Das Imperium schlägt zurück
Wie die FAZ mit dem Unwissen der Leser aufzutrumpfen versucht
Als Harald Schmidt in seiner Show das Feuilleton der FAZ in die Kamera hielt, war der vorläufige Höhepunkt einer Debatte erreicht, die Frank Schirrmacher unter dem Titel "Europa schläft: eine Nachschulung" am 23. Mai in Deutschland angezettelt hatte (Wachgeküsst: Die FAZ entdeckt die Neuen Medien). Am 27. Juni hatte die FAZ sechs Seiten ihres Kulturteils darauf verwendet, 320.000 Basenpaare abzudrucken, 0,1 Prozent des entschlüsselten Genoms, das Craig Venter höchstpersönlich "morgens um drei Uhr früh" der FAZ zuschickte.
Stolz präsentierte man das "Schlusskapitel im Buch des Lebens" - und übersah völlig die unfreiwillige Komik des dadaistischen "Textes", die sich Harald Schmidt natürlich nicht entgehen ließ. "Gaggat" und "Tictac", "Caacaa" und "Attitt" machen nun aber nicht nur einen lustigen Sound, wie man ihn von avantgardistischer Lyrik kennt, sondern verweisen in ihrer Sinnleere auf den Deutungsbedarf dieses "Buchs des Lebens".
Der Soziologe Peter Fuchs hat in der taz vom 11. Juli darauf hingewiesen, dass die Lektüre dieses Textes nicht von der Biochemie der Basenpaare selbst vorgegeben wird, sondern in der Gesellschaft stattfindet und wie jede Deutung sozialen Vorgaben, Deutungsmustern oder Diskursen verpflichtet ist. Die "Metaphorik" der Lektüre wird dagegen in den FAZ-Beiträgen ausgiebig dazu genutzt, Deutungen vorzunehmen, die sich allein der Biegsamkeit der Metapher verdanken, nicht aber den Forschungsergebnissen der Biotechnologie verpflichtet sind.
Die beliebteste Interpretation ist die, dass wir demnächst zweihundert Jahre alt werden können, dass uns ewige Jugend geschenkt, dass der Mensch unsterblich werde. Wer das "Buch des Lebens" entschlüsselt hat, der kann es selbst neu schreiben. Diese Logik folgt der kabbalistischen Suche nach dem Namen Gottes. Wer den Namen Gottes kennt, kann die Schöpfung neu erschaffen. Die so entschieden technisch-materialistisch auftretende Debatte, deren bedeutendster Beitrag im Abdruck von Basenpaaren bestand, folgt tatsächlich also semantischen Traditionen, vor allem religiösen Vorgaben. Auch Bill Joys düstere Prophezeiungen, Gentechnik (Robotik und Nanotechnologie) machten den Menschen zu einer gefährdeten Spezies, folgen diesem Muster; sein Genre ist die Apokalypse.
Der Sensation, in der Harald-Schmidt-Show dem FAZ-Feuilleton zu begegnen, folgte nun am 11. Juli ein weiteres Highlight: die FAZ feiert sich selbst. "Wired" habe gemeldet: "Buchstäblich Stunden nach der Veröffentlichung von Bill Joys Essay »Warum die Zukunft uns nicht braucht« (FAZ vom 6. Juni 2000) kamen Reaktionen aus allen Teilen der Welt." "Wired", so schreibt die FAZ weiter, "veröffentlicht in seiner aktuellen Ausgabe zehn Seiten mit Reaktionen. Etliche Leser, darunter die Chefs von weltweit operierenden Technologiefirmen, bekunden, wie sehr Joys Artikel sie beeindruckt hat." Kongressmitglieder und einige der Berater Bill Clintons diskutieren die angesprochenen Fragen". Sherry Turkle, George Dyson zählen zu den namhaften Kommentatoren. Die USA horchen auf.
Die Relevanz der FAZ-Debatte scheint sich damit eindrucksvoll bestätigt zu haben, zumindest sieht es so aus, denn nichts in diesem Artikel erinnert daran, dass "Bill Joys Essay »Warum die Zukunft uns nicht braucht« (FAZ vom 6. Juni 2000)" keineswegs zuerst in der FAZ erschienen ist, sondern eben in "Wired" (Angst vor der Zukunft), und "Wired" also keinesfalls die beeindruckenden Reaktionen auf die FAZ dokumentiert, sondern die Reichweite eines hauseigenen Artikels. Schirrmachers WAKE-UP CALL FOR EUROPE TECH hat bislang weniger dazu geführt, dass "an dem Code, der hier [in den USA, NW] geschrieben wird", endlich mitgeschrieben wird, vielmehr hat die FAZ eine ganze Debatte schlicht importiert und so vorerst nur das Vorurteil bestärkt, Europa brauche amerikanische Nachhilfe.