Das Staatsverbrechen
Seite 2: Eine 36 Jahre dauernde Lüge
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Danach breitete der französische Staat den Mantel des Schweigens darüber: Zwei Tote habe es an jenem Abend gegeben, behauptete die regierungsoffizielle Version in den folgenden 36 Jahren, und diese seien bei "Auseinandersetzungen unter Algeriern" zu Tode gekommen.
Die 1991 erschienenen Bücher der Journalistin Anne Tristan (Le silence du fleuve, "Das Schweigen des Stroms") und des Schriftstellers sowie hauptberuflichen Erziehers Jean-Luc Einaudi (La bataille de Paris, "Die Schlacht um Paris", in Anlehnung an den berühmten Film "La bataille d’Alger") brachten erstmals Licht ins Dunkel. Auch die Antirassismusorganisation MRAP führte einen beharrlichen Kampf um die historische Wahrheit zum Thema.
Anlässlich des Prozesses gegen Papon in Bordeaux publizierte Einaudi in der Pariser Abendzeitung Le Monde im Frühjahr 1998 auch darüber, was der mord(s)eifrige Staatsbürokrat in Paris - dort blieb er noch bis 1967 als Polizeipräfekt im Amt - während des Algerienkriegs getrieben hatte. Maurice Papon klagte dagegen, überzeugt davon, sich noch immer mit seiner Version durchsetzen zu können. Doch ein Pariser Gericht gab ihm Unrecht. Aus diesem Grund bröckelte die Mauer des Schweigens erstmals gehörig ab.
Auch die französische Linke riss sich zuvor in ihrer Mehrheit übrigens zunächst bei dem Thema kein Bein aus. Die Französische kommunistische Partei etwa erinnerte jährlich an die Opfer der Repression im Algerienkrieg, die auch im europäischen Frankreich Tote durch polizeiliche Gewalt forderte.
Allerdings standen in ihrem Gedenken stets die neun Mitglieder von Französischer KP und CGT, die am 8. Februar 1962 bei einer Friedensdemonstration an der Métro-Station Charonne totgeschlagen wurden, vollständig im Mittelpunkt. Auf die aller Wahrscheinlichkeit nach mindestens 200, eher 300 Getöteten, die der Polizeieinsatz knappe vier Monate zuvor forderte, kam weitaus weniger die Rede.
Zum fünfzigsten Jahrestag, im Oktober 2011, war die Sache dann wirklich in Bewegung geraten. Dieses Mal demonstrierten erstmals nicht einige Dutzend oder einige Hundert Menschen wie an den Gedenkjubiläen zuvor, sondern zwischen 5.000 und 10.000 Menschen stundenlang durch Paris. Die französische Sozialdemokratie befand sich damals in einer Urwahl ihrer Mitglieder und Sympathisanten für die Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2012 statt.
Der Bewerber François Hollande profilierte sich an jenem Tag, indem er in einer Presseerklärung seine Absicht bekundete, das Verbrechen anzuerkennen. Ein Jahr später, am 17. Oktober 2012, hielt der nun gewählte Präsident Hollande formal Wort, allerdings nur durch ein dürres Kommuniqué. Doch die historische Wahrheit lässt sich seitdem nicht wieder zurückdrängen.
Macron bricht neue Debatten vom Zaun
Macron, er wurde als erster französischer Staatspräsident erst nach dem Ende des Algerienkriegs (1954 bis 62) geboren, steht zu ihr. Dessen ungeachtet brach er auch er in den letzten Wochen einen erinnerungspolitischen Konflikt mit Algerien vom Zaun. Dazu trugen Äußerungen bei, die Macrons am 30. September dieses Jahres bei einem Auftritt vor Harkis - früheren einheimischen Kämpfern in Frankreichs Kolonialarmee in Algerien - machte.
Dort hatte er behauptet, Algerien sei vor der kolonialen Eroberung ab 1830 (die schon früh mit Massakern und Massenverteibungen einherging) keine Nation gewesen, eine Aussage, die traditionell durch die Lobby der Kolonialnostalgiker als Argument dafür angeführt wird, um zu begründen, warum die Unabhängigkeitsforderung angeblich illegitim gewesen sei.
Ferner fügte er hinzu, das algerische Regime lebe von einer "Erinnerungs-Rente", also von der ideologischen Rechtfertigung durch die angebliche Rolle seiner Entscheidungsträger im Befreiungskrieg von 1954 bis 1962.
Eine inneralgerische - und berechtigte - Kritik an diesem, tatsächlich problematischen, Legitimationsmodus des Regimes gibt es schon seit Langem. Doch vom höchsten Repräsentanten der ehemaligen Kolonialmacht kommend, kann sie nur zu Erzürnung auf algerischer Seite führen.
Ein historischer Schritt nach 40 Jahren
Und auch in Frankreich gibt es eine politische Erinnerungs-Rente im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg: Die Präsidenten Charles de Gaulle und François Mitterrand amnestierten im Juni 1968 und 1982 aus je eigenen innenpolitischen Motiven die Kriminellen der Terrororganisation OAS (Organisation Geheimarmee), die in der Schlussphase der Algerienkriege Massenmorde beging und die in gewisser Weise die Folterfraktion im französischen Staatsapparat mit einer Siedlerbewegung in der europäischstämmigen Bevölkerung in Algerien kombinierte.
Die bürgerliche Rechte - zu ihr zählte damals der jetzige Innenminister Macrons, Gérald Darmanin - verabschiedete ihrerseits am 23. Februar 2005 ein Gesetz, das staatsoffiziell eine positive Behandlung der Kolonialvergangenheit "vor allem in Nordafrika" in Schulbüchern zur Vorschrift erhob, doch das aufgrund von Protesten hauptsächlich auf den zu Frankreich gehörenden Karibikinseln nach einem knappen Jahr zurückgezogen werden musste.
Hier warf also gewissermaßen der Chef des Glashauses mit Steinen. Böse Zungen sahen einen Zusammenhang mit dem einsetzenden Vorwahlkampf in Frankreich.
Heute endlich spricht Macron in einer historischen Premiere deutlich und klar von einem "unentschuldbaren Verbrechen".