Das "Soziale" - etwas Licht, viel Schatten
Seite 2: Exkurs: Fremder und die Flüchtlingskrise 2015 ff
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Ganz dezidiert hat sich Bauman der Flüchtlingskrise Europas ab 2015 in einigen Essays angenommen und die Ängste der Einheimischen vor dem Eindringen von Fremden beschrieben.3 Als Lösung hat er dabei, mit Bezug auf den aktuellen Papst, allerdings nur das christliche Gebot von Geschwisterlichkeit und Solidarität anbieten können. Altersmilde hat ihm offenbar den Blick weich gespült, denn jahrzehntelang auf Egoismus und Wettbewerb getrimmte und immer wieder abgehängte Menschen werden schwerlich plötzlich von Geschwisterlichkeit beflügelt werden können. Noch dazu, wenn sie keine Gewissheit haben, dass die Fremden das genauso sehen, also gute und anpassungsbereite Gäste sein wollen.
Allerdings, außer der erwähnten katholischen Lösung hat heute die gesamte Linke keine vernünftige Antwort auf globale Migration - früher hätte man noch die Menschen motiviert, ihre Herkunftsländer notfalls mit Waffen selbst zu befreien: nicht nur in Lateinamerika, auch in Mitteleuropa hat es bekanntlich Rebellionen, Revolutionen und immer wieder Freiheitskämpfer gegeben.
Die Migrationswelle 2015 ff. hat natürlich ihre Befürworter. Zuerst die große Industrie, die an preiswerten Arbeitskräften interessiert ist, selbst wenn diese auf Steuerzahlerkosten mühsam und viele Jahre lang qualifiziert und enkulturiert (in eine bestehende Kultur eingebunden) werden müssen, das spricht Bauman an. Und ja: Der Neoliberalismus oder Spätkapitalismus hat überhaupt nichts gegen kulturelle Vielfalt, Durchmischung von Kulturen und so weiter, denn das alles bringt neue wirtschaftliche Chancen und Geschäftsfelder, geordnete stabile sozialstaatliche, statische Verhältnisse stören demgegenüber. Natürlich sind die Postmaterialisten bzw. Multikulturalisten wie die Neoliberalen an Pluralität interessiert, sind sie ja Nachfahren der 68er-Generation, die Berührungsängste mit anderen Kulturen abbauen wollte (oder dies zumindest vorgab).
Doch es gibt noch weit mehr Interessenten, der Leser kann dazu ein kleines Gedankenexperiment machen: Was wäre, wenn alle Migranten schlagartig in ihre Herkunftsländer zurückkehren? Viele Unternehmen und Organisationen würden dann in lautes Wehklagen ausbrechen, denn von der Lebensmittel- über die Telekom-, bis hin zur rasch gewachsenen NGO-Industrie und der Flüchtlingsverwaltung, würden viele Wirtschaftszweige herbe Ertragseinbußen hinnehmen müssen. Dass es steuerzahlerfinanzierte Erträge waren, interessiert dabei nicht. Jedoch zurück zu Freund und Feind.
Soziale Algebra
Nun, Freunde sind die vertrauten Menschen, die ähnlich denken, sich gegenseitig helfen, dabei abgestufte und abgegrenzte Gemeinschaften bilden. Das Entscheidende ist seit Jahrzehntausenden, diese Gruppen geben Sicherheit und gewähren Vertrauen. Feinde sind aus zufälligen oder interessensgeleiteten Gründen jene Gruppen, die den anderen etwas wegnehmen wollen: Land, Macht, Geld, oder Leben. Den Freunden und den Feinden ist allerdings meist eine kulturelle Basis gemeinsam - man kann die Motive des Anderen erkennen und mitunter Konfliktlösungen finden, etwa den Forderungen nachgeben, verhandeln oder einen Dritten die Auseinandersetzung schlichten lassen. Wenn gar nichts mehr geht, dann muss der Feind bekämpft, unterworfen, oder wenn er aufgrund betrügerischer Verhandlungen zum Todfeind geworden ist, schließlich umgebracht, also eliminiert werden. Wir Menschen haben eine tödliche Geschichte solcher feindseliger Auseinandersetzungen im Gepäck und ein Ende scheint nicht abzusehen. Andererseits konnten aus Feinden Freunde werden - bei Fremden geht das nicht, sie bleiben (zumindest lange Zeit) ambivalent, aus den sozialen Koordinaten herausgefallen.
Mitglied der Gemeinschaft, einheimisch und Bürger sein, war in unseren früheren agrarischen Gesellschaften und den Städten meist an eigenen Immobiliensitz gebunden, als Besitzloser war man suspekt, ausgeschlossen, nicht zugehörig. Diese Grundstruktur ist alt und in allen Kulturen vorhanden, eine anthropologische Konstante. Obgleich es immer auch Gruppen gab, die nichtsesshaft, mobil und damit stets als fremd empfunden wurden, die "Zigeuner" oder die Bohème. Für die Bohème: das fahrende Volk der Künstler, war Fremdheit als Problem zwangsläufig wohl weniger schlagend.4
Aufgelöst ins Postmoderne
Baumans "Moderne und Ambivalenz" ist eine vor fünfundzwanzig Jahren publizierte Studie zum Fremden, zur Eugenik - viele Säulenheilige aus Politik, Kultur und Wissenschaft waren Eugeniker, zu den Juden und vor allem zur Postmoderne, in der alle Menschen existentialistisch schließlich einander fremd geworden sind. Nur zur Erinnerung, wir reden dabei über an sich vertraute, berechenbare Nachbarn, Kollegen, Freunde, Zufallsbekanntschaften. Gemeinschaft gibt es im Wesentlichen nicht mehr, alle stehen sich unberechenbar gegenüber - das ist die Tragik der Postmoderne, so Bauman.
(Ideologiekritisch) anzumerken ist, die Mehrheit der Bevölkerung wird das wohl nicht so heftig sehen. Aber diese Mehrheit führt ein Leben im Common Sense, nicht als Intellektuelle, sie treibt ohne viel darüber Nachzudenken im Strom des Alltags. Nun, dessen ungeachtet offeriert der Autor eine schlaue und christliche Lösung. Wenn alle Einheimischen einander fremd geworden sind, fällt der authentisch Fremde nicht mehr auf: Fremdheit ließe sich in Toleranz auflösen. Aber Toleranz genügt noch nicht, es müsste Platz für eine neue Solidarität geschaffen werden. Solidarität mit Anderen gibt es aber wohl nur in einer großen gemeinschaftlichen Gruppe und wenn alle das so sehen, fühlen und empfinden. Ist das nicht der Fall, kann der, welcher vorschnell solidarisch sein will, rasch zum Opfer werden. An einen solchen Neustart als grundsätzlich solidarisch verfasste Menschheit zweifelt letztlich Bauman selbst.
Postmodern domestizierte Bohème
Tatsächlich hat der postmoderne, multikulturell gesinnte Mensch, der an eine pluralistische Welt glaubt, die für alle offen sein möchte, Züge der alten Bohème. Sie möchte sich überall zuhause fühlen, Heimat will, braucht und kennt sie nicht mehr bzw. hat sie durch Soziale Netzwerke ersetzt, Berufe waren gestern, Jobs wechseln heute schnell. Diese postmoderne Bohème ist in den letzten Jahren gewachsen und hat sich als Dominanz beanspruchende Kulturgruppe etabliert, der die Mehrheit der Traditionellen unverständlich gegenüber steht.5
Die einen: Multikulturalisten, also Multikulti- und Diversity-Orientierte, globalisierungsfreundlich, mit vielen für individuell gehaltenen Lebensstilen, grün und linksliberal, Flüchtlingsromantiker, Postmaterialisten, Bobos, bevorzugt in Medien, Kultur, Bildung und Verwaltung tätig. Die anderen: Kulturessenzialisten, also altbackene, kulturgebundene Menschen mit traditionellen Berufen und Arbeitsverständnissen, heute mitunter rechtsaffin geworden, konservativ, Materialisten ohne deshalb zwangsläufig gierig oder geizig zu sein. Zwei große Kulturgruppen in der Gesellschaft, die zusehends feindseliger miteinander umgehen. Postmoderne gegen die alten Modernen (und Modernisierungsverlierer), das könnte noch heftig werden.
Vorhin wurde davon gesprochen, dass selbst der aus der nahen Großstadt Zugewanderte im Dorf beargwöhnter Fremder ist, einer der nicht dazugehört. In der Großstadt ist das allerdings anders, da der einzelne Mensch hier niemanden interessiert. Der langsamere Rhythmus von Land und Kleinstadt ist da ins Gegenteil verschoben, Menschen sind nicht mehr in ihre Umwelt eingewoben (man kann das als Kerker sehen), Wirtschaft funktioniert nicht als persönliche Beziehung, sondern über anonyme Märkte. Überhaupt ist die Großstadt grundsätzlich vom Geld und der Geldwirtschaft geprägt6 und die Menschen sind einander gleichgültig, sie helfen sich im Notfall wesentlich weniger als auf dem Land (zum Bystandereffekt gibt es genügend Literatur).
"Der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens" und "die Anhäufung so vieler Menschen mit so differenzierten Interessen" führen zur "Blasiertheit", zur "Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge" schrieb Georg Simmel schon im Jahr 1903. Heute würde man das wahrscheinlich Überheblichkeit oder Arroganz nennen. Nur durch ihre mit Konsumgütern angefertigten Lebensstile verschaffen sie sich Wahrgenommenwerden, Aufmerksamkeit und Differenzierung. Das klingt annähernd wie eine Beschreibung der Bobo-Szene am Prenzlauer Berg heute und dabei vergisst sie, "dass das Gerede über Sensibilität, Diversität, Individualität und Flexibilität die zeitgemäßen Ideologiesegmente sind, hinter denen sich die aktuelle Ausbeutung gut verbirgt" wie Peter Nowak hier kürzlich schrieb.
Sozialer Druck
"Stadtluft macht frei", hieß es über die mittelalterlichen Städte. Das ist nach wie vor so, in der Großstadt geht es ungezwungener zu, als am Dorf mit seiner dichten sozialen Einbettung und wo alle Alles über Jeden wissen. In der Stadt sind dagegen alle anonym und: Fremde, Auffälligkeiten gehen in der Masse unter. Mit der Flucht in die Stadt konnte man sich im Mittelalter der Macht des Grundherrn und der Enge des Dorfs entziehen, jedoch landete der Landflüchtige in der Abhängigkeit von Geld und Lohnarbeit. Nicht für jeden ist die großstädtische Anonymität und Einsamkeit zuträglich, darum bilden sich in Städten rasch ethnische und soziale Cluster, Slums folgen oft. Sozialer Druck ist in der Stadt subtiler als auf dem Land, da einer die meiste Zeit in der Vielgestaltigkeit der Masse anonym bleibt. Übrigens, für Fremde ist die Assimilation an die passenden ethnischen Cluster in der Großstadt natürlich verlockend, da sie so etwas wie "Heimat" bringt, für eine allfällige Integration in die einheimische Gesellschaft demgegenüber verheerend.
Sozialer Druck stellt überhaupt die wesentliche Form sozialer Kontrolle dar, die von den Gruppen, denen man sich zugehörig fühlt, ausgeht. Man soll bzw. muss sich so verhalten und so denken, wie es von der Gruppe als richtig erachtet wird. Nur das wird mit Anerkennung und Belohnungen gefördert, im Abweichungsfall mit Ablehnung, Missachtung, bis hin zu verbalen Attacken und physischen Gewaltanwendungen bestraft. Man denkt wie seine Gruppe und ist damit einer Mikro-Vermassung auf den Leim gegangen, Groupthink, oder wie es Bourdieu salopp genannt hat: Symbolische Gewalt) ist die ganz alte Form der heute so genannten Filterblase.
Protofaschismus
Gruppendruck kann recht subtil sein, meist entzieht er sich der individuellen Reflexion. Authentische Individualität und Autonomie sind daher unter Menschen nicht im Übermaß zu finden. Obschon sich diese dabei regelmäßig selbst kräftig überschätzen - die große Mehrheit wiegt sich in der Vorstellung, frei im Willen und relativ unbeeinflussbar zu sein. Viele psychologische Experimente seit der Mitte des letzten Jahrhunderts belegen das Gegenteil. Die meisten unterliegen dem Druck zur Konformität, am grauenhaftesten zeigte sich das beim sogenannten Milgram-Experiment (des US-Psychologen Stanley Milgram), bei dem Menschen auf Anweisung eines Versuchsleiters andere mit Elektroschocks (virtuell, da gespielt) hemmungslos bis zum Tod quälten. Soviel zum autoritären Charakter, zum "Nazi" in uns Linken, Rechten, Mittigen und angeblich Meinungslosen.
Bislang hat jede alternative Kulturentwicklung bei diesem Konformitätsproblem, oder wenn man so mag: bei diesem protofaschistischen Autoritätsthema versagt. Die Multikulturalisten (und ihr Vorläufer, die antiautoritäre Bewegung der 68er) haben dieses Problem genauso wie die traditionelle Mehrheit oder rechte Gruppen. Niemand ist da besser, leider. Wir haben unsere Sozialität nicht gut im Griff und zumindest solange wird Baumans Utopieversuch von Toleranz und Solidarität auch Traum bleiben. Mit anderen Worten: solange Sozialer Druck einerseits völlig unaufgeklärt und widerstandslos stattfindet (oder wenn man es emotionaler haben will: wütet), andererseits die Rentenzahlungen und die Infrastrukturkosten und vieles andere klassisch nationalstaatlich geregelt sind (statt von einer menschenfreundlichen Weltregierung), werden Baumans Fremde Fremde bleiben und die von vielen gewünschte Befriedung, Öffnung und romantische Geschwisterlichkeit findet einfach nicht statt.