Das Jahr 2004: Looking back in anger
Ein Katastrophenjahr geht zu Ende
Die Rückschau auf ein Jahr erscheint oft als zufälliges Kaffeesatzlesen in der umtriebigen Geschichte, weil sich die mächtigen Linien gesellschaftlicher Veränderungen nicht an den historischen Ereignissen eines Jahres festmachen lassen. Und doch: 2004 bot viel plastischen Anschauungsunterricht, dass die Brüche und Eruptionen global vernetzter Gesellschaften längst nicht mehr mit dem selbstgefälligen Bild eines mehr oder minder stetigen Fortschritts auf dem Weg zum globalen Glück einhergehen. Wer will entscheiden, welchen Weg die List der Vernunft in der Geschichte wählt, wenn doch nicht nur mit der "Schlussveranstaltung" des Jahres, den Todesfluten in Südostasien, der Verdacht erhalten bleibt, die Vernunft könnte nicht das ausschließliche Konstruktionsprinzip dieses Globus sein.
Die bundesrepublikanische Dschungel-Camp-Gesellschaft
Dass der Mensch zur Vernunft und Selbstreflexion fähig ist, hat indes der Media Markt im 2004 neu entdeckt: "Lasst euch nicht verarschen. Vor allem nicht beim Preis."
Das stellt unzweifelhaft klar, dass der Bürger und Wähler mit diesem Prinzip praktischer Vernunft auch bei einer anderen Agenda gut fahren könnte. Der CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer war danach fällig. Die Pointe bestand diesmal darin, dass der christliche Doppelverdiener in Zeiten bundesrepublikanischer Sozialstaatsdemontagen noch glaubte, sich durch eine Zahlung von 80.000 Euro an SOS-Kinderdörfer aus dieser degoutanten Affäre retten zu können.
Schon das freigiebige Ansinnen macht deutlich, dass die Vorstellung, was man dem gedächtnisschwachen Wähler alles verkaufen kann, offensichtlich einen weiteren Verfall politischer Moral anzeigt. Meyer rechtfertigte sein Extrasalär, das er vom RWE spendiert bekam, damit, er habe noch für diese gearbeitet. Es ist doch erstaunlich, dass ein Partei-Generalsekretär so fleißig Nebentätigkeiten nachgehen kann. Er bezieht vergünstigten Strom und Gas vom RWE und erhält zudem einen privaten Baukredit, während seine Wähler den Gürtel enger schnallen sollen. Doch dieser Geist bleibt immergrün in parteioligarchischen Verhältnissen: Wasser predigen und Wein trinken.
Das Wasser wurde dieses Jahr von den Christdemokraten mit reichlich Patriotismus versetzt, d.h. mit so patriotischem wie kostengünstigen Weihwasser für die einen, während die anderen RWE-Wärmeströme empfangen. Nun ist der Fleiß des gemischt privat-öffentlichen "multi-tasking" offenbar eine parteiübergreifende Tugend: Zwei niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete, Ingolf Viereck und Hans-Hermann Wendhausen, genehmigen sich neben ihren Diäten Gehälter von Volkswagen in Höhe von rund 3000 Euro im Monat.
Solche neu aufscheinenden Skandale wie die abgelegten indizieren, dass die Solidargemeinschaft Bundesrepublik Deutschland eher den Zuschnitt eines wildwuchernden Dschungelcamps hat. Nicht nur Politiker wie Meyer, auch Manager stehen jenseits ihrer kostensparenden Durchhalteappelle der Solidargemeinschaft fern. Sie sind die neodarwinistischen Raffkes, die ihren ungehinderten Zugang zu den Trögen ohne Rücksicht ausnutzen. Der Mannesmann-Prozess endet 2004 mit Freisprüchen für den Chef der Deutschen Bank AG, Josef Ackermann, sowie die fünf übrigen Ich-Patrioten um Klaus Esser. Mag sein, dass der Vorwurf der schweren Untreue bei der Übernahme durch Vodafone juristisch nicht zu begründen war. Aber was zeigt das anderes an als immense Defizite des Rechtsstaats und einen Mangel an demokratischen Kontrollsystemen, die ein global agierender Neoliberalismus fröhlich-frei konterkariert.
Der fällige Paradigmenwechsel wird weiter hinausgeschoben
Wie will man durchgreifende Mentalitätsumschwünge in einer Egoismus-Gesellschaft forcieren, die solche Selbstbereicherungspraktiken schon mit dem Wirtschaftswunder aufgesogen hat: "Man ist, was man ist nicht durch den inneren Wert, den kriegt man gratis, wenn man Straßenkreuzer fährt. Man tut, was man tut nur aus dem Selbsterhaltungstrieb, denn man hat sich nur selber lieb." (Hazy Osterwald, 1961). Neokonsumistisch heißt das heute: "Geiz ist geil." Und da in Mediengesellschaften zur parareligiösen Glaubensüberzeugung wird, was nur oft genug wiederholt wird, besteht die Chance, dass nicht nur diese armseligste Spießertugend wieder hoffähig wird, sondern auch die unsolidarische "Sauve-qui-peut-Mentalität" bis auf weiteres attraktiv bleibt. In der Sprache eines Kabarettisten zur bundesdeutschen Titanic-Gesellschaft: "Rette mich, wer kann. Frauen und Kinder aus dem Weg."
Die äußeren Werte und das Leistungsprinzip gehen längst eine schlechte Ehe ein, wo schon zuvor nur ein Narr glauben konnte, dass Leistung und Verdienst aristotelischen Proportionen folgen. Das fragil gewordene Leistungsprinzip will man nun in Elite-Universitäten wieder plausibel machen. Forschungsministerin Edelgard Bulmahn fordert die Schaffung von zehn Elite-Universitäten in Deutschland, was nicht per se widersinnig ist, doch in den dramatischen Umbrüchen einer ehemaligen Wohlstandsgesellschaft eher zur Marginalie verkommen könnte. Eine Elite ohne den Humus einer soliden Ausbildungs- und Berufsstruktur in einer gerechten Arbeitsgesellschaft vertieft indes nur die ohnehin bestehenden Gräben zwischen dem Heer schlecht oder gar nicht ausgebildeter Jugendlicher und einer Bildungs- und Geldelite. Wenn denn schon die diffuse, 2004 geborene Polit-Kategorie der Parallelgesellschaften ernst zu nehmen wäre, dann wohl darin, dass Klassenstrukturen wieder definiert werden können. Denn die vorgeblich antiquierte Soziologie von Klassengesellschaften erfüllt sich mit neuem altem Sinn, wenn Menschen von Anfang an ihrer Partizipationschancen am gesellschaftlichen Wohlstand beraubt werden und schließlich als "Sozialschmarotzer" diffamiert werden dürfen.
Die Arbeitslosenzahlen steigen auch 2004 weiter an, was dann das geniale Unternehmensrezept gebiert, die Deutschen müssten wieder mehr arbeiten. Offensichtlich ist längst ein radikaler Paradigmenwechsel fällig, den sich die offizielle Politik nicht eingestehen will, obwohl der Verfall klassischer Erwerbsstrukturen immer augenscheinlicher wird. Statt dessen glaubt man über die großen Parteien hinweg immer noch, man könne den Sozialstaat zunächst auf Schrumpfstufe fahren, um in irgendeiner Zukunft wieder die alten Strukturen restaurieren zu können: "Der Sozialstaat ist längst überdehnt und muss zurückgeführt werden; nicht um sozial Schwächere zu ärgern oder zu demütigen, sondern - im Gegenteil - um ihn auf lange Sicht so zu erhalten, dass die wirklich Bedürftigen unterstützt werden können", meint pars pro toto Carl Graf Hohenthal in der "Welt". Doch diese wertkonservativen Gläubigen, wenn sie es denn wirklich sind und nicht nur eine ihnen längst entglittene Dynamik zwischen Hartz IV und AGL II schön reden, wandeln auf dünnem Eis.
Denn in Zukunft dürfe es immer weniger klassische Lohnarbeit geben. Das ist nicht lediglich ein temporärer Globalisierungseffekt, der durch die Angleichung von Lebens- und Arbeitsbedingungen sich wieder auf erträgliche Verhältnisse einpendeln könnte. Es geht um einen unaufhaltsamen Zuwachs an technisch avancierter Produktivität, die menschliche Arbeitskraft stetig entwertet. Zwar kann man immer bessere Qualifikationen verlangen. Doch aus welchem Grunde sollten maschinelle Fertigungen, technisch programmierte Arbeitsabläufe künstlich antiquiert werden, so wenig je ein Maschinensturm historisch erfolgreich gewesen wäre?
Ohnehin ist es politisch billig, eine bessere Bildung zu fordern, wenn doch klar ist, dass dieses schnellläufige System der Entwertung menschlicher Arbeit inzwischen auch die "Bessergebildeten" einholt. Menschliches Wissen verliert immer mehr an Kompatibilität mit tendenziell selbstläufigen Informationstechnologien. Nun ist der Ruf nach besserer Bildung der pisageschädigten Gesellschaft ohnehin müßig, weil das marode Bildungssystem wie alle anderen staatlichen Leistungsbereiche längst chronisch unterfinanziert ist. Das Schreckgespenst einer radikalen Umverteilung, die sich vom Leistungsbewertungssystem "Arbeit" verabschiedet, will keiner beschwören. Lieber wartet man darauf, dass der Mittelstand weiter wegbricht, die unzähligen kleinen und mittleren Betriebe immer stärker an den Rand der Existenz gedrängt wird und die Zahl der Sozialstaatsabhängigen zu einer schwer kalkulierbaren Reservearmee im vorläufigen Ruhestand werden könnte. Selbst die Großen wie den KarstadtQuelle-Konzern und Opel holte es 2004 wiederum zu Lasten der Kleinen ein.
Offensichtlich glaubt der Wähler zum Ende des Jahres auch längst nicht mehr, dass die Opposition die maroden Verhältnisse ohne weiteres richten kann. Der scheinbar unaufhaltsame Vorsprung der Christdemokraten schmolz insbesondere nach der unseligen Meyer-Affäre auf unter 40 Prozent Zustimmung der potenziellen CDU-Wähler zusammen. Die Seehofer-Kontroverse machte zudem klar, dass das Christentum zwischen klassischer Soziallehre und neoliberaler Denkungsart höchst verschieden definiert werden kann. Vielleicht ist eine in das internationale und vor allem europäische Machtgeflecht eingebundene Politik, die zudem im Innern von Lobbyisten angefressen wird, ohnehin nicht mehr die richtige Adresse, die sozialstaatlichen Verhältnisse zu richten. Adornos moralische Leitmaxime wäre womöglich im Angesicht dieser schlingernden Politik neu zu formulieren: Man sollte sich auch von der Ohnmacht der Politiker nicht verrückt machen lassen.
Die patriotische Multi-Kulti-Schizo-Gesellschaft
Nun soll die patriotische Gesellschaft die Multi-Kulti-Gesellschaft ersetzen (Die Stunde der Patrioten). Doch "Multi-Kulti" ist keine kollektive Entscheidung, kein modifizierbarer Gesellschaftsvertrag, sondern die Kondition von Gesellschaften, die eben mit der Kultur keine emphatische Bedeutung mehr verbinden. Kultur wird zur Marginalie, mag jeder nach seiner Façon glückselig werden, so wenig das Glücksversprechen von Kulturen bisher je eingelöst wurde.
Im Westen ist Kultur ein unverbindlicher Wegwerfartikel, open source für jedermann - eine mediale Inszenierung etwa zwischen Thomas Gottschalk, dem 2004 reanimierten, politisch korrekt unkorrekten Harald Schmidt, RTL und MTV, dem vorgeblich objektivierbaren Literaturkanon, dekretiert von Marcel Reich-Ranicki, und allfälligen Splatter-Channels. Wenn andere Kulturen dagegen mit hegemonialem Anspruch auftreten, besitzt "Multi-Kulti" wenig Kriterien, um die Frage der Toleranz zu definieren. "Relativism disguised as tolerance" beklagte der amerikanische Neokonservative Allan Bloom diesen Standard des Westens, der die ältere Begrifflichkeit der Dekadenz oder des Untergangs des Abendlands ersetzt hat.
Der Westen hat jenseits elementarer und noch zu oft malträtierter Menschenrechte keinen Begriff mehr von (s)einer Kultur, die sich verbindlich gegenüber anderen Kulturen setzt. Doch der Anschlag auf Theo van Gogh oder andere martialische Bezeugungen eines unversöhnlichen Fundamentalismus muslimischer Herkunft sind nicht lediglich Belege für deren kompromisslosen Freund-Feind-Dezisionismus, der selbst unseren christlichen Hardlinern wie etwa Kardinal Meisner hierzulande nicht mehr vertraut sein dürfte. Es ist zugleich eine wohl begründete Angst, dass die eigene Kultur und Religion vom westlichen Werterelativismus kontaminiert und zersetzt werden könnten.
Ende September 2004 erklärt Scheich Abdelasis bin Abdullah Al el Scheich, dass der Verkauf und die Benutzung von Foto-Handys eine Sünde sei: "Diese Geräte sollten, selbst wenn sie auch zu einem nützlichen Zweck genutzt werden können, verboten werden, denn man soll Schaden von der muslimischen Gesellschaft abwenden und die Geräte könnten eben auch zum Fotografieren sündiger Dinge benutzt werden."
Der Mufti des islamischen Königreichs Saudi-Arabien weiß sehr genau um die Gefährdungen seines Religionsverständnisses durch die westliche Technik, die er offensichtlich nicht für ein universal prometheisches Geschenk an die Menschheit hält. Was das Christentum schmerzlich als Exodus der vormals Gläubigen erlebt, könnte in der Tat auch andere Religionen treffen. Und wo anders endet der Dialog von Religionen, der hierzulande interkonfessionell nicht mal ein gemeinsames Abendmahl zustandegebracht hat, als in ihrer Unverbindlichkeit?
Die Attraktivitäts- und Verbindlichkeitsverluste der westlichen Kultur lassen sich weder durch gottergebene Präambeln in einer Europaverfassung noch durch Rückbesinnung auf die einstige "stille Einfalt und edle Größe" eines klassischen Erbes retten. Wenn Traditionen beschworen werden, existieren sie nach Hannah Arendt bereits nicht mehr. Ob die Türkei nun in die diesjährig ost-erweiterte EU einzieht oder nicht, ist ohnehin nicht von Kulturkampf oder -dialog abhängig, sondern vollzieht nur das, was einer globalen Dynamik entspricht.
Bushs Amerika hat durch den politischen Wort-Zwitter des "amerikanischen Internationalismus", der mehr als ein nationaltrunkener Terminus ist, längst die Kampfansage für ein zusammen rückendes Europa und andere Nachwuchs-Moloche wie China und Indien, aber eben noch mehr für die islamische Welt, ausgegeben. Der klassische Nationalstaat ist auch ohne solche globalen Machtansprüche erledigt, was zum ehesten durch seine Wiederkehr in dumpfen Parteitagsreden belegt wird. Es kann in der Hoffnung auf die Altbestände abendländischer Aufklärung nur noch darum gehen, ein Weltbürgertum mit echtem Sinn zu beleben, mithin die Lebens- und Arbeitsbedingungen global so anzugleichen, dass zugleich die politischen Konditionen ein humaneres Gepräge erhalten. Auch das trotz aller amerikanischer Anti-Terror-Programme unberührte Weiterleben von al-Qaida machte auch in diesem Jahr überdeutlich, wie wichtig der Ausbau eines internationalen, für alle Staaten verbindlichen Rechtssystems ist.
Das Jahr der Folter
Doch diesen Kurs kennt der neue alte US-Präsident nicht. Bush Desavouierung der UNO und die anschließende Selbstdemontage selbst der elementarsten Werte westlicher Kultur war 2004 nicht nur Teil eines irakischen, sondern eines globalen Trauerspiels. Folgt dieser Gotteskrieger heimlich dem Spruch: "Puritanismus ist die quälende Furcht, dass irgendwer irgendwo glücklicher sein könnte." (Henry Louis Mencken, amerikanischer Journalist und Literaturkritiker, 1880-1956).
Dabei will Bush doch vorgeblich das Glück der Verdammten dieser Erde. Amerikas Demokratieverordnung zum Sofortverzehr funktioniert dabei ähnlich gut wie die demokratische Kontrolle von Kriegspräsidenten, die ungestraft der Lüge überführt werden und trotzdem weiter regieren dürfen. Abu Ghraib wurde 2004 zu dem paradigmatischen Ort, an dem der Westen seine seit je fragile Autorität in Sachen "Menschenrechte" verloren hat (Die intellektuellen Wegbereiter von Folter und Willkürjustiz). Der schneidige Anschauungsunterricht westlicher Kriegspraxis hat just die Ressentiments von Andersgläubigen bestätigt, die vormals noch als selbstgefällige Vorurteile abgetan werden konnten.
Die einzigen Ikonen, die dieses Jahr 2004 überleben sollten, weil sich der Westen darin selbst verraten hat, sind die weiter sprudelnden Bilder irakischer Folteropfer. Dabei fehlen im antihumanen Gesamtpanorama der selbsternannten Zivilisationsretter noch viele Bilder von dem, was sich jenseits des Iraks in Guantanamo Bay und zahlreichen ungenannten Plätzen des Globus abgespielt hat (Die systematisch betriebene Folter). Wer seine Kriege damit begründet, den Inhumanitäten ein Ende zu setzen und dann selbst foltert, ist ein Barbar. Doch dabei handelt es sich um eine Barbarei der besonderen Art, weil Despoten wie Saddam Hussein oder Potentaten der Dritten Welt den Anspruch einer freiheitlichen Gesellschaft nie reklamiert haben.
Bush hat es nicht geschadet. Die moralinsaure, bigotte Suppe wurde auch 2004 dem nicht hinlänglich desillusionierten amerikanischen Wähler gereicht, was wiederum die laxe Behauptung stützt, dass ein Volk die Führer bekommt, die es verdient. Dieses "Team America" hat eine Politik der Freiheit durch eine pharisäische Globalmoral ersetzt, die ohnehin schwachen Strukturen einer rechtlich gefestigten Weltbürgergesellschaft durch unilaterale Gewaltaktionen und das Prinzip leidlich aufgeklärter Demokratien durch einen demokratisch verbrämten Gottesstaat, der tief verfilzt mit den Interessen amerikanischen Machtcliquen ist.
Für Carl Schmitt, den Hüter des Führerprinzips in seiner dunkelsten Variante, lag das Wesen einer Diktatur in der Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Übersetzt: Man verletzt das Recht, um damit doch letztlich seinem normativen Zweck zu dienen. Nun ist Amerika keine Diktatur, aber die Spannung zwischen Menschenrechten, die den Kern der amerikanischen Verfassung bilden, und ihrer Außerkraftsetzung hier wie dort birgt just diese brisante Dialektik, die schließlich eine Freizeichnung des Rechtsstaats auf eine ungewisse Zukunft hin legitimieren könnte.
Nun bot 2004 Folter auch noch in anderen Varianten. Von der werteabwägenden "Rettungsfolter" im Fall Gäfgen-Daschner (Rechtsstaat contra Volkszorn), die noch zum ehesten ein Gefühl der Unsicherheit zwischen "juristischer Katastrophe" (Ulrich Wesel) und populistischer Zustimmung auslösen mag, bis hin zum Bundeswehrskandal. Dort stellte man 2004 Geiselnahmen mit Echtheitszertifikat nach und verhörte mit Nackenschlägen und Elektroschocks.
Epilog
Dass die Natur noch ganz andere Torturen bereithält als Zivilisationsfolter, dafür steht eine der größeren Menschheitskatastrophen: die verheerenden Überflutungen in Südostasien, deren Opferzahlen längst nicht ausgezählt sind. Im November 2004 ist dagegen hierzulande ein Opfer noch in letzter Sekunde von einem Polizisten gerettet worden. Ein Achtjähriger drohte in den Fluten zu ertrinken und eine Frau forderte drei Jugendliche auf, dem ertrinkenden Kind zu helfen. Kommentar der Jugendlichen: "Und wer ersetzt uns unsere Kleidung und unsere Handys, wenn die nass werden?"
So geil ist Geiz! Sind das die neuen Mentalitäten, mit denen diese Gesellschaft eine Solidargemeinschaft gegen von Menschen fabrizierte wie "natürliche" Katastrophen konstituieren will?