Das Jahr der Grenzverletzungen

Seite 2: Kriege zerstören Gegenräume

Gesellschaftlich errichtete Barrieren ökonomischer, politischer oder religiöser Provenienz, mit der diesen innewohnenden latenten Gewalt, wirken aus der Innenperspektive wie ein Zusammenhalt Gleichgesinnter gegen ein gedachtes Außen.

Die negativen Begleiterscheinungen des Nationalismus etwa, der sich vielfach als scheinbar neutrale Interessengemeinschaft maskiert, münden in der Neuerrichtung schattenloser Grenzen. Auch innerstaatliche Demarkationslinien werden – wie kürzlich vonseiten des US-amerikanischen Supreme-Court – infrage gestellt und leichtfertig überschritten, wie rückwärtsgewandte Grenzübertritte.

Das Einreißen von Grenzzäunen kann dem Ausbruch dienen, wie der "Fall der Mauer" 1989 eindrucksvoll zeigte. Das durchbrechende Überschreiten von Begrenzungen mündet jedoch zumeist in Gegengewalt, im Extremfall in Kriegen.

Nicht nur die bellizistische Gegenwart Europas ist ein Beispiel dafür, auch die gewaltdurchsetzten Kolonisatoren – jene der vergangenen Jahrhunderte und die gegenwärtigen – übertraten und übertreten sichtbare und unsichtbare Grenzlinien.

Deren Folgewirkungen und Erschütterungen sind unübersehbar und bleiben als Überreste noch Jahrhunderte später in Form von Schranken und Einschränkungen bestehen: als politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Bruchlinien menschlichen Zusammenlebens.

Doch nicht nur nationalstaatliche Grenzen wurden in diesem abgelaufenen Jahr gewaltvoll eingerissen. Auch die unfassliche Grenze von 100 Millionen Menschen weltweit – unter diesen Millionen an Kindern – wurde überschritten.

Über 100 Millionen, die aufgrund von Kriegen, struktureller Gewalt, kontinuierlicher Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung sowie Hungersnöten und Naturkatastrophen ihr Heim verloren und zu internationaler sowie innerstaatlicher Flucht gezwungen wurden.

Es bestürzt, wie vonseiten autoritärer Regime und totalitärer Theokratien auf Tagesbasis gesellschaftliche Schranken überschritten werden und es erfüllt mit Hoffnung, mit welch bewundernswerter Zivilcourage, Gegengewalt und Opferbereitschaft diese Grenzverletzungen beantwortet und bekämpft werden.

Mittlerweile wurden auch die gesamtgesellschaftlichen Limits mentaler Belastbarkeit vielerorts in Europa überschritten. Diese Überbelastung mündete – über sämtliche gesellschaftlichen Sinusmilieus hinweg – in Erschöpfungszuständen und in weiterer Folge im großflächigen Zusammenbruch konstruktiver Kommunikation. Der Rückzug von zielgerichteter, dynamischer Aktivität, samt Debatten und Dialogen, zu reaktivem Handeln und passiver Aggression mutet an wie ersatzloses Zerbrechen von Unterredungen.

Das menschliche Leben droht fortan im Dazwischen zu verlaufen, in einem schmalen Grenzstreifen zwischen erratischer Aktivität und resignativem Stillstand. Ein durchwegs uneigentliches Fortsetzen lästiger Lebenswirklichkeit, das sich vieler Menschen zu bemächtigen droht; nur wenige werden dem Sog der Entindividualisierung widerstehen.

Dem Aufbau und der Stärkung von Resilienz und Zuversicht gilt es daher künftig höchste individuelle und politische Aufmerksamkeit zu widmen.

Paul Sailer-Wlasits ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler. Er ist Autor von "Lüge, Hass, Krieg. Traktat zur Diskursgeschichte eines Paktes" (2022), "Verbalradikalismus" (2. Aufl., 2021) und "Uneigentlichkeit. Philosophische Besichtigungen zwischen Metapher, Zeugenschaft und Wahrsprechen" (2020).

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