Das Manko der marxistischen Theorie

Seite 2: Die Werttheorie von Marx als alternativer Ausgangspunkt zur Überwindung des Kapitalismus

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Forum zu den bisherigen "Wertartikeln" von Heinrich Harbach (Die Wertform: Das Fundament der kapitalistischen Produktionsweise) und Werner Richter (Wertgesetz und warenlose Gesellschaft) und auch anderenorts wird recht oft die Frage aufgeworfen, warum denn diese Thematik so bedeutsam sein soll, es ging doch bisher auch ohne die Wertfrage.

Doch wohl nicht, die Praxis liefert nur gegenteilige Beweise. Sie belegt aber, dass alle bisherigen sozialistischen Programme sich ausnahmslos als Illusionen erwiesen, was wiederum die Frage nach den Ursachen zwingend stellt. Die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise ist gleichzeitig die Abschaffung eines Systems, welches nicht auf dem bewussten Willen der gemeinschaftlich organisierten Menschen beruht, in welchem die Menschen fremdbestimmt sind, von Gesetzen abhängen, deren Marionetten sie letztlich sind.

Alle sozialistischen Theorien und damit auch die Programme basieren auf der Erkenntnis, dass die ganze Gesellschaft von den ökonomischen Verhältnissen, Produktionsverhältnissen, bestimmt wird, und damit auf der ökonomischen Analyse von Marx. Eine andere, sozialistische, die Bedürfnisse des Menschen als zentralen Aspekt innehabende Gesellschaft ist nur auf dieser Basis möglich. Marxens Analyse erkennt die Wertproblematik als das dabei entscheidende Element.

Der Wert jedoch wird von den verschiedenen Theorien recht unterschiedlich aus dem "Kapital" interpretiert mit weitreichenden Differenzen zwischen den Programmen zum Sozialismus. Deshalb ist die Wertproblematik grundlegend und von aktueller Bedeutung.

Immer noch dominiert im linken Denken die Assoziation Revolution, Umsturz, politische Macht, "Diktatur des Proletariats", organisatorisch von der "bewusstesten Vorhut" geplanter und gelenkter Aufbau sozialistischer Produktionsverhältnisse ("sozialistische Marktwirtschaft"), Abwehr der Konterrevolution. Das hat sich in Jahrzehnten eingebrannt und spült automatisch nach oben, wirkt quasi unbewusst. Die Verbreitung ist gewaltig, selbst große Geister kommen kaum auf die Idee, dies zu hinterfragen. Zu dominant ist das "marxistische Klischee", vor allem aus einem historischen Dokument, dem MANIFEST gesogen, der Unbedingtheit der Diktatur des Proletariats und der damit verbundenen gewaltsamen Umstürze der Produktionsverhältnisse; ja, wohin?

Da sind alte Wunschvorstellungen und viel Nebel, nichts als Nebel. War die Entwicklung dahin in der Arbeiterbewegung der Anlass für Marx, sich nicht mit dem Marxismus identifizieren zu lassen? Die semantische Unschärfe im Gebrauch der Kategorien, Klasse, Proletariat, Partei, tut ein Übriges, diese uns selbstverständlichen Definitionen sind nicht unbedingt die von Marx, sie wurden nach ihm und seine Theorie vulgarisierend z.T. gegen ihn, von politischem, sozial berechtigtem (Umsturz)willen erzwungen.

Dieses Dilemma, den revolutionären Umsturz herbeiführen zu wollen und sich auf Marx berufen zu müssen, ist in die gesamte marxistische Theorie und Praxis wie Pilzmyzel eingewachsen und wird in der ökonomischen Theorie am Wert sichtbar. Kein Marxist bestreitet formal die Werttheorie als Basis aller Gesellschaftstheorie und dass mit der Wertdefinition die gesamte politische Richtung linker gesellschaftlicher Tätigkeit bestimmt wird. Man kann sagen: Sage mir, wie du den Wert siehst, und ich sage dir, wie du zur Gesellschaftsanalyse von Marx stehst.

Wie schon oben dargelegt, ist für Dieter Wolf die herkömmliche marxistische Wertdefinition fragwürdig, eine Vulgarisierung der Werttheorie von Marx. Seine Definition, wonach der Wert das Bewegungsgesetz aller Marktwirtschaft ist - nicht nur der kapitalistischen - und naturwüchsig und hinter dem Rücken der Menschen die Grundlagen der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt, bricht mit der allgemeinen Auffassung und führt zu einer anderen, auf Marx fundierten Vorstellung einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft. Sie stellt auch die Theorie der sozialistischen Marktwirtschaft in Frage.

Das Credo kann nur in der Aufhebung des Wertgesetzes, und damit auch des Kapitalismus, liegen. Wolfs Herleitungen gebieten einen viel weiter gefassten Begriff von Revolution, der auch ausdrücklich bei Marx zu finden ist, anknüpfend an die Rolle des Entwicklungsstandes der Produktionsverhältnisse und der Produktivkräfte, die auf einem Niveau angekommen sind, welches eine neue Organisation und Verteilung von Arbeit und Reichtum erfordert.

Diese müssen, soll die Gesellschaft nicht in einer Selbstvernichtung enden, an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht auf allgemeines Wachstum und damit desaströsen Ressourcenverbrauch ausgerichtet werden. Das kann allerdings nur von der Basis her, durch die Hauptproduktivkraft Mensch, nicht durch sich über sie setzende politische Bewegungen, hervorgebracht werden.

Der Entwicklungsstand der gesellschaftlichen Produktivität ermöglicht dies - vielleicht erstmalig in der menschlichen Geschichte - und erfordert diese Veränderungen. Von der Öffentlichkeit kaum beachtet, aber unübersehbar entstanden und entstehen im dialekt-ischem Prozess in vielen Teilen der Welt Produktionsformen, die auf Nicht-Warenproduktion basieren. Weiter oben bereits gestreift, sind es Genossenschaften neuen Typs abseits von Waren-produktion, mit allen Geburtsfehlern und Unzulänglichkeiten neuer spontaner Bewegungen ausgestattet, die sich vorrangig aus und doch trotz Notsituationen vom Üblichen abheben.

Wie schwierig diese Anfänge auch sind, das Rojava-Projekt versuchen gewisse US-Kreise für sich zu instrumentalisieren, die griechischen Selbsthilfeorganisationen werden durch die "Sozialisten" in der Regierung per Gesetz unter die Steuerkontrolle gepresst, die katalanischen Bewegungen sind nicht letztes Ziel der Zentralmachtrepressionen, sie bergen nicht d i e Zukunft neuer Lebensarten, sondern Keime und Anfänge, die auch vergehen können, aber die Notwendigkeit anstehender Veränderungen signalisieren.

Diese neuen nicht-kapitalistischen Produktionsformen sind, nicht zufällig, vor allem im IT-Bereich als Open-Ressources-Projekte angesiedelt, von vielen wie selbstverständlich genutzt, aber selten so erkannt. Wikipedia, Mozilla, Linux sind genau mit dieser Zielrichtung geschaffen worden, auch wenn politische und kommerzielle Kräfte inzwischen auch dort ihre Herrschaft zu errichten versuchen. Es werden objektiv bedingt neue Projekte entstehen und die Erfahrungen der alten nutzend die nächsten Entwicklungsschritte gehen.

Die Frage der Zukunft wird sein, ob und wie diese mehr immateriellen, aber zukunftsträchtigen Richtungen sich auch auf die Bereiche der materiellen Produktion übertragen. Eine Prüfung, ob diese Produktionsweise plausibel wäre, hat u.a. Christian Siefkes schon vor Jahren vorgelegt (Christian Siefkes, Beitragen statt tauschen). Nach ihm wäre das durchaus möglich.

Wenig bekannt sind sog. Commons, die vor allem in den USA zu finden sind. Diese basieren auf der Idee, lebensnotwendige Apparaturen, die nur funktional vom Kommerz degeneriert als Ware zu haben sind, durch die Bedürfnisträger selbst ressourcenoptimiert mittels neuester Technologie, z.B. mit 3D-Druckern o.ä., zu entwickeln und herzustellen und so eine Einheit von Produzenten und Konsumenten zu schaffen.

Die Analyse bisheriger Ergebnisse und deren Einordnung in die gesellschaftliche Entwicklung ist bei Stefan Meretz nachzulesen (Stefan Meretz, Commonismus statt Sozialismus, in "Aufhebung des Kapitalismus", Masch Hamburg). Er weist nach, dass eine "Übernahme der Produktion" mittels Machteroberung schon deshalb nicht gangbar ist, weil der Zweck der Warenproduktion, auch einer sog. "sozialistischen", nicht die Bedürfnisbefriedigung ist und sein kann. Nur eine "Neuschöpfung und Neukonfiguration von Produkten, Mitteln und Produktion" könne Beziehungen der Produzenten nach Bedürfnis und gleichen Interessen auslösen.

Diese Bedürfnis- und Produktionsnetzwerke, die in unterschiedlicher Ausprägung entstehen, wie Wikispeed, Open Source Ecology, Projekte in Elektronik, Pharmazie, Biotech, Robotik, Medizin, Kleidung, Möbel u.s.w. existieren im "feindlichen" Umfeld der Warenproduktion, sind notwendigerweise mit Schnittstellen dahin versehen und müssen sich damit gegen kommerzielle und andere Einflüsse behaupten. Oder anders gesagt, sie benötigen den Beistand, die Inspiration und Protektion der gesellschaftlichen Kräfte, die für eine neue Gesellschaft angetreten sind.

Allerdings müssten sie sich von der inzwischen als selbstverständlich angenommenen Rolle politischer Parteien im bürgerlichen Umfeld lösen, den Avantgarde-Anspruch ablegen und einen völlig neuen Part im Verhältnis zu diesen produktiv-revolutionären Bewegungen übernehmen. Ist vielleicht der Ansatz von Sarah Wagenknecht zur Schaffung einer parteienübergreifenden linken Organisation ein Anfang?

Die Kräfte, die die Gesellschaft verändern wollen, sollten sich zu einem gesellschaftlichen Bündnis zusammenschließen, welches den Kräften, die die Gesellschaft rückwärts drehen möchten, Einhalt gebietet.