Das Schattenreich der Seilschaften in Wirtschaft, Verbänden und Politik

Seite 2: Konzerne und Großunternehmen machen heute ihr eigenes Lobbying

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Jahrzehntelang hatten die Verbände im politischen System der Bundesrepublik die Aufgabe, die Interessen der Unternehmen zu bündeln und gegenüber der Politik zu vertreten. Doch seit den 1990er Jahren breitet sich in Deutschland und bei der Europäischen Union ein neuer Stil organisierter Interessenvertretung aus, der völlig an den traditionellen Verbänden vorbeiführt.

Neben den Verbänden betreiben nun die Unternehmen selbst ihr eigenes Lobbying. Fachleute sprechen von Public-Affairs-Lobbying. Das ist ein System von Interessenvertretern, die nicht als Verbandsfunktionäre tätig und damit auch nicht dauerhaft mit ihrer Klientele vernetzt sind. Sie werden von Fall zu Fall für Lobbyismusaufgaben engagiert.

Konzerne und andere Großunternehmen haben in Berlin und Brüssel ihre eigenen Vertretungen eingerichtet. Allein in Berlin gibt es heute rund 120 Unternehmensrepräsentanzen. Ihre Zahl wächst rasch.

Auch ausländische Firmen, die auf den deutschen Markt drängen, bedienen sich zunehmend der Public-Affairs-Agenturen, um ihre Interessen gegenüber der Politik durchzusetzen.

Hinzu kommen international tätige Anwaltskanzleien, die in den Markt der politischen Interessenvertretung eingestiegen sind. Die Public-Affairs-Agenturen bieten auch mittelständischen Unternehmen ihre Dienste an, für die eine eigene Repräsentanz in Berlin zu aufwändig wäre.

Lange Zeit hatten Kritiker sich damit abgefunden, dass die Beziehungen zwischen Interessenvertretern in Verbänden auf der einen und dem Parlament sowie der Ministerialbürokratie auf der anderen Seite gar keine so schlechte Sache sind: ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Bürokratie und Parlament machen sich den Sach- und Fachverstand der Lobbyisten zunutze, und die Lobbyisten profitieren von der Bereitschaft der Bürokraten und Politiker, ihnen ein offenes Ohr zu leihen.

Doch das Lobbying ist heute kein wechselseitiger Tausch mehr, von dem beide Seiten profitieren. Es ist eine Einbahnstraße geworden. Die Politik ist vor den Interessenvertretern längst in die Knie gegangen.

Politiker fungieren als willige Helfer der Lobbyisten

Basis des direkten Lobbyings durch Unternehmen ist zwar immer noch ein beiderseitiges Interesse. Politik und Ministerialbürokratie brauchen den Sachverstand von Fachleuten aus den Unternehmen, und die Unternehmen profitieren von der Einflussnahme auf die Politik. Das ist der eine Aspekt.

Der andere allerdings ist weit weniger harmlos: Die Politik hat sich ihrer Pflicht zur Unabhängigkeit und zur Neutralität gegenüber den partikularen Interessen auf ewig und alle Zeiten entledigt. Sie hat sich mehr oder weniger widerstandslos den Interessenvertretern ausgeliefert und ist zu ihrem willigen Helfer geworden. Sie hat sich unterworfen. Sie hat das Gemeinwohl auf dem Altar der partikularen Interessen geschlachtet.

Die Pflicht des Staats zur Unabhängigkeit und Neutralität ist aber nicht einfach eine belanglose Verpflichtung, bei der man sagen könnte: Es wäre ganz nett, wenn die eingehalten würde. Die Neutralitätspflicht ist eine der Fundamentalpflichten demokratischer und sogar vordemokratischer Staaten.

Selbst Friedrich der Große hatte vor 300 Jahren schon relativ genaue Vorstellungen von der Neutralitätspflicht des Staates, die heute unter dem Druck des Lobbyismus nach und nach zu Grabe getragen wird.

Es ist keine wirkliche Übertreibung zu sagen, dass der demokratische Staat unter der Knute des Lobbyismus im Begriff steht, hinter den undemokratischen preußischen Staat Friedrichs des Großen im 18. Jahrhundert zurückzufallen.

Wenn ein Staat nicht einmal seine Neutralitätspflicht gegenüber jedermann erfüllt, ist er mit Sicherheit kein Rechtsstaat und eigentlich noch nicht einmal ein ordentlicher Staat. Ein Staat darf grundsätzlich nicht Partei ergreifen. Und wenn er Partei ist, ist er nicht Staat, und schon gar kein demokratischer, sondern ein diffuses Gebilde, das zur Beute von Interessengruppen und Konzernen geworden ist.

Das Public-Affairs-Lobbying beeinflusst massiv Regierungen, Parlamente, politische Parteien, Behörden, Gemeinden und Verbände ebenso wie die Gesellschaft als Ganze. Ursprünglich ging es mal nur darum, negative Auswirkungen politischer Aktivitäten von Regierungen und Parlamenten in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten zu kontrollieren, zu beeinflussen oder zu verhindern. Inzwischen geht es vorwiegend darum, das allgemeine wirtschaftliche, soziale und politische Klima für Unternehmen durch Beeinflussung von Politik, Meinungsführern und der Öffentlichkeit zu den eigenen Gunsten zu verbessern.

Dadurch weicht die Trennung von Politik und Wirtschaft immer weiter auf. Politik und Wirtschaft verschmelzen untrennbar miteinander. Und immer seltener behalten Staat und Politik die Oberhand.

Heute sind die Interessenvertreter tief in die Ministerien und die Parlamente eingedrungen - wie tief, kam eigentlich nur durch einen Zufall heraus. Inzwischen ist es gang und gäbe, dass in fast allen Bundesministerien Mitarbeiter aus den wichtigsten deutschen Unternehmen arbeiten und Tür an Tür mit Beamten sitzen, an Gesetzen mitschreiben, massenhaft interne Unterlagen kopieren, an ihre Firmen weiterleiten und dafür von der Wirtschaft bezahlt werden.

Bei einer Überprüfung des Bundesrechnungshofs kam heraus, dass externe Mitarbeiter an der Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen beteiligt sind und sogar Führungsfunktionen in den Ministerien wahrnehmen. Sie werden auch in Tätigkeitsfeldern eingesetzt, "die hinsichtlich ihrer politischen Bedeutung, ihres Zugangs zu internen Informationen oder ihrer Nähe zu den Interessenschwerpunkten der entsendenden Stelle eine herausgehobene Position"1 haben.

Nach dem Bericht waren allein zwischen 2004 und 2006 bis zu 108 Mitarbeiter aus privaten und öffentlichen Unternehmen sowie Verbänden oder Gewerkschaften bis zu fünf Jahre lang in den Ministerien offiziell tätig. In 60 Prozent der untersuchten Fälle wurden sie von ihrem eigentlichen Arbeitgeber bezahlt.

Die Bezahlung dieser Mitarbeiter durch Unternehmen und Verbänden lasse befürchten, "dass Interessenkonflikte oder zumindest in der Außenwahrnehmung der böse Schein fehlender Neutralität entstehen", beklagten die Prüfer des Bundesrechnungshofs.

So sei ein Externer im Büro eines Bundesministers als Referent eingesetzt gewesen. Das Unternehmen, das ihn entsandte, sei als Auftragnehmer für das Ministerium tätig. In einem anderen Fall wurde ein solcher Beschäftigter im Haushaltsreferat eines Ministeriums mit der Begründung eingesetzt, es stehe sonst niemand dafür zur Verfügung.

Eine Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, die sich um Aufträge bei einem anderen Ressort bemühte, sei von sich aus erfolgreich an das Ministerium mit dem Angebot herangetreten, einen Mitarbeiter vorübergehend in ein Referat zu schicken, das sich mit der strategischen Ausrichtung des Ministerium befasst.

Ein großes öffentliches Kreditinstitut entsandte 2006 durchschnittlich 15 Mitarbeiter in oberste Bundesbehörden. Damit wurden Stellen besetzt, für die ansonsten Personalausgaben von jährlich einer Million Euro angefallen wären.

Die weitaus meisten Fälle von externen Beschäftigungen gibt es im Bundeswirtschaftsministerium. Dort waren laut einer Antwort der Regierung auf eine parlamentarische Anfrage 2006 etwa 35 Fälle registriert. Dazu gehören Mitarbeiter von Konzernen wie DaimlerChrysler, Bayer, BASF, IBM oder Thyssengas und von Lobbyvertretungen wie dem Verband der Chemischen Industrie, dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller oder der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft.

Ein Teil der Fälle geht auf das Personalaustauschprogramm "Seitenwechsel" der Bundesregierung zurück, ein Bestandteil des Regierungsprogramms "Moderner Staat - Moderne Verwaltung". Dieses Regierungsprogramm wurde 2004 verabschiedet. Erste Gespräche zu dem Austauschprogramm fanden im Frühjahr 2004 zwischen dem Bundesministerium des Innern und der Deutschen Bank statt. So sicherte sich die Deutsche Bank einen direkten Einfluss auf die strategische und inhaltliche Ausrichtung der Regierungspolitik.

Ziel des Vorhabens sei ein langfristiger Wissenstransfer, um einen Mentalitätswechsel in der Bundesverwaltung zu erreichen, so die etwas scheinheilige Begründung der Bundesregierung.