Das "Sturmgeschütz der Demokratie" hat seinen General verloren
Zum Tode von Rudolf Augstein (1923 - 2002)
Zwei Tage nach seinem 79. Geburtstag starb Rudolf Augstein am Donnerstagmorgen an den Folgen einer Lungenentzündung. Was publizistische Meinungsmacht auszurichten vermag, hat der SPIEGEL unter Rudolf Augstein jahrzehntelang unter Beweis gestellt. Investigativer Journalismus, der über Wohl und Wehe von Politikern, das korrekte Gedächtnis der Geschichte und schließlich auch über die Wege der Republik mitentschied. Augsteins Journalismusverständnis verband mit der Aufklärung mindestens ebenso nachhaltig das Wissen, konkrete politische und persönliche Macht auszuüben: "Ich habe ja viele vergnügliche Stunden mit Strauß verbracht, hinterher. Aber vorher musste er weg. Adenauer plus Strauß war zu viel" (1998).
Wenn die Rede von einer vierten oder fünften Gewalt im Staate, den Medien, zu belegen wäre, wäre der SPIEGEL im Zuschnitt Augsteins zweifellos das beste Beispiel für eine zwar nicht gewählte, dem eigenen Selbstverständnis nach aber demokratische Gewalt. Wer so viel Macht innehat, wird zwangsläufig auch zum Objekt der Kritik. Und der erste Artillerieoffizier am so genannten "Sturmgeschütz der Demokratie" geriet mehrfach selbst in das Fadenkreuz.
Augsteins journalistischer Ruf und seine politische Integrität wurden nicht erst in den letzten Jahren - etwa anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises im Jahre 2001 - zum Stein des Anstoßes. Seine Kritik des Berliner Holocaust-Mahnmals oder seine Version des Reichtagsbrands schienen den Kritikern eine logische Fortsetzung seiner Personalpolitik, Nationalsozialisten und ehemaligen SS-Leuten die Tore des SPIEGEL zu öffnen, um sie mit leitenden Funktionen zu bedenken.
Die Vergangenheitsbewältigung, die der als "Salonantisemit" diffamierte Rudolf Augstein und sein SPIEGEL, zumindest dem Seitenumfang nach zu urteilen, enzyklopädisch betrieben, gilt den Kritikern nicht als unschuldige Bemühung, wirklich reinen Tisch zu machen. So schillerte das Bild des SPIEGEL zwischen rechten wie linken Vorwürfen, ein "linkes Revolverblatt" zu sein, andererseits eine "männerbündische Schutz- und Trutzgemeinschaft" (Lutz Hachmeister), die nicht nach der parteipolitischen Vergangenheit von Edelfedern fragte, wenn es dem elitären Journalismus dient.
Polarisierung belebt das Geschäft
Ein Nachruf soll keine Abrechnung sein, zumal die lautstarke Kritik an Rudolf Augstein mindestens ebenso parasitär von dessen Prominenz zehrte wie von seinen mitunter nassforschen Äußerungen, die sich zuletzt um journalistische Ausgewogenheit bemühten, sondern geradewegs die Konfrontation suchten. Sein Wort "Die Welt ist so groß, dass alle Irrtümer darin Platz haben" (1984) kann ohne Schwierigkeiten auch als Selbsterklärung, wenn nicht als Selbstverteidigung in eigener Sache interpretiert werden. Und ob diese Konfrontationen nun mehr der Sache oder dem lustvollen Umgang mit der Macht dienten, mag streckenweise unentschieden bleiben.
Rudolf Augsteins investigativer Journalismus war jedenfalls immer auch eine inszenatorisch kalkulierte Aufmerksamkeitsherrschaft, die weder vor drastischen Einschätzungen noch provokativen Bildern zurückschreckte. Augsteins größtes Verdienst bleibt es, kontroverse Öffentlichkeiten angeregt zu haben, die im sattsam bekannten Ausgewogenheitsjournalismus, politisch korrekten Postillen und langweiligem Mainstream kaum eine Chance gehabt hätten.
Polarisierung belebt das Geschäft, das wusste Rudolf Augstein. Die markanteste Polarisierung, die Rudolf Augstein selbst vorübergehend zum vermeintlichen Übeltäter der Republik abstempelte, war die SPIEGEL-Affäre, die endgültig die publizistische Machtstellung des Herausgebers begründete und der Politik Grenzen aufzeigte, die sich nicht in Wahlurnen bildeten. Diesen wilden SPIEGEL-Kampfjahren der Demokratie folgten erheblich ruhigere Zeiten, die Rudolf Augsteins Sprachrohr nicht selten als ein Magazin präsentierten, das kurzatmige Trends zu epochalen Themen aufblies und eine nicht nur politische, sondern auch wissenschafts-belletristische Allzuständigkeit von Hirnforschung bis Quantenmechanik reklamierte. Der Glaube an die Heilswirkungen der deutschen Presse wurden durch diesen Breitband-Journalismus nicht nur befördert.
Rudolf Augstein und auch der kürzlich verstorbene Chef des Suhrkamp-Verlages Siegfried Unseld waren in Wirtschaftswunder-Zeiten groß gewordene Männer, die noch an die Machbarkeit der Verhältnisse glaubten. Dieser selten gewordene Typus wird inzwischen beargwöhnt, autokratisch und machtverliebt das geistige und kulturelle Milieu zu bestimmen. Aber wer könnte behaupten, dass die Republik gerade in ihren selbstkritischen Reflexionen das wäre, was sie heute ist, wenn sie nicht gewirkt hätten?
Doch auch eine Lösung für die Zeit nach Augstein ist bereits gefunden. "Wir werden den SPIEGEL im Sinne Rudolf Augsteins weiterführen, nach seinen Grundsätzen und Vorstellungen: investigativ und kritisch gegenüber den Mächtigen", erklärte Chefredakteur Martin Doerry.
Dieser hehre Vorsatz könnte in einer seit Rudolf Augsteins besten Zeiten stark veränderten Medienlandschaft ein frommer Wunsch bleiben. Glaube und Nachfrage gegenüber dem Geist in der Presse haben gelitten und weichen vielleicht vollends den journalistischen Standards des erlebnisorientierten Sofortverzehrs (Der Geist in der Presse). Wenn auch Marcel Reich-Ranicki befindet, in einem Deutschland, in dem es keinen SPIEGEL gäbe, nicht leben zu wollen, ist der SPIEGEL heute längst nicht mehr die Instanz, die er zu den Hochzeiten Rudolf Augsteins einmal war.