Das Geschäft mit Natascha geht weiter
In England erscheint am 30. November ein schon vor der Veröffentlichung heftig umstrittenes Buch über die Entführung von Natascha Kampusch
Die Szene ereignete sich in einem kleinen “Spar”-Supermarkt am langen Sandstrand in der Bucht von Alcudia im Nordosten der Ferieninsel Mallorca Ende August dieses Jahres. Vor dem Zeitungsständer am Eingang starrt ein deutsches Paar auf die BILD-Schlagzeile an diesem Tag: “Natascha: Sie weinte um ihren Entführer.” Die Frau äußert sich - wohl absichtlich - lautstark: “Erst macht sie jahrelang mit ihrem Entführer ‘rum, jetzt vergießt sie Krokodilstränen und kassiert bestimmt auch noch Millionen dafür.” Niemand von den deutschen Urlaubern, die an diesem Morgen in dem Supermarkt einkaufen, nimmt offenbar Anstoß an der lautstarken Unmutsäußerung der Frau - zumindest widerspricht keiner.
Die Meinung der Deutschen war keinesfalls eine Ausnahme, wenn es um Beurteilungen des “Falls Natascha Kampusch” ging. Der inzwischen 18-Jährigen war am 23. August die Flucht gelungen. Mehr als acht Jahre lang war sie zuvor von ihrem Entführer Wolfgang Priklopil im Keller seines Hauses in Strasshof bei Wien, zumeist in einem bunkerartig ausgebauten Raum, gefangen gehalten worden. Der Entführer nahm sich noch am Tag der Flucht seines Opfers das Leben. Nataschas Geschichte wurde zur Topstory für die Medien weltweit. Zeitweise war sie sogar für den Women’s World Award im Gespräch.
Neid und Hass in Internetforen
Wer von den Medien dermaßen in den Mittelpunkt der Berichterstattung gezerrt wird, bekommt in der Regel bald auch die Schattenseiten dieser ungeahnten Berühmtheit zu spüren. Natascha Kampusch erging es kaum anders als unzähligen “Medienopfern” zuvor. In Zuschriften vor allem an österreichische Zeitungen, in Internetforen und Weblogs wurde in den folgenden Wochen heftig über den Fall diskutiert. Neben viel Sympathie für das Entführungsopfer gab es auch zunehmend Stimmen voller Neid und sogar offenem Hass: “Letzten Endes hat Frau Kampusch für acht Jahre ‚Urlaub von der Familie‘ heute bereits mehr Geld auf dem Konto als mancher nach 45 Jahren Lebensarbeitszeit“, zitierte BILD im September einen Eintrag aus dem Internetforum des österreichischen Boulevardblatts “Kronen Zeitung”, der inzwischen allerdings gelöscht wurde. Zuvor war bekannt geworden, dass Natascha Kampusch für exklusive Interviews mit der “Krone”, dem österreichischen Wochenmagazin “News” und dem öffentlich-rechtlichen ORF sowie für den Weiterverkauf der Interviews unter anderem an RTL insgesamt rund eine Million Euro erhalten haben soll.
Einige Medien, die nicht mit Interviews bedacht worden waren, veröffentlichten bald darauf vermeintlich weitere “exklusive” Informationen. So berichtete der „Stern”, Natascha Kampusch habe Anfang 2006 mit ihrem Entführer Wolfgang Priklopil einen Ausflug in das Skigebiet Semmering rund 100 Kilometer südwestlich von Wien gemacht. Bei einer Verkehrskontrolle der Polizei habe sie sich darüber hinaus nicht zu erkennen gegeben, schrieb das deutsche Wochenmagazin unter Berufung auf einen Ermittler. Das Entführungsopfer widersprach zwar mehrfach dieser Darstellung - “Ich war niemals am Semmering. Das ist Blödsinn” - ihre Glaubwürdigkeit wurde medial jedoch nachhaltig erschüttert.
Das Mädchen in dem Keller
Für weitere Unruhe und Spekulationen sorgt schon jetzt ein Buch des Wiener Journalisten Michael Leidig, das er gemeinsam mit dem britischen Autoren Allan Hall verfasst hat. “The Girl in the Cellar: The Natascha Kampusch Story” erscheint am 30. November in Großbritannien und wird von dem renommierten Verlag Hodder & Stoughton auf den Markt gebracht wird. Schon wenige Tage später soll in den Niederlanden eine holländische Fassung erscheinen. Eine deutschsprachige Ausgabe ist vorerst nicht geplant, weil Verlag und Autoren juristischen Streitigkeiten mit den Anwälten des Entführungsopfers aus dem Weg gehen wollen. Kampuschs Anwalt will dennoch dagegen vorgehen: “Wir werden alle rechtlichen Schritte ergreifen”, sagte Gerald Ganzger am Donnerstag gegenüber der “Wiener Zeitung”. Allerdings sei bislang eine Beurteilung des Werks noch schwierig, obwohl die britische Tageszeitung “The Times” bereits mehrere Passagen vorab veröffentlichte.
War Nataschas Gefängnis ein Zufluchtsort?, schrieb das zum Murdoch-Imperium gehörende Blatt am Freitag provokant über eine Passage aus dem Buch, in dem die Autoren vor allem schwere Vorwürfe gegen die Mutter des Entführungsopfers , aber auch gegen den Wiener Psychiater Dr. Max Friedrich erheben. Bereits 1998 seien dem bekannten österreichischen Psychiater vier Bilder aus einer Fotosammlung der Mutter vorgelegt worden, die die seinerzeit 10jährige Natascha in sexuell anrüchigen Posen zeigen, schreiben Leidig und Hall unter Berufung auf einen namentlich genannten ehemaligen Leiter einer Polizeieinsatzgruppe, der damals an der Fahndung nach der Entführten direkt beteiligt war. Friedrich habe zu dieser Zeit entschieden, dass dieses Material nicht in die weitere Fahndung einbezogen werden solle.
Journalist Leidig will mit diesen und weiteren vermeintlichen Enthüllungen nach Angaben der “Wiener Zeitung” einer autorisierten Biografie nicht zuvorkommen, sondern eher einen Anstoß dazu geben: “Wir werfen viele Fragen auf, die nur Kampusch selbst beantworten kann”, wird er von der ältesten österreichischen Tageszeitung zitiert. Die anderen Medien in der Alpenrepublik tun sich in diesen Tagen sichtlich schwer mit der Berichterstattung über die englische Buchveröffentlichung. Zuerst habe man offenbar verabredet, über die Sache gar nicht zu berichten, mutmaßt ein Wiener Insider. Als sich am Freitag jedoch die Tageszeitung “Österreich” des Themas schließlich annahm, folgten bald darauf auch die anderen einflussreichen Medien des Landes in nahezu gleichlautendem Tenor: Das so genannte “Skandal-Buch” sei ein “Geschäft mit Natascha”.
Rekordquoten mit Natascha
Das “Geschäft” hatten zuvor vor allem Österreichs Massenmedien gemacht. Printtitel wie “Krone”, “Kurier” und “News” erreichten Rekordauflagen. Der Tagezeitung “Österreich”, die der Verleger Wolfgang Fellner am 1. September gestartet hatte, verhalf der Entführungsfall zu einem besonders erfolgreichen Markteintritt. Über 330.000 Exemplare seien in der ersten Woche durchschnittlich verkauft worden, freute sich seinerzeit der umtriebige Verleger - inzwischen ist die Auflage auf die Hälfte zurückgegangen. Das zweite Programm des ORF erreichte bei der Ausstrahlung des Interviews mit Natascha Kampusch am 6. September eine noch nie zuvor da gewesene Einschaltquote von 80%, obwohl zeitgleich im ersten Programm ein Fußballländerspiel der österreichischen Nationalmannschaft live ausgestrahlt wurde.
Wann das “Geschäft mit Natascha” in Österreich weitergeht, ist noch ungewiss. Die Nachfrage ist zumindest enorm und es gibt Angebote auch für eine autorisierte Buchveröffentlichung, bestätigte ihr Berater Stefan Bachleitner gegenüber der Tageszeitung “Österreich”: “Sie bekommt unzählige Angebote, die von ihren Anwälten gesammelt werden. Vielleicht wird es das Buch geben - sie will es aber selbst schreiben.”