweit wie Seehofer wollen viele Bürger und Bürgerinnen im Lande aber gar nicht gehen und sehen jetzt schon das Boot als überfüllt an. Für sie ist jeder zusätzliche Ausländer, der Deutschland betritt, einer zu viel, und sie kennen höchstens Einzelfälle als Ausnahmen, wenn es etwa um die Verstärkung der eigenen Bundesligamannschaft geht. Dabei wissen sie in der Regel genauestens zwischen Ausländern und Ausländern zu unterscheiden. Ein Auswärtiger, der sein Geld in Deutschland anlegt und in Unternehmungen investiert, ist nicht der Kritik ausgesetzt, schon gar nicht, wenn er als Sponsor der eigenen Mannschaft auftritt. Auch Amerikaner, Holländer oder Australier stehen nicht im Fokus der Kritik - im Gegenteil! Gerade gibt es, zumindest in den betroffenen Regionen, ein großes Bedauern darüber, dass 10.000 US-Soldaten ihren deutschen Stützpunkt verlassen und "uns" in Zukunft Mieter, Kunden, Nachbarn fehlen.

Von daher blamiert sich schon allein die Zahl, die eine konkrete Grenze des "Zuviel" vorstellig machen soll. Bei jedem Kongress oder Festival sind übrigens ausländische Besucher erwünscht, Touristen sind willkommen, weil sie Geld bringen, es gibt Städte und Regionen, die davon leben. Die Feindschaft richtet sich allein gegen die Elendsfiguren, die Deutschland nichts nützen und von ihm nicht ausgenützt werden bzw. dafür nicht bestellt wurden. Beim Ausnützen wechselt der Bedarf bekanntlich mit wirtschaftlichen Konjunkturen, so dass Zufuhr mal mehr oder weniger erwünscht ist.

Es geht also nicht um ein simples Mengenproblem! Das zeigt sich auch daran, dass einige "Biodeutsche" soweit gehen, die Menschen ausländischer Herkunft, die bereits integriert sind, aus dem Land vertreiben zu wollen. Auch da richtet es sich nicht gegen die Investoren aus Katar bei Daimler oder gegen amerikanische Firmen mit ihrem Personal, sondern gegen arme Schlucker.

Dass diese zu viele sind, begründet sich daher auch mit Argumenten, die mit der puren Anzahl nichts zu tun haben, vielmehr damit, dass sie den Deutschen die Arbeit wegnehmen, die Mieten hochtreiben, kriminell sind und die deutsche Sittlichkeit untergraben. Alles Gründe, die auf den Prüfstand gehören!

Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg

Wäre Deutschland wirklich ein Boot, in dem "wir alle sitzen", so würden zusätzliche Hände an Deck die Arbeit leichter machen, und wenn sie einem die Arbeit abnähmen, könnte man die Seereise mit weniger Sorgen genießen. Eine wahrhafte Win-Win-Situation! Aber ihren Verdruss beziehen die Ausländerkritiker nicht aus der Welt der Seefahrt, sondern aus dem Leben in diesem Land, in dem die pure Existenz eine unsichere Angelegenheit ist für die Menschen, die von ihrer Arbeit leben müssen. Doch das gilt diesen leider meist als die größte Selbstverständlichkeit. Die ewige Existenzunsicherheit fällt vielen jedenfalls erst unangenehm auf, sobald jemand Neues ins Boot steigt.

Nun kann es ja sein, dass ein Arbeitgeber einen Deutschen entlässt und gleichzeitig ein Ausländer seinen Job behält oder einen Ausländer statt einem Deutschen einstellt. Und es gibt ja auch - siehe oben - ausländische Arbeitgeber auf deutschem Boden, die dasselbe tun. Nur handeln diejenigen, die über Einstellung oder Entlassung entscheiden, nicht als Ausländer oder Deutsche - entsprechend ihres Passes -, sondern als Chefs von Unternehmen, die andere nur beschäftigen und bezahlen, wenn es sich für sie lohnt. So macht es offenbar keinen Unterschied, welchen Pass die Aktionäre bei VW, Daimler oder Siemens haben, die Rendite muss stimmen - und dementsprechend wird eingestellt oder entlassen, ganz unabhängig von der Nationalität.

Doch dagegen wollen sich die Ausländer-raus-Vertreter gerade nicht wenden! Auch wenn sie mit ihrer Anklage großspurig auftreten, sehen sie sich doch eher als diejenigen, die von den Entscheidungen der maßgeblichen Wirtschaftsbosse abhängig sind, und entdecken ausgerechnet in denjenigen, die genauso auf Arbeit angewiesen sind wie sie, die gefährliche Konkurrenz, die einem das Leben schwer macht. Ganz so, als ob die Mitbewerber es in der Hand hätten, ob ein Deutscher seinen Lebensunterhalt durch Arbeit bestreiten kann oder nicht.

Die so als Realisten auftretenden Bürger entpuppen sich also rasch als weltfremde Typen, ihre Vorstellungen vom nationalen Besitzstand der Arbeitsplätze als höchst naiv (vgl. Arbeitsplatz - der Test). Und von Seiten der Unternehmen geht es längst nicht mehr allein um die Alternative, ob ein Ausländer nach Deutschland kommt, um hier zu arbeiten, oder ob er wegbleibt. Denn das berühmte Boot ist deutschen Politikern wie Unternehmern schon lange viel zu klein geworden.

Die Politik sämtlicher regierenden Parteien hat dafür gesorgt, dass deutschen Firmen die ganze Welt als Anlage- und Absatzmöglichkeit offen steht. Sie können die Arbeitskräfte in so gut wie allen Ländern für sich benutzen und gegeneinander ausspielen. Und dann kommen deutsche Bürger daher und wollen ihr Dorf von Ausländern reinigen, um ihren Arbeitsplatz zu verteidigen!

Die treiben die Mietpreise hoch

Auch bei der Wohnungsfrage - laut dem deutschen Innenminister eine der großen sozialen Fragen der Gegenwart - sieht es nicht anders aus. Was eine Wohnung kostet, entscheiden nicht diejenigen, die den größten Teil ihres Einkommens für die Miete hinlegen müssen. Ganz gleich, welcher Nationalität der Hausbesitzer oder Vermieter auch immer ist, er entscheidet über die Höhe der Mieten, um aus seinem Besitz einen möglichst hohen Mietzins zu erzielen. Auch hier wenden sich die Kritiker nicht gegen die wirklichen Entscheider und deren Rendite-Kalkulationen, sondern gegen die, die als Mitbewerber um eine Wohnung auftreten (könnten).

Und was soll da eigentlich der unterschiedliche Pass für eine Rolle spielen? Wenn es wenige Wohnungen gibt und die Vermieter die Mietpreise mit Genehmigung der Regierung hochtreiben können, dann spielt es doch keine Rolle, ob im betreffenden Fall ein Dutzend Deutsche oder ein Dutzend Mitbewerber - aus Deutschen und Ausländern gemischt - sich um eine Wohnung streiten müssen.

Durch die Ausländer steigt die Kriminalität

Dass der Anteil der ausländischen Mitbürger an der Kriminalität im Lande höher ist als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, kann schon sein. Überraschend wäre das nicht. Schon die Flucht ist ein illegaler Akt, legal kann man als Flüchtling kaum ins Land kommen, dazu braucht es Visa, die man nicht so einfach erhält, etc. pp. Und auch als geduldeter und genehmigter Asylant steht einem ja nicht das Paradies offen, auch hier besteht der Zwang, irgendwie an Geld zu kommen, ob man nun eine Arbeitsgenehmigung hat oder nicht.

Dass ein Teil der Aufgenommenen und Zugelassenen das auf die illegale Tour versucht, wie so mancher Deutscher auch, ist nicht überraschend und macht diejenigen, die sich für diesen Weg entschieden haben, sicher nicht zu angenehmen Zeitgenossen. Auch wenn deren Beschaffungskriminalität im Vergleich zu den eingeborenen Cum-Ex-Gaunern mit ihren Milliardenschäden am Staatshaushalt etwas lächerlich Kleinkariertes hat. Zufrieden wären die Ausländerkritiker wahrscheinlich aber auch nicht, wenn die zugereisten Menschen in gleichem Maße kriminell wären wie die Deutschen. Dennoch soll die höhere Zahl an Kriminalität ein Argument darstellen. Wenn die Kriminalität eines Teils einer Gruppe ein Argument für das Verlassen des Landes abgeben soll, dann müssten übrigens auch massenhaft Deutsche ausreisen, schließlich ist ein nicht unerheblicher Teil kriminell auffällig.

Die untergraben unsere Moral

Dass Ausländer unsere abendländische Moral untergraben, ist ein weiterer Vorwurf, der aber gleich die Frage aufwirft, wodurch sich denn "unsere" Moral auszeichnet? Hier wird gern auf die christlich-abendländische Tradition verwiesen, was ausgesprochen seltsam ist. Sind es doch meist gar nicht die Kirchgänger, die sich gegen die Anwesenheit von Ausländern verwahren, sondern Menschen, die mit dem Christentum nichts am Hut haben, während katholische oder evangelische Bischöfe, aber auch massenhaft christliche Laien ihr Herz der Willkommenskultur öffnen.

Der gleiche Vorwurf, der sich meist auch gegen Menschen richtet, die dem Islam angehören, zeigt nur, wie wenig Ahnung die Ausländerkritiker von denen haben, die sie kritisieren. Sind viele Muslime doch weit moralischer als ihre Kritiker - was nicht für sie sprechen soll. Aber es macht deutlich, welche Dummheiten selbstverständlich durchgehen, wenn man sich mit der "Ausländerfrage" befasst. Schließlich ist Alkohol- und Drogenkonsum im Islam verpönt, die Familienwerte werden hochgehalten, der Moscheebesuch gehört zu den normalen Pflichten.

Und dass in dieser Kultur die Frauen eine untergeordnete Rolle spielen, kann doch keinen Kritikgrund für diejenigen abgeben, die sich selber als Machos inszenieren, oder für diejenigen, die - siehe die AfD mit ihrer Berufung auf die traditionellen Familienwerte - das ganze Gendergedöns, die Homos und Lesben ebenfalls verabscheuen. Und wer sich am Schleier stört, könnte übrigens genauso auf Hochzeiten an der Braut Anstoß nehmen oder bei Nonnen sich darüber aufregen, dass sie auf dieses kuriose Bekleidungsstück nicht verzichten wollen.

Fazit

Gute Argumente für ihr Deutschsein und ihre Ausländerfeindschaft finden sich offenbar nicht, sonst müssten die Kritiker sie nicht an den Haaren herbeiziehen. Ihr Vorurteil kommt auch nicht daher, dass sie regelmäßig die Arbeitsmarkt- oder Kriminalstatistik studieren oder dem Sittenverfall auf den Grund gehen. Sie wiegen sich vielmehr in der Sicherheit, dass Deutschland "ihr" Land ist.

Ihr Traum von einer echten Volksgemeinschaft geht aber nur, wenn sie von allen bestehenden Gegensätzen und Unterschieden in der deutschen Bevölkerung absehen. Was haben die Meiers und Schmitzens denn schon mit den Aldis, Schaefflers, Quants und wie die Clans alle heißen gemeinsam? Die einen müssen zusehen, wie sie mit ihrem Einkommen durch Arbeit über die Runden kommen, während die anderen ihr Geld arbeiten lassen und in Luxus leben.

Die Gemeinsamkeit dieser ganz verschiedenen sozialen Charaktere besteht im deutschen Pass - eine Gemeinsamkeit, die durch Gesetze, also Gewalt, geregelt ist. Und das soll die positive Grundlage für eine Gemeinschaft bilden? Wo man sich ganz heimisch fühlt und im vertrauten Umgang mit Seinesgleichen ist? Verräterisch ist da ja schon das Bild von der Gemeinschaft, die sich in einem Boot auf hoher See gegen die Widrigkeiten der Natur behaupten soll - ein Bild, das auch von den wirklichen Unterschieden auf einem Schiff absieht. Denn dort befinden sich ja einige auf der Brücke und befehlen, während die übrigen an oder unter Deck rudern bzw. arbeiten müssen. Der nationalistische Gemeinschaftstraum verlangt in der Tat dem Realitätssinn einiges ab!