Das Raketenabwehrschild ist wahrscheinlich eine Geldverschwendung
Nach einem Experten-Bericht der American Physical Society ist auch der Abschuss von Langstreckenraketen während der Brennphase technisch kaum zu realisieren
Die Nationale Raketenabwehr ist das teure Lieblingsprojekt der Bush-Regierung. Die Idee stammt noch aus Reagans Zeiten, ebenso wie viele der Mitglieder der US-Regierung. Kritik hat das teure Projekt seit Anfang an nicht nur wegen der politischen und sicherheitsstrategischen Auswirkungen, sondern auch wegen der technischen Realisierbarkeit begleitet. Nachdem der Abschuss von Langstreckenraketen während der Flugphase durch ein "Kill Vehicle" selbst unter optimalen Bedingungen schwieriger als vorgesehen ist, setzt das Pentagon jetzt mehr auf ein Abwehrsystem, das die Raketen mitsamt ihren Sprengköpfen bereits während der Brennphase des Triebwerks zerstören soll. Ein Bericht der American Physical Society (APS) erklärt, dass auch dies nicht wirklich ein gangbarer Weg ist.
Die Bush-Regierung hat es eilig, auch wenn die Technik bei weitem noch nicht ausgereift ist. Schon ab nächstem Jahr sollen die ersten Abwehrsysteme für Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen in Alaska und auf Schiffen installiert und Alliierte dafür gewonnen werden, auch unter den Sicherheit versprechenden, aber teuren Schirm zu kommen (Die große Mauer). Weil das aber alles noch ein wenig unausgereift ist, versteht man die Entwicklung evolutionär. Man fängt also einmal mit der Produktion und Installation an und verbessert/modernisiert dann das System nach und nach. Billiger freilich dürfte dies dadurch auch nicht werden.
Der letzte Versuch im Juni mit dem seegestützten System Aegeis ist allerdings gescheitert (Test für Raketenabwehrschild gescheitert). Das "exo-atmospheric kill vehicle" traf das Ziel nicht. Auch der letzte Versuch mit dem landgestützten System Ende 2002 war kein Erfolg. Realistisch wäre freilich, dass eine feindliche Macht nicht nur mit einer Langstreckrakete einen Sprengkopf und eine Attrappe abschießt, so bislang die Testbedingungen, sondern dass nach der Brennphase im Flug zahlreiche Sprengköpfe und Attrappen freigesetzt werden. Daher erscheint eine Abwehr, die Langstreckenraketen bereits in der Brennphase des Triebwerks zerstört, wobei noch alle Sprengköpfe und Attrappen mitgeführt werden, sinnvoller. Das aber muss nicht heißen, dass sie deswegen technisch auch machbar sein muss.
Nach dem jetzt vorgelegten umfangreichen Bericht der größten amerikanischen Physikergesellschaft, den 12 Experten über drei Jahre lang ausgearbeitet haben, stehen die Chancen aber auch bei den Varianten des Raketenabwehrschilds schlecht, die die feindlichen Raketen noch kurz nach dem Start während der Brennphase des Antriebs zerstören sollen. Gedacht wird dabei an land-, see- und luftgestützten Systemen - beispielsweise soll ein Laser zu diesem Zweck in eine Boeing 747 eingebaut werden -, aber langfristig auch an Abwehrsysteme im Weltraum. Das Pentagon will für die Entwicklung von Brennphase-Abschusssystemen allein im nächsten Haushaltsjahr eine Milliarde investieren, für den Airborne Laser ist eine halbe Milliarde vorgesehen. Erst einmal teilte die Missile Defense Agency mit, dass man den Bericht noch nicht habe lesen können, aber dass man zuversichtlich sei, eine solche Technologie zu entwickeln, die ein wichtige Rolle im geplanten Raketenabwehrschild spielen werde.
Die Experten bestreiten, dass eine Abwehr, die auf den Abschuss von Langstreckenraketen während der Brennphase setzt, wirklich wirksam sein könne. Das Problem ist vor allem das kurze Zeitfenster, denn die Phase dauert gerade einmal drei oder vier Minuten. Um die startenden Raketen, die allerdings in dieser Phase leichter zu erkennen sind, abschießen zu können, müssen die Abschussraketen nicht nur sehr viel schneller als jetzt sein, sondern auch in der Nähe des Abschussortes sich befinden. Hier gäbe es nach den Experten noch eine gewisse Möglichkeit, wenn die feindlichen Raketen mit einem Flüssigbrennstoff-Antrieb ausgestattet sind, die länger brennen. Doch in 10 bis 15 Jahren, bis die entsprechende Raketenabwehr von den USA eingerichtet sein würde, würden Länder wie Nordkorea oder Iran möglicherweise bereits im Besitz von Festtreibstoff-Antrieben sein, die die Zeit der Brennphase so verkürzen, dass ein Abschuss nicht mehr möglich ist.
Eine Abwehr von Raketen mit solchen Antrieben ist, so der Bericht, "praktisch unwahrscheinlich, wenn alle Faktoren berücksichtigt werden, unabhängig davon, wo die Abschussraketen sich befinden". Nötig wären große, extrem schnelle und sich beschleunigende Raketen selbst im Fall eines kleinen Landes wie Nordkorea, wo die Distanz zwischen der Abschuss- und der Zielrakete nicht groß ist. Auch bei im weltraumbasierten Kill-Raketen liege der Fall nicht anders. Mit der Technologie, die vermutlich in 15 Jahren entwickelt sein könnte, müsste nicht nur ein entsprechend schnelles und großes kill vehicle abgeschossen werden, sondern Tausende, um eine einzige feindliche Rakete zuverlässig zu treffen. Der Airborne Laser wäre zwar für den Abschuss von Flüssigbrennstoff-Raketen geeignet, wenn er nahe genug ist, aber gegen Festtreibstoff-Raketen hilflos.
Auch bei einer Zeit von vier Minuten von der Zündung der Rakete bis zum Ende der Brennphase ist das Zeitfenster in Wirklich noch kleiner. Mindestens 45 Sekunden, wenn nicht 65 Sekunden oder länger sind nötig, um den Abschuss einer Rakete zu entdecken und deren Flugrichtung zu erkennen. Schon 40 Sekunden vor dem Ende der Brennphase kann die Rakete den mitgeführten Sprengköpfen den erforderlichen Antrieb gegeben haben, um beispielsweise die USA zu erreichen. Bevor eine Abwehrrakete gestartet werden kann, ist jedoch auch eine gewisse Entscheidungszeit allein zur technischen Abstimmung notwendig. Da aber beispielsweise Langstreckenraketen und Weltraumraketen ähnliche Flugeigenschaften haben, können sie von den Systemen nicht unterschieden werden. Es müssten also sicherheitshalber alle Raketen abgeschossen werden, wenn nicht zuvor bekannt ist, dass es sich um eine ungefährliche Rakete handelt.
Allgemein geht der Bericht davon aus, dass etwa das seegestützte Aegeis-System nur sinnvoll gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen eingesetzt werden kann, die höchstens wenige Dutzende von Kilometern entfernt abgeschossen werden. Und völlig ungelöst sei, wenn denn Raketen bereits in der Brennphase zerstört werden können, was mit den nuklearen, chemischen, biologischen Sprengköpfen passiert, die über dicht bevölkerten Gegenden herabfallen können.
Daniel Kleppner, Physiker vom MIT und Co-Chair der Expertengruppe, betont, dass man lediglich die Fakten zusammen stellen wollte. Myriam Sarachnik, Präsidentin der APS, erklärt, dass es bei großen Investitionen in Waffensystemen entscheidend sei, ihre technische Durchführbarkeit zu bedenken: "Die APS hofft, dass dieser Bericht zur Evaluation beitragen wird, ob man Brennphasen-Abwehrsysteme entwickeln soll." Sehr viel deutlicher lässt es sich nur noch direkt sagen, dass das Rüstungsprojekt eigentlich eine gigantische Geldverschwendung ist.