Das Modell Rojava

Die Erprobung einer direkten kommunalen Demokratie mit emanzipatorischen Zügen stellt die Systemfrage an die Staaten im Nahen Osten, daher rührt die Gegnerschaft

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Rojava, bestehend aus den drei autonomen selbstverwalteten Kantonen Afrîn, Kobanê und Cizîrê, ist bedroht. Nicht nur durch den IS, sondern auch durch die Türkei. Auch die USA und die europäischen Staaten ignorieren dieses demokratische Experiment, bzw. überlassen die kurdischen und christlichen Selbstverteidigungseinheiten Rojavas sich selbst.

Es stellt sich die Frage, wieso dies so ist. Warum wenden die USA mit ihren Luftschlägen um Kobanê eine zurückhaltende Taktik an, obwohl die IS-Panzer und -Artillerie dort quasi auf dem Präsentierteller stehen? Warum nennt Erdogan die Selbstverteidigungseinheiten YPG und YPJ Terroristen, die die Türkei nicht unterstützt? Die Antwort lautet:

Die Türkei nutzt die jetzige Lage in Kobane dazu, um einen Sicherheitspuffer auf syrischem Boden durchzusetzen, geschützt von türkischen Soldaten, was faktisch der Übernahme der Kontrolle von kurdischen Gebieten in Syrien gleichkommt. Staatspräsident Recep Tayip Erdogan erklärte selbst, er sehe keinen Unterschied zwischen PKK und IS.

Oder, wie der türkische Präsident betonte (Türkei stellt Bedingungen für Teilnahme am Krieg gegen den IS):

Wir werden niemals irgendeine Terrororganisation in unserem Land, in unserer Region oder in der Welt tolerieren. Wir sind offen und bereit für jede Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus. Aber es sollte jeder Verstehen, dass die Türkei kein Land ist, das temporäre Lösungen verfolgt, noch wird die Türkei es dulden, dass andere davon profitieren!

Das ist eindeutig gegen die PKK gerichtet. Dabei retteten die YPG und vor allem die türkische PKK Zehntausende von Jesiden in den Shengal-Bergen. Erdogans Äußerung ist eine Verdrehung der Tatsachen, eine falsche Kausalität.

Rojava hat viele Gegner

  1. Die Türkei: Das Modell Rojava passt Erdogan nicht, weil es ein Beispiel für eine föderale Türkei mit kurdischer Autonomie sein kann und somit die zentralstaatliche Türkei in Frage stellt.
  2. USA: Weil sich Rojava nicht gegen Assad funktionalisieren lässt, ist auch die USA nicht daran interessiert, dieses Modell zu unterstützen.
  3. Syrien: Assad ist auch ein Gegner, weil Rojava mit seinem demokratischen, föderalen System sein Regime in Frage stellt.
  4. Nordirak: Die autonome Provinz in Nordirak unter der Herrschaft von Stammesführer Barzani boykottiert ebenfalls die Region in Nordsyrien, weil der Barzani-Clan mit seiner konservativen Ausrichtung kein Interesse an einem demokratischen Modell in seiner Nachbarschaft hat.

Alle zusammen sind gegen Rojava, weil alle Staaten in dieser Region ein patriarchales System haben und emanzipatorische Bewegungen unerwünscht sind, bzw. als Bedrohung erfahren werden.

Im Folgenden soll das Modell Rojava mit seinen politischen Strukturen und Zielen erklärt werden. Nur so wird verständlich, warum Demokratie in Syrien wie im ganzen Mittleren und Nahen Osten nicht erwünscht ist.

Das Modell Rojava

"Rojava" heißt auf kurdisch "Westen" und steht für Westkurdistan. Es besitzt eine einzigartige kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt: Kurden, Araber, Turkmenen, Armenier und Tschetschen leben hier friedlich zusammen. Aramäer/Assyrer, Chaldäer, Eziden und Moslems praktizieren ihren Glauben, ohne die jeweils anderen zu diskriminieren.

2,5 Mio. Menschen bewohnen diese Region, hinzu kommen noch über 1,2 Mio. Flüchtlinge: Binnenflüchtlinge aus Syrien und Eziden aus dem Irak, wo im August 2014 in der Region Shengal große Massaker und Vertreibungen durch den IS stattfanden.

In Rojava wird das Experiment einer direkten kommunalen Demokratie erprobt. Es soll versucht werden, die alte, von Überwachen und Strafen geprägte Kultur der Gewalt durch basisdemokratische Strukturen unter Einbeziehung aller ethnischen und religiösen Minderheiten zu ersetzen.

Die patriarchatsdominierte Clanstruktur soll u.a. aufgebrochen werden durch die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen in allen politischen und sozialen Organen.

Ein neues Gesundheitssystem mit Gesundheitszentren wurde aufgebaut und ein Bildungssystem ist im Entstehen, wo neben Arabisch auch Kurdisch und Aramäisch gelehrt wird. Die 1. Kurdische Universität wurde im August 2014 in Qamisli eröffnet. Ökologischer Landbau und ein basisdemokratisches Rechtssystem wurde etabliert.

Zentrale Punkte des "Demokratischen Konförderalismus"

Rojava besteht seit 2012. Sein Gesellschaftsmodell orientiert sich an Abdullah Öcalans Vorstellungen des "Demokratischen Konförderalismus". Seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftiert, wandte sich Öcalan dort ab vom marxistisch-leninistischen Revolutionsgedanken, der auf Umsturz und Machtübernahme abzielte, hin zu einem Modell einer demokratischen, ökologischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft . Inspiriert wurde er vor allem von dem libertären amerikanischen Theoretiker Murray Bookchin.

Einige Auszüge aus Öcalans "Demokratischer Konföderalismus" 1 erläutern, was gemeint ist:

Diese Administrationsform kann als eine nichtstaatliche politische Administration oder als eine Demokratie ohne Staat bezeichnet werden. Demokratische Entscheidungsprozesse sind nicht zu verwechseln mit den von der öffentlichen Verwaltung bekannten Prozessen. Staaten verwalten nur, indes Demokratien regieren. Staaten gründen sich auf Macht; Demokratien basieren auf kollektivem Konsens. Ämter werden im Staat durch Ernennung bestimmt, selbst wenn sie teilweise durch Wahlen legitimiert sein sollten. Demokratien bedienen sich direkter Wahlen. Der Staat benutzt Zwang als ein legitimes Mittel. Demokratien beruhen auf freiwilliger Teilnahme.

Demokratischer Konföderalismus ist offen gegenüber anderen politischen Gruppen und Fraktionen. Er ist flexibel, multikulturell, antimonopolistisch und konsensorientiert. Ökologie und Feminismus sind zentrale Pfeiler. Im Rahmen dieser Art von Selbstverwaltung wird ein alternatives Wirtschaftssystem erforderlich, das die Ressourcen der Gesellschaft vermehrt, anstatt sie auszubeuten, und so den mannigfaltigen Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht wird.

Abdullah Öcalan

Demokratischer Konföderalismus und ein demokratisches politisches System

Im Gegensatz zu einem zentralistisch-bürokratischen Verständnis von Verwaltung und der Ausübung von Macht stellt der Konföderalismus eine Art der politischen Selbstverwaltung dar, bei der sich alle Gruppen der Gesellschaft und alle kulturellen Identitäten auf regionalen Treffen, allgemeinen Versammlungen und in Räten äußern können. Dieses Demokratieverständnis eröffnet den politischen Raum für alle Gesellschaftsschichten und berücksichtigt die Bildung verschiedener und vielfältiger politischer Gruppen. Auf diese Weise fördert es auch die politische Integration der Gesellschaft als Ganzer. Politik wird so zum Bestandteil des alltäglichen Lebens….

Die Schaffung einer funktionsfähigen Ebene, auf der alle Arten gesellschaftlicher und politischer Gruppen, Religionsgemeinschaften oder geistiger Strömungen sich direkt in allen regionalen Entscheidungsprozessen ausdrücken können, lassen sich auch als partizipative Demokratie bezeichnen. Je stärker die Beteiligung, desto stärker ist diese Art von Demokratie.

Abdullah Öcalan

Fazit

Der Demokratische Konföderalismus kann als eine Art Selbstverwaltung beschrieben werden im Gegensatz zur Administration des Nationalstaats. Dennoch ist unter gewissen Umständen eine friedliche Koexistenz möglich, solange der Nationalstaat nicht mit zentralen Fragen der Selbstverwaltung kollidiert. Jede derartige Einmischung würde die Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft hervorrufen.
Der Demokratische Konföderalismus befindet sich nicht im Krieg mit irgendeinem Nationalstaat, aber er wird Assimilationsbestrebungen nicht untätig zusehen. Ein revolutionärer Umsturz oder die Gründung eines neuen Nationalstaats schaffen keine tragfähige Veränderung. Auf lange Sicht können Freiheit und Gerechtigkeit nur innerhalb eines dynamischen demokratisch-konföderalen Prozesses erreicht werden. ...

Der Demokratische Konföderalismus in Kurdistan ist gleichzeitig eine anti-nationalistische Bewegung. Sie beabsichtigt die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Ausweitung der Demokratie in allen Teilen Kurdistans, ohne die bestehenden politischen Grenzen infrage zu stellen. Ihr Ziel ist nicht die Gründung eines kurdischen Nationalstaates. Die Bewegung beabsichtigt die Etablierung föderaler, allen Kurden offenstehender Strukturen im Iran, in der Türkei, in Syrien und im Irak und gleichzeitig die Bildung einer übergreifenden Konföderation für alle vier Teile Kurdistans.

Abdullah Öcalan

In einer Erklärung von Cemil Bayik, einem wichtigen PKK-Führer, in der türkischen Tageszeitung "Radikal" vom 1.10.2014 wird deutlich, dass es den Kurden im Rahmen ihrer Autonomieforderungen im Prinzip darum geht, formal den gleichen Status zu erhalten, wie es z.B. Südtirol innerhalb Italiens hat: "…Es muss verstanden werden, dass die PKK nicht hinter einem Stück Erde oder einem Staat her ist. Wir wollen auch nicht die Kurden von allen anderen Völkern der Region separieren. Uns geht es um die Erschaffung einer demokratischen Gesellschaft, in welchem die Geschwisterlichkeit der Völker maßgeblich ist und in welchem jede Gruppe sich mit ihren Eigenheiten, ihrer Sprache und ihrer Kultur frei organisieren und Teil des Ganzen sein kann."

Am 19. Juli 2012 wurde der Grundstein für den Aufstand der Bevölkerung Rojavas gelegt. Sie "besetzte zunächst einige staatlichen Institutionen. Als die Militärkräfte des Regimes ausrücken wollten, um den Aufstand zu zerschlagen, merkten sie, dass ihr Vorhaben hoffnungslos war. Denn die Bevölkerung hatte sie bereits umstellt und weitere Verwaltungsgebäude des Staates eingenommen. So beschlossen die Männer des Regimes, die Stadt zu verlassen oder ihren Posten niederzulegen und als Zivilisten in der Stadt ihr Leben fortzuführen."

Am 6. Januar 2014 wurde ein Gesellschaftsvertrag für Rojava in Qamislo verabschiedet und am 18. Januar 2014 die demokratische autonome Selbstverwaltung ausgerufen. Im Mittelpunkt des Gesellschaftssystems steht die Kommune, analog zum Schweizer kantonalen Modell2:

Die Beschlüsse der Kommunen sind quotiert, das bedeutet, dass zur Entscheidungsfähigkeit, wie in allen Räten in Rojava mindestens 40% Frauen an der Diskussion beteiligt sein müssen. Hier werden die aktuellen Notwendigkeiten der Verwaltung, Strom- und Lebensmittelversorgung, aber auch gesellschaftliche Probleme, wie patriarchale Gewalt, Familienstreits…diskutiert und wenn möglich gelöst. Die Kommunen haben Kommissionen, die sich mit allen gesellschaftlichen Fragen befassen. Dabei geht es von der Organisierung der Verteidigung, der Justiz bis hin zur Ökonomie und dem Aufbau von eigenen Kooperativen, die von der Kommune getragen werden. Das können Bäckereien, Nähereien oder aber auch landwirtschaftliche Projekte sein. Ökologiekommissionen kümmern sich um die Sauberkeit der Stadt und ökologische Problematik.

"Die Quelle der Macht ist die Bevölkerung" - Die Gesellschaftsordnung

Der Gesellschaftsvertrag

Hier sind die wichtigsten Artikel des Gesellschaftsvertrages3:

Artikel 2:

a) Die Quelle der Macht ist die Bevölkerung, der Bevölkerung gehört die Macht. Durch ihre Wahl wird die Verwaltung mittels Institutionen und Wahlen gewährleistet. Alle Leitungen, die gegen den Gesellschaftsvertrag der demokratisch-autonomen Verwaltung gerichtet sind, sind illegitim.

b) Die Quelle der demokratisch beschaffenen Räte und Exekutivorgane ist die Bevölkerung. Es wird nicht geduldet, dass diese durch die Hand einer Schicht/Klasse monopolisiert wird

Artikel 4:

Die Leitung der demokratisch-autonomen Verwaltung in den Kantonen besteht aus:

a) dem Gesetzgebenden Rat,

b) dem Exekutivrat,

c) dem Hohen Wahlausschuss,

d) dem Hohen Verfassungsgericht,

e) den Regionalräten

Artikel 8:

Alle Kantone der demokratisch-autonomen Verwaltung verfügen über das Recht zu jeglicher regionalen Tätigkeit sowie zur Gründung ihrer eigenen Verwaltung und Räte, solange diese den Gesellschaftsvertrag nicht verletzen.

Hier wird deutlich, dass Rojava kein eigener Staat sein will, so wie es die kurdische Autonomieregierung unter Barzani im Nordirak anstrebt, sondern Teil eines föderalen Systems für ganz Syrien sein will:

Artikel 12:

Die demokratisch-autonome Verwaltung ist Teil eines nicht zentralistisch organisierten zukünftigen Syriens und dessen Vorbild. Ein föderales System ist das passendste Modell für Syrien, und das Verhältnis zwischen den autonomen Verwaltungen und der Zentralregierung Syriens wird auf dieser Grundlage strukturiert.

Artikel 15:

1) Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind als eine nationale Institution für die Sicherheit aller drei Kantone verantwortlich. Sie leisten ihren Dienst für die Interessen und die Sicherheit der Bevölkerung. Die YPG agieren gemäß dem Prinzip der Selbstverteidigung. Ihr Verhältnis zur Armee der Zentralregierung wird durch die Gesetze des Gesetzgebenden Rates bestimmt.

2) Die Asayiş-Kräfte sind an die Kommission für innere Sicherheit gebunden.

Artikel 23:

a) Jede(r) verfügt über das Recht, die ethnische, sprachliche, geschlechtliche, religiöse und kulturelle Identität zu leben.

b) Jede(r) hat das Recht, nach den Prinzipien der ökologischen Gesellschaft zu leben.

Artikel 25:

a) Die Freiheit des Individuums ist gesichert. Niemand darf außergesetzlich festgenommen werden.

b) Die Würde des Menschen ist unantastbar und muss geschützt werden. Niemand darf körperlicher oder psychischer Folter ausgesetzt werden. Wer Folter ausübt, wird bestraft.

c) Für Festgenommene und Inhaftierte werden Bedingungen für ein menschliches Leben geschaffen. Gefängnisse dürfen kein Ort der Bestrafung, sondern müssen als Bildungs- und Rehabilitationszentrum beschaffen sein.

Artikel 26:

a) Der Gesellschaftsvertrag garantiert das Recht auf politisches Leben und verbietet die Todesstrafe.

Artikel 27:

a) Frauen verfügen über alle politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen Rechte und das Recht auf Leben. Diese Rechte sind zu schützen.

Artikel 28:

a) Frauen haben das Recht zur Selbstverteidigung und das Recht, jegliche Geschlechterdiskriminierung aufzuheben und sich ihr zu widersetzen.

Artikel 29:

a) Der Gesellschaftsvertrag garantiert die Kinderrechte und verbietet Kinderarbeit, physische und psychische Folter an Kindern und Kinderheiraten

Artikel 31:

a) Das Recht, die Religion zu praktizieren, steht unter Schutz. Die Religion für politische Zwecke zu missbrauchen, wegen Religion Auseinandersetzungen zu entfachen und Menschen zu diskriminieren, wird nicht geduldet.

Darüber hinaus werden im Gesellschaftsvertrag die Presse- und Meinungsfreiheit, sowie Chancengleichheit garantiert:

Artikel 39:

Alle Bodenschätze und natürlichen Ressourcen gehören der gesamten Gesellschaft. Ihre Nutzung, Verarbeitung und Gebrauch wird durch Gesetze geregelt.

Artikel 40:

In den demokratisch-autonomen Verwaltungen gehört jeglicher Grundbesitz und Boden der Bevölkerung. Nutzung und Aufteilung werden durch Gesetze geregelt.

Die Legislative ist geregelt im Artikel 45:

Der Gesetzgebende Rat ist der Hohe Rat der demokratisch-autonomen Verwaltungen. Seine Mitglieder werden alle vier Jahre von der Bevölkerung gewählt.

Der Gesellschaftsaufbau und Parteien

Die wichtigsten Institutionen

Wie man den Artikeln des Gesellschaftsvertrages entnehmen kann, handelt es sich nicht um eine repräsentative Demokratie wie bei uns, wo die Abgeordneten ein freies Mandat haben, sondern um ein basisdemokratisches Modell mit imperativem Mandat. D.h., die Beschlüsse werden von unten nach oben dekliniert und nicht wie bei uns von oben nach unten.

Die politischen Strukturen mit ihren Räten sind unter einer Kriegssituation entstanden und befinden sich noch im Aufbau. Daher gibt es auch noch Ungereimtheiten im System: Einerseits soll ein Parlament gewählt werden, andererseits existiert parallel dazu das Rätesystem als eine Art Parallelparlament. Hier die wichtigsten Institutionen:

  • In den Stadtteilen gibt es die Kommunen, die für ca. 1000 Bewohner zuständig sind. Daraus bilden sich die Stadtteilräte, die wiederum aus ihren Reihen den Stadtrat, die regionale Räteverwaltung wählen, ergänzt um Sitze der Parteien u.a. relevanten Organisationen.
  • Die regionalen Räteverwaltungen sind eigene Exekutivräte und haben den Kantonsvorsitz inne.
  • Der Hohe Rat / Gesetzgebender Rat ist das oberste Gremium und verfasst die Gesetze.
  • Der Exekutivrat hat Leitungs- und Exekutivfunktion. Er ist dem Gesetzgebenden Rat gegenüber rechenschaftspflichtig und besteht aus gewählten Mitgliedern der regionalen Räteverwaltungen.

Parteien in Rojava:

  • PYD - Partei der demokratischen Union (Partiya Yekitîya Demokrat)
  • KDP - Demokratische Partei Kurdistans (Barzanis Partei)
  • SUP - Einheitspartei der Assyrer (Suryoye)
  • sowie weitere Kleinparteien

Militär und Polizei

  1. YPG - Selbstverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel)
  2. YPJ - Frauenselbstverteidigungseinheiten (Yekîne-yên Parastina Jinê)
  3. Asayîs - Polizei
  4. Sutoro - assyrische Polizei

Das Verhältnis der umliegenden Staaten zu Rojava

Türkei: Unterstützung des IS versus basisdemokratische Lokalstrukturen auch in der Südosttürkei

Auch in der Südosttürkei/Nordkurdistan orientiert man sich am "Demokratischen Konföderalismus", bzw. am Beispiel Rojava. Über die Parteien HDP (Demokratische Partei der Völker) und BDP (Partei für Frieden und Demokratie), die in Nordkurdistan fast alle Kommunalwahlen in 2013 gewonnen haben, wurde in allen wichtigen Ämtern eine Doppelspitze eingeführt. Bürgermeisterposten wurden mit einer Frau und einem Mann besetzt wie z.B. in Cizre Leyla Imret, eine junge Kurdin aus Bremen, oder Gültan Kisanak in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Nordkurdistans.

Ein Teil der in den Provinzen erhobenen Steuern gesteht Ankara mittlerweile den Provinzen zu. Somit wurden die kurdischen Provinzen in die Lage versetzt, Geld in Infrastrukturmaßnahmen zu investieren, wie z.B. in den sozialen Wohnungsbau.

Die kurdische Sprache ist nicht mehr verboten. Zur Zeit versuchen die kurdischen Provinzen, die kurdische Sprache auch an Schulen zu etablieren, was Ankara immer noch unterbindet. So wurden z.B. im September 2014 kurdische Grundschulen, die in Eigenregie gebaut und eingerichtet wurden, von türkischem Militär zerstört.

Kurdische PolitikerInnen mischen sich öffentlich in die Debatte um Rojava ein, z.B. die Bürgermeisterin von Diyarbakir (kurdisch: Amed), die an der syrischen Grenze versuchte, das türkische Militär an der Zerstörung von Flüchtlingszelten, die die kurdische Bevölkerung aufgestellt hatte, zu hindern.

Dass die türkische Regierung ein demokratisches Modell in ihrer Nachbarschaft verhindern will, zeigt sich spätestens jetzt, wo einer der Kantone Rojavas, Kobanê, kurz vor der Einnahme durch den IS steht: Sie fordert die syrischen Kurden auf, als Gegenleistung für Hilfe ihre Autonomie aufzugeben, das Selbstverwaltungsmodell aufzulösen und der Einrichtung einer türkischen "Sicherheitszone" in Nordsyrien zuzustimmen.

Darüber hinaus habe der Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, wie die Welt berichtete, "schon in seinen frühen Schriften betont, dass die Türkei "Lebensraum" im Osten braucht - ein Begriff, den er vom deutschen Geopolitiker Karl Haushofer übernahm, der auch Hitler inspirierte. Davutoglu möchte in jenen Gebieten, die früher zum Osmanischen Reich gehörten, den türkischen Einfluss möglichst wiederherstellen, der dort einst herrschte. Zerfallende Nachbarstaaten, deren kurdische und sunnitische Teile unter türkischer Protektion ein Eigenleben entwickeln, wären ein ideales Ergebnis - wenn sich diese Gebiete denn indirekt und berechenbar von Ankara führen lassen".

In einem internen Papier der USA, welches dem türkischen Journalisten Baskin Oran zugespielt wurde, heißt es u.a.:

Die Türkei habe die Grenzen für sämtliche militante Islamisten bewusst geöffnet, um ihre Stellung in der Region zu stärken. Sie habe sich als sicherer Hafen für den islamischen Kampf positionieren wollen…Erdogan habe über den türkischen Geheimdienst MIT die Islamisten bewaffnet. Sämtliche Waffen der Islamisten trügen das Label des türkischen Waffenlieferanten MKE. Die Türkei versorge verwundete ISIS-Terroristen in speziellen Krankenhäusern medizinisch und verbringe sie nach ihrer Genesung in die türkischen Trainingscamps der ISIS.

Irak: Das Verhältnis von Rojava zum kurdischen Autonomiegebiet im Irak

Regierungssitz des Autonomiegebiets ist Erbil. Dorthin wurden auch die deutschen Waffen für die Peschmergas geliefert. Allerdings wurden diese an die KDP-Peschmergas geliefert, also diejenigen, welche Anfang August vor dem IS geflohen sind und die Jesiden im irakischen Shengal-Gebirge alleine gelassen haben. Bis heute boykottiert Barzani die humanitäre Hilfe nach Rojava. Und stellt den jesidischen Selbstverteidigungseinheiten im Shengal-Gebirge keine Waffen zur Verfügung (mittlerweile hat Barzani Waffen und Kämpfer nach Kobane geschickt, d. Red.).

Der Stammesfürst Barzani steht der USA und der Türkei wesentlich näher als den Kurden in Rojava. Seine autonome Region ist zu über 90% von Importen aus der Türkei abhängig, da es im Nordirak kaum Landwirtschaft und produzierendes Gewerbe gibt. Es wird praktisch nichts fürs tägliche Leben produziert, sondern das Geld aus den Öl-Dollars und der Kontrolle der Importe füllt die Taschen des Barzani-Clans, der auch alle wichtigen politischen Ämter innehat. Dazu merkte die Zeitung Neues Deutschland im Juli an:

Mit dem als Gründungsdokument der Republik Türkei geltenden Nationalpakt (Misak-i Milli) von 1920 wird der türkische Anspruch auf die kurdischen Siedlungsgebiete Iraks als ehemals osmanischer Provinz Mosul festgeschrieben. Nun könnte Erdogan dieses Vermächtnis von Republikgründer Mustafa Kemal mit Hilfe seines Vasallen Barzani einerseits und der über die türkisch-syrische Grenze laufenden logistischen Unterstützung des türkischen Geheimdienstes für die Gotteskrieger des IS andererseits erfüllen. Denn ein von Bagdad unabhängiges Kurdistan wird umso abhängiger von der Türkei sein.

Seit den 90er Jahren besitzt die Türkei einige Militärstützpunkte auf irakisch-kurdischem Territorium. Als die türkische Luftwaffe in den letzten Jahren mehrfach Angriffe auf Camps der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in den Kandilbergen flog, gab es aus Erbil keine größeren Proteste gegen diese Verletzung seines Territoriums. Ein türkisches Protektorat ist der von Barzani in feudaler Manier geführte Mafiastaat, in dem soziale Proteste und kritischer Journalismus mit harter Hand unterdrückt werden, heute bereits. Auch wenn vielleicht bald die kurdische Fahne über Kerkuk als Hauptstadt eines unabhängigen Kurdistan wehen sollte, wird dies noch lange kein freies Kurdistan sein.

Von daher ist der erz-konservativen, feudalistisch strukturierten Regierung ein demokratisches Modell in der Nachbarschaft ebenfalls ein Dorn im Auge. Denn auch im Nordirak ist das Quasi-Fürstentum Barzanis ein korruptes, hierarchisches Männersystem.

Warum die USA Rojava nicht unterstützen

Betrachtet man die verhaltenen Luftschläge der USA um Kobanê, so liegt nahe, dass es sich um ein ambivalentes Taktieren handelt. Dies wird auch aus einer Pressekonferenz des US-Regierungssprechers deutlich, wo er auf diesbezügliche Fragen nur ausweichende Antworten gab.

In manchen Medien wird darauf hingewiesen, dass die USA durch den Irakkrieg 2003 maßgeblich zur Entstehung des IS beigetragen haben:

Die Entwicklungen in Ägypten, Libyen, Tunesien, Irak und in Syrien entsprechen nicht oder nur im geringen Maß den Vorstellungen der US-Regierung. Durch ihre Politik hat die USA allerdings die gesamte Region ins Chaos gestürzt… hat die USA die Kontrolle verloren Auf dieser Basis hat sich auch die Revolution in Rojava entwickelt. Eine basisdemokratische Selbstverwaltung, die in der Region zum positiven Modell werden könnte, stellt die Vormachtstellung der USA in Frage. Als Instrument dagegen wurde IS genutzt.

Aus Saudi-Arabien kommt bis heute Unterstützung für den IS und der Türkei wird vorgeworfen, dass sie den IS materiell mit Waffen und Munition unterstützt und verletzte IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern behandelt, weil die Regierung gegen das Assad-Regime ist - und vor allem gegen die Schiiten im Irak und im Iran.

Auch Katar soll mit im Boot sein, von dort kommt finanziellen Unterstützung für den IS, obwohl ein Großteil der katarischen Bevölkerung ebenfalls Schiiten sind, die aber dort von politischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen sind.

Die USA können nicht gegen die grundlegenden Interessen ihrer Verbündeten angehen. Deshalb wird das Verhalten der Türkei als Mitglied der Nato auch bis heute gebilligt bzw. nur sehr verhalten kritisiert. So mächtig die USA auch sind, diese Interessenvielfalt ihrer Verbündeten im Nahen Osten kann sie nicht vollständig ignorieren.

Hierarchische, antidemokratische Männergesellschaften

Die große Gemeinsamkeit aller Staaten im Nahen Osten

Die große Gemeinsamkeit aller Staaten im Nahen Osten ist gekennzeichnet durch hierarchische, antidemokratische Männergesellschaften. Dies ist ein wesentliches Element, warum keine demokratischen Staaten dort entstehen können. Der Hang zur Diktatur, zu narzistischem Machoverhalten, zu Klientelismus und Korruption ist groß.

Frauen sind vom politischen und gesellschaftlichen Leben in diesen Ländern praktisch ausgeschlossen, wie auch vielfach die ethnischen und religiösen Minderheiten. Demokratie bedeutet aber, dass alle gleichberechtigt an der Macht und allen gesellschaftlichen Organen beteiligt sind.

Nach der anfänglichen stalinistischen Ausrichtung der PKK haben sich die Kurden - sicherlich beeinflusst durch die Frauenbewegungen weltweit - dazu durchgerungen der Frauenfrage eine große Bedeutung zuzumessen. Dies hat auch Öcalan schon in den 1990er Jahren erkennen müssen, als immer mehr Frauen in den Organen der PKK Posten belegten.

So war z.B. die am 9. Januar 2013 in Paris ermordete Sakine Cansiz eine der ersten Kommandantinnen der PKK und das erste Mitglied der Frauenpartei, die 1995 nach dem ersten kurdischen Frauenkongress gegründet wurde.

Seit seiner Gefängniszeit befasst sich Öcalan mit verschiedenen Theoretikern und ist deutlich vom Stalinismus abgerückt. Er verfasste verschiedene Schriften, unter anderem auch zur Frauenfrage:

Für eine demokratische Nation ist die Freiheit der Frau von großer Bedeutung, da die freie Frau die befreite Gesellschaft konstituiert…Darüber hinaus ist es von revolutionärer Bedeutung, die Rolle des Mannes umzukehren.

Ob ein Königshaus in Saudi-Arabien oder Diktatoren wie einst Saddam Hussein oder Gaddafi oder wie jetzt ein kurdischer Stammesfürst Barzani - ihre Ökonomie wird grundlegend bestimmt durch die Öldollars und Frauen sind aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen.

Es wird nichts produziert, es fehlt an Bildungsinstitutionen für die Bevölkerung und damit wird Emanzipation verhindert. Nur so kann es sein, dass Frauen bei den politischen Kontrahenten Saudi Arabien und Iran derartig gesellschaftlich ausgegrenzt sind, die Genitalverstümmelung entgegen der gängigen Meinung sich nicht nur auf Afrika beschränkt, sondern auch im Nordirak verbreitet ist.

Rojava stellt die Systemfrage, daher die Gegnerschaft

Alle Staaten im Nahen Osten haben kein Interesse am Gelingen des Experiments Rojava, weil es die Systemfrage stellt. Emanzipationsbewegungen werden weltweit nicht zugelassen und schon immer bekämpft oder diffamiert, weil sie den Kapitalismus in Frage stellen - momentan den Neoliberalismus. Der Neoliberalismus braucht möglichst abhängige Regierungen. Rojava steht dem entgegen, weil es kaum Schnittstellen zum Kapitalismus herstellt und gleichzeitig die reinen Männergesellschaften in Frage stellt.

Rojava ist als Gegenentwurf zu ihrem eigenen Gesellschaftsmodell von allen Regimen im Nahen Osten nicht gewollt. Es ist für den Nahen Osten eine Revolution, die keiner will. Die westliche Wertegemeinschaft setzt auf Demokratie, Menschenrechte, Frauenemanzipation, Rechtsstaatlichkeit und Glaubensfreiheit - aber gerade im Fall Rojavas verstößt sie wieder einmal gegen ihre eigenen Werte, indem sie dieses Experiment verhindert statt unterstützt. Ähnelt die westliche Welt damit ungewollt den diktatorischen Staaten des Orients?

Obama proklamiert in seiner letzten Rede demokratische Werte, aber werden sie dann einmal wie in Rojava eingehalten, zählen sie wegen geopolitischer Interessen plötzlich nicht mehr.

Der Westen hat sich davon verabschiedet, diese Werte als Grundlage des eigenen Handelns zu beachten. Anscheinend werden Werte wie Demokratie und Menschenrechte nur noch instrumentell gebraucht. Damit sind sie allerdings kein Wert mehr, sondern nur noch Mittel zum Zweck und leere Hülle.