"Das Schweigen, wenn auf einmal 3 000 Menschen verschwinden"
Hinweise auf Massaker in Afghanistan
Ein Interview mit dem britischen Dokumentarfilmer und ehemaligen BBC-Mann Jamie Doran, der Mitte Juni einen Auszug aus seinem Dokumentarfilm Massaker in Masar in Berlin und Brüssel veröffentlichte. Demnach wurden tausende gefangene Taliban im Norden des Landes hingerichtet. Nun soll es Ermittlungen geben.
Mitte vergangener Woche erklärte die afghanische Menschenrechtskommission, die mutmaßlichen Massaker im Norden des Landes zu untersuchen. Welche Erwartungen haben Sie in eine solche Untersuchung?
Doran: Ich habe ernsthafte Zweifel am Erfolg eines solchen Vorhabens. Die afghanischen Behörden werden weder die Zeit, noch die Mittel haben, um eine adäquate Untersuchung der Kriegsverbrechen zu führen. Die Nachforschungen würden mindestens eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen und enorme Kosten verursachen. Und denken Sie an die Folgekosten. Es geht hier ja nicht nur um das eigene Personal. Es müssten auch Fremdkräfte engagiert werden, die Zeugen vernehmen und die Aussagen dokumentieren. Forensische Spezialisten sind nötig. Dann die Lagerräume für 1000 bis 3000 Leichen, Labore, Grabungsgerät, Sicherheitskräfte. Es müsste ein Programm zum Schutz der Zeugen entwickelt werden. All das wird die afghanische Regierung kaum bewältigen können.
Unter welchen Voraussetzungen geben Sie der Untersuchung eine Chance?
Doran: Eine Kooperation mit den Vereinten Nationen ist unabdingbar. Den Vorsitz des UN-Sicherheitsrates haben derzeit die USA inne. Wenn Washington, wie erklärt, tatsächlich an einer umfassenden und unabhängigen Untersuchung interessiert ist, dann sollte der Sicherheitsrat grünes Licht für die Freigabe der nötigen finanziellen Mittel geben.
In ihrem Dokumentarfilm kommen verschiedene Zeugen zu Wort, die eine mögliche Verantwortungen des Generals der Vereinigten Islamischen Front (Nordallianz), General Abdul Rashid Dostum, ansprechen. Wäre in Anbetracht des politischen Einflusses dieses Mannes und möglicher weiterer Warlords eine unabhängige Untersuchung überhaupt denkbar?
Doran: Es gibt wenig Zweifel daran, dass Dostum unterstehende Männer in den Verbrechen verwickelt sind. Und ich halte es für unwahrscheinlich, dass unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen in Afghanistan sinnvolle Ermittlungen möglich sind. Alle Zeugen, die ich interviewt habe, wären aber zu Aussagen im Rahmen einer künftigen unabhängigen und internationalen Untersuchung bereit.
Sie haben die Rolle der USA angesprochen. Auch US-Soldaten sollen nach Zeugenaussagen für Kriegsverbrechen an den gefangenen Taliban nahe Masar-i-Sharif im Dezember verantwortlich sein.
Doran: Was die Untersuchung nicht vereinfachen wird. Zeugen haben bestätigt, dass US-Soldaten über mehrere Tage hinweg an Übergriffen auf Gefangene beteiligt waren. Die Vorwürfe wären nicht nur nach internationalem Recht, sondern auch nach US-Militärrecht zu ahnden. Dazu zählt grausame Behandlung von Kriegsgefangenen, Verantwortung der Kommandierenden für Massenmord, aber auch die Vertuschung solcher Kriegsverbrechen. Das Schweigen etwa, wenn auf einmal 3 000 Menschen verschwinden.
Wer sollte die Untersuchungen also leiten?
Doran: Nur eine unabhängige internationale Institution könnte eine solche Aufgabe übernehmen. Nur unter direkter Beteiligung oder Schirmherrschaft der Vereinten Nationen kann ermittelt werden, wer für die Kriegsverbrechen in Afghanistan und, wahrscheinlich, den USA zur Verantwortung zu ziehen ist.