Das "Kapital" wird 150 Jahre alt: Was bleibt von Karl Marx?
Warum die Mainstream-Ökonomen Marx so vehement leugnen und ignorieren
Es ist beliebt, sich über Karl Marx lustig zu machen. Vor allem Mainstream-Ökonomen finden es immer wieder amüsant, dass es nicht zu jenem Massenelend gekommen ist, das Marx prognostiziert hatte. So höhnte der Nobelpreisträger Paul Samuelson: "Man sehe sich die Arbeiter mit ihren Autos und Mikrowellen doch an - besonders verelendet sehen sie nicht aus."
Doch diesen Spott hat Marx überstanden. Seinem Werk hat es noch nicht einmal geschadet, dass es vom Sozialismus vereinnahmt und bis zur Unkenntlichkeit verhunzt wurde. Marx gehört bis heute zu den meistzitierten Ökonomen, obwohl permanent verkündet wird, dass er historisch überholt sei.
Warum ist Marx so bleibend aktuell? Diese Frage wird 2017 wieder Hochkonjunktur haben, denn es gilt ein Jubiläum zu feiern: Marx' Hauptwerk Das Kapital wird 150 Jahre alt.
Am Stil kann es jedenfalls nicht liegen, dass Das Kapital zu einem Klassiker geworden ist. Das Buch ist fast unleserlich, wie schon Jenny Marx befand. Sie riet einem befreundeten Sozialisten, "die dialektischen Spitzfindigkeiten der ersten Abschnitte" einfach zu überspringen. Doch obwohl Das Kapital so schwer verdaulich ist, übt es bis heute einen ungeheuren Sog aus. Denn Marx war der erste Theoretiker, der die Dynamik des Kapitalismus richtig beschrieben hat: Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess - und kein Zustand. Einkommen ist niemals garantiert, sondern entsteht erst, wenn unablässig investiert wird.
"Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!"
Bleibt das Geld hingegen im Tresor liegen, ist es zwar weiterhin Geld - aber faktisch wertlos. Über Dagobert Duck hätte Marx herzlich gelacht. Der geizige Enterich glaubt zwar, vermögend zu sein, wenn er in seinen Goldtalern badet. Doch tatsächlich besitzt er nur Gold, sonst nichts. Oder wie Marx sich ausdrückte: "Die rastlose Vermehrung des Wertes, die der Schatzbildner anstrebt, indem er das Geld vor der Zirkulation zu retten versucht, erreicht der klügere Kapitalist, indem er es stets von neuem der Zirkulation preisgibt."
Der Kapitalist darf niemals ruhen, kann sich nicht am Erreichten freuen, sondern muss die Profite stets erneut investieren, wenn er im Rennen bleiben will. Das Gewinnstreben scheint zum Selbstzweck zu verkommen, oder wie es Marx in einem seiner berühmtesten Zitate formulierte: "Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!"
Indem Marx den systemischen Prozess betonte, die permanente Verwertung, verlieh er dem Begriff "Kapital" eine neue Bedeutung. Bis dahin hatten die Ökonomen das Kapital als etwas Statisches betrachtet. Geld und Maschinen galten als Vermögenswerte "an sich", die man mühelos bilanzieren konnte. Bei Marx gab es keine Werte, die irgendwie vorhanden waren. Kapital bildete sich erst, wenn produziert wurde, wenn Güter entstanden, die sich mit Gewinn verkaufen ließen.
Marx war vom technischen Fortschritt fasziniert; selbst scheinbar kleinste Erfindungen begeisterten ihn: "Eine auf der Londoner Industrieausstellung von 1862 ausgestellte amerikanische Maschine zur Bereitung von Papiertüten schneidet das Papier, kleistert, faltet und vollendet 300 Stück per Minute."
Aber was trieb die rastlose Dynamik im Kapitalismus an? Heute erscheint es uns selbstverständlich, dass Kapitalisten ständig investieren. Aber dieser permanente Verwertungsprozess war erklärungsbedürftig, und Marx erkannte als Erster, dass die Technik dabei eine zentrale Rolle spielt. Sobald sie systematisch eingesetzt wird, entfaltet sie ihre eigene Logik.
Der Kapitalismus neigt zum Monopol
Für jeden einzelnen Unternehmer ist es attraktiv, neue Maschinen anzuschaffen, die produktiver sind als die Anlagen der Konkurrenz. Denn sobald ein Fabrikant seine Waren billiger herstellt, kann er sie auch billiger verkaufen - und einen Extraprofit erwirtschaften, den Marx "Extramehrwert" nannte. Die Wettbewerber müssen jedoch sofort nachziehen, wenn sie nicht vom Markt gefegt werden wollen. Also investieren auch sie in neue Maschinen, und der Extramehrwert verschwindet wieder.
Jeder Kapitalist unterliegt damit dem "Zwangsgesetz der Konkurrenz", wird von seinen Wettbewerbern getrieben und weitet seine Produktion ständig aus, um nicht unterzugehen. Doch die meisten Märkte sind irgendwann gesättigt und können die zusätzlichen Waren nicht mehr aufnehmen. Den Verdrängungswettbewerb überleben nur jene Firmen, die am billigsten produzieren können. Dies sind meist die Großkonzerne.
Marx war der erste Ökonom, der klar beschrieb, dass der Kapitalismus zum Oligopol neigt. Die kleinen Firmen werden verdrängt, bis nur noch wenige Großkonzerne eine ganze Branche beherrschen. Oder um es mit Marx zu sagen: Es kommt zur "Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist".
Viele Firmen müssen schon deswegen aus dem Wettbewerb ausscheiden, weil sie sich die teuren Maschinen schlicht nicht leisten können. Wie Marx präzise beschrieb, bleibt den kapitalschwachen Betrieben nur die Nische: "Die kleinere Kapitale drängen sich daher in Produktionssphären, deren sich die große Industrie nur noch sporadisch oder unvollkommen bemächtigt hat."
Marx' Analyse gilt bis heute, wie aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen: Großkonzerne machen zwar nur ein Prozent der deutschen Firmen aus, aber im Jahr 2012 generierten sie 68 Prozent des gesamten Umsatzes. Gleichzeitig sind 81 Prozent aller Firmen Kleinstbetriebe - aber gemeinsam kamen sie 2012 nur auf ganze 6 Prozent des Umsatzes. Die deutsche Wirtschaft ist also extrem konzentriert; wenige Großkonzerne kontrollieren die gesamte Wertschöpfungskette, von den Rohstoffen bis zum Absatz.
Der Kapitalismus ist zutiefst dialektisch: Die Konkurrenz treibt die Unternehmer an, bis von der Konkurrenz fast nichts mehr übrig ist. Doch obwohl Marx diese Erkenntnis schon vor 150 Jahren formulierte, ist sie im ökonomischen Mainstream noch immer nicht angekommen. Stattdessen träumen die meisten Volkswirte weiterhin von einer "Marktwirtschaft", die durch "perfekten Wettbewerb" gekennzeichnet ist.
Es ist kein Zufall, dass die Mainstream-Ökonomen so beharrlich versuchen, Marx zu ignorieren und zu tabuisieren. Wenn sie ihn lesen würden, müssten sie ihre eigene Theorie in den Mülleimer werfen.
Von Ulrike Herrmann stammt das Buch "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können", Westend Verlag 2016.
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