Das Kalkül der Muslimbrüder
Ägypten: Kein Ende der Konfrontation
Die Ereigniskette in Ägypten verläuft schlagartig. Nachdem die von Islamisten besetzte verfassungsgebende Versammlung in der Nacht auf Freitag im Schnelldurchgang über den neuen Verfassungentwurf abgestimmt hatte (Auf dem Weg zum religiösen Staat), ist der Termin für das Referendum schon auf den 15. Dezember festgelegt. Die Kritiker der Verfassung drohen durch die Geschwindigkeit der Schritte überrumpelt zu werden.
Selten hat Ägypten drei Großkundgebungen in 5 Tagen erlebt. Am Dienstag zogen Hunderttausende auf verschiedenen Routen durch Kairo zum Tahrir-Platz, um gegen Mursis Selbst-Ermächtigungsdekrete zu demonstrieren. Auch am Freitag, dem traditionellen Protesttag, füllte sich der Platz wieder gegen Mursi. Die Reaktion der islamistischen Kräfte folgte am Samstag. Die Muslimbrüder transportierten Hunderttausende ihrer Anhänger aus verschiedenen Landesteilen in Bussen nach Kairo, um in einer Großkundgebung vor der Cairo University ihre Unterstützung für den Präsidenten auszudrücken.
Um Zusammenstöße mit den Demonstranten der Opposition zu vermeiden, hatten die islamistischen Strömungen den symbolträchtigen Tahrir-Platz gemieden. Es blieb bei kleineren Zusammenstößen zwischen Unterstützern und Gegnern des Präsidenten, die vor allem in anderen Landesteilen stattfanden.
Ein Blick auf die Demonstranten der verschiedenen Lager ist ein auch Spiegel der Polarisierung im Land. Die Großkundgebung der linken und liberalen Kräfte am Dienstag in Kairo war vor allem eine Demonstration der jungen, urbanen Generation. Unter die bekannten Forderungen, wie jene nach Auflösung der von Islamisten dominierten verfassungsgebenden Versammlung, mischten sich auch humoristische Slogans: "Wir wollen eine Muslimbruderschaft aus China, unsere Muslimbrüder sind schäbig!"
Frauen waren auf den Demonstration der säkularen Kräfte erwartungsgemäß deutlich stärker vertreten als auf der Demonstration der Islamisten am Samstag. Auf der Demonstration der Muslimbrüder und der salafistischen Gruppierungen fiel das höhere Durchschnittsalter der Teilnehmer auf. Auch traditionelle Kleidung war präsenter - ein Indiz für den organisatorischen Aufwand, den die Muslimbrüder unternahmen, um Unterstützer aus den ländlichen, traditionelleren Landesteilen nach Kairo zu transportieren.
Human Rights Watch kritisiert den Verfassungsentwurf
Unterdessen hat Mursi am Samstag angekündigt, dass über den kontroversen Verfassungsentwurf, den die verfassungsgebende Versammlung in einer Eilsitzung in der Nacht auf Freitag verabschiedet hat, am 15.12 in einem Referendum abgestimmt wird. Human Rights Watch kritisiert den Entwurf und weist auf Schwammigkeiten in der Formulierung hin, durch die Freiheitsrechte beschränkt werden könnten.
So wird in einem Artikel die Rolle des Staates "zum Schutz von Ethik und Moral" betont und in einem anderem von der Rolle des Staates "zum Schutz des genuinen Charakters der ägyptischen Familie und deren Moral" gesprochen. In solchen Formulierungen sehen Kritiker eine Hintertür, durch die Rechte, welche in anderen Artikeln gewährleistet sind, beschnitten werden könnten.
Die ägyptische Tageszeitung Al Masri al Youm schreibt durch die Rolle, die dem Staat in "moralischen Fragen" zugestanden wird, drohe die Definition von Moral monopolisiert zu werden. Der für die Region verantwortliche HRW-Beauftragte Joe Strork befindet den Entwurf als "widersprüchlich und fehlerhaft" und erklärte, einen solchen Entwurf zum Referendum zu stellen sei nicht der richtige Weg, um elementare Rechte zu garantieren.
Vollendete Tatsachen
Mursi hatte den Entwurf am Samstag abgesegnet. Die einzige Instanz, welche die Legitimität des Entwurfes in Frage stellen und den Prozess aufhalten könnte, ist das höchste Verfassungsgericht des Landes. Dieses hatte die von Mursi per Dekret beschlossene juristische Immunität der verfassungsgebenden Versammlung abgelehnt und sich die Möglichkeit eines Auflösungsbeschlusses der Versammlung vorbehalten.
Am Sonntagmorgen jedoch legte das höchste Verfassungsgericht seine Arbeit für "einen unbefristeten Zeitraum" nieder. Die Richter erklärten, damit ihren Protest gegen Anhänger des Präsidenten auszudrücken, die vor dem Gebäude demonstrierten und ihnen den Eintritt verwehrten. Bereits am Vortag hatten sich Anhänger der Muslimbrüder vor dem Gebäude eingefunden, um ihre Unterstüzung für den Präsidenten auszudrücken und gegen eine mögliche Auflösung der verfassungsgebenden Versammlung zu protestieren. Die Justiz ist wegen ihrer meist säkularen Gesinnung und der Nähe mancher Richter zum alten Regime ein Feindblid der Islamisten. Sprechchöre forderten: "Die Demonstranten fordern die Reinigung der Justiz!"
Die Muslimbrüder hatten dabei einmal mehr ihre organisatorischen Muskeln spielen lassen. Wie auch zu vorherigen Demonstrationen wurde die Teilnehmer mit Bussen an den Schauplatz transportiert. Die ägyptische NGO EOHR (Egyptian Organisation for Human Rights) appellierte an Mursi, seine Anhänger aufzufordern "die Belagerung zu beenden", jedoch bisher ohne Erfolg. Hunderte Anhänger Mursis harren nach wie vor dem Verfassungsgericht aus.
Die Opposition wirft Mursi und den Muslimbrüdern vor, zu versuchen die Verfassung so schnell wie möglich durchzudrücken, um Diskussionen über kontroverse Artikel zu vermeiden. Mohamed El Baradei nennt das Eilverfahren, in dem die neue Verfassung von der verfassungsgebenden Versammlung verabschiedet wurde, eine "Farce". Hamdeen Sabbahi, der in den Präsidentschaftswahlen nur knapp hinter Mursi Drittplatzierte, sagt: "Wir werden keine Verfassung akzeptieren, die über Nacht geschrieben wurde."
Wie viele Karten hat die Opposition noch?
Die Gegner der Muslimbrüder erwägen weitere Protestsschritte. Teile der Justiz haben angedroht, in einen Streik zu treten und jegliche Zusammenarbeit mit der Regierung einzustellen. Das könnte das Verfahren zur Durchführung des Referendums erschweren. Zudem versuchen sich die privaten Zeitungen koordiniert gegen Mursis Entscheidungen zu positionieren. Am Montag titelte eine Reihe privater, ägyptischer Zeitungen einheitlich: "Nein zur Diktatur!"
Für den Dienstag haben 11 große Zeitungen angekündigt, in einen Medienstreik zu treten und keine Ausgaben zu bringen Ob dies der Opposition großen Nutzen bringt, ist fraglich. Die Zeitungen, die ihre Teilnahme angekündigt haben, sind säkulare Blätter, die in den vergangenen Tagen nicht davor zurückgeschreckt haben, Mursi als Pharao darzustellen oder mit Hosni Mubarak zu vergleichen. Ein vorübergehender Ausfall der kritischen Meinungslandschaft ist im Grunde im Interesse der islamistischen Kräfte. Eine auf ihren Demonstrationen häufig gehörte Forderung ist die nach der "Reinigung der Medien". In den Augen vieler Islamisten sind die Medien in der Hand des alten Regimes oder der Liberalen, die versuchen die Bevölkerung mit einer Minderheiten-Meinung zu vereinnahmen.
Mit Fortdauer des politischen Machtkampfes scheinen der Opposition zunehmend die Karten auszugehen, während das Bedürfnis nach Stabilität in weiten Teilen der Bevölkerung den Muslimbrüdern in die Hände spielt. Ahmad, Handwerker aus Kairo, der am Samstag für Morsi demonstrierte, drückt es so aus: "Das Land ist müde. Wir wollen endlich klare Verhältnisse."
Die Muslimbrüder profitieren von der Müdigkeit der Bevölkerung
Die Muslimbrüder wissen den Überdruss in der Bevölkerung für sich zu nutzen. Mursi wird nicht müde zu betonen, dass er nur das Beste für das Land will und die Ägypter vereint und nicht gespalten sehen will. Die Machtkonzentration in seiner Hand sei dabei nur eine vorübergehende Maßnahme, um dies zu erreichen. Auch die Demonstrationen der Opposition heiße er als gesunden Ausdruck von Meinungsvielfalt willkommen. Neben dem festen Unterstützerkern der Muslimbrüder dürfte diese versöhnliche Rhetorik auch weitere Bevölkerungskreise erreichen.
Der liberale Politiker Ayman Nour geht davon aus, dass die Islamisten das Referendum gewinnen werden. Die schiere Geschwindigkeit der Schritte lasse der disparaten Opposition aus Liberalen, Linken, Anhängern des alten Regimes, moderaten Islamisten und Teilen der Justiz zu wenig Zeit für wirksame Gegenmaßnahmen.
Die womöglich letzte Karte von Mursis Gegnern die Verfassung abzuwenden, bleibt die Macht der Straße. Auf der größten Demonstration seit dem Jahrestag der Revolution im Januar sind am vergangenen Dienstag ungefähr 200.000 Menschen zusammengekommen. Eine weitere Demonstration soll am kommenden Dienstag zum Präsidentenpalast im Kairoer Stadtteil Heliopolis ziehen. Die Veranstalter der Demonstration erklären in ihrer Aufforderung:
Dies ist eine letzte Warnung an einen demokratisch gewählten Präsidenten, dessen Legitimität in Auflösung begriffen ist, weil seine Politik einzig und allein eine gesellschaftliche Gruppe bevorzugt.
Viel deutet darauf hin, dass die Muslimbrüder an ihrer gegenwärtigen Kalkulation festhalten werden: Politisch an den vollzogenen Schritten festhalten und rhetorisch konziliante Töne anstimmen. Sie setzen darauf im bevorstehenden Referendum ihre Basis mobilisieren und durch das Bedürfnis nach Stabilität auch darüber hinaus Wähler gewinnen zu können. Durch einen Sieg im Referendum wären dann Tatsachen zu ihren Gunsten geschaffen. Ob dies die Auseinandersetzung über den zukünftigen Charakter des Landes lindern wird, ist freilich eine andere Frage.