Das Unbehagen an der Wirklichkeit
Produktive Einbildungskraft als Medium der Realität
"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."
Immanuel Kant
"Der bestirnte Himmel über mir" ist für den Kosmologen Immanuel Kant mehr als eine Sphäre astronomischen Erstaunens über die Grenzenlosigkeit der Welt. Das Nachdenken über diesen erhabenen Metaraum löst bei ihm Bewunderung und Ehrfurcht aus, weil er hier etwas bekommt, was ihm "die Metaphysik, in welche ich das Schicksal habe, verliebt zu sein"1 , nicht gibt. Im Gegensatz zu Kant, der in seiner "Theorie des Himmels" detailreich über die Beschaffenheit der "Einwohner verschiedener Planeten" zu räsonieren wusste2 , stand für den Weltraumhorror-Spezialisten Howard Phillips Lovecraft fest, "dass die gewöhnlichen menschlichen Gesetze und Gefühle in dem ungeheuren Kosmos weder Gültigkeit noch Bedeutung an sich haben."3 Wurde das All etwa nur als überdimensioniertes Objekt der Einbildungskraft geschaffen, als unbegrenzter Projektionsraum, um in der Nachfolge der Religion von Philosophen und SF-Autoren vermessen, verwaltet und durchfahren zu werden, ohne allzu über präzise Zuständigkeitsverteilungen sehr zu reflektieren. "Und das Ironische daran, dachte er, ist die Tatsache, dass die Leute sagen, Gott habe niemals vorgesehen, dass die Menschen ins Weltall reisen."4
"Ich" ist ein Alien
Vor Erfindung interstellarer Reisen fallen frühe Wahrheitssucher wie Thales von Milet als praxisferne Sterngucker in den Brunnen, während SF-Erzähler als professionelle Sternenwandler dem Aufenthalt in der "wirklichen Wirklichkeit" nicht viel Zeit schenken. Zu viel Schwerkraft und Rückbindung an irdische Kontexte gilt in beiden spekulativen Zünften als Makel. Philosophie und Literaturwissenschaft lassen sich indes längst nicht den kategorialen Unterschied zwischen vornehmen und weniger vornehmen Gattungen nehmen, wenn es um die eminent politische Frage geht, welche Phantasie eine Gesellschaft sich leisten will. Platon, Thomas Morus (Utopia, 1516), Tommaso Campanella (Civitas solis - "Sonnenstaat",1602), cum grano salis auch Henri de Saint-Simon und Charles Fourier ("Universale Harmonie", 1803) gehörten als Autoren von Staats- und Gesellschaftsutopien nicht zu den üblichen Verdächtigen der literarischen Underdog-Gattung "Science Fiction". Die traumverlorenen Sucher der blauen Blume, so weltentrückt ihre sehnsuchtsvollen Perspektiven in ein verklärtes Mittelalter und eine durch und durch artifizielle Natur auch waren, wurden respektiert, weil ihre Einbildungskraft literarisch kanonisiert, toleriert und eingefriedet werden konnte. Diese utopischen, romantischen und tele-sophischen Prospekte blieben eher folgenlose Meistertexte. Eine so gravitätisch wie schwerfällig sich bewegende Philosophie bot keine Imaginationen, die als politisch pragmatische Empfehlungen für Tyrannen oder Revolutionäre hätten gelten können, oder gar Visionen für eine avantgardistische Technik geboten hätten. Tommaso Campanella etwa schuf in über zwanzigjähriger Haft eine imaginäre Sonne, die allein ihm in seinem Verlies, dem Ort seiner literarischen Produktivität und politischen Machtlosigkeit, schien. Eine wirkliche Sonne tauscht dagegen niemand ein.
Die klassischen Utopien der Philosophie scheitern nicht nur beim Leser, weil sie schlecht begehbare "Toposophien" ohne reale Akteure präsentieren. Plätze für alle und keinen, denen das wirkliche Drama, der Mensch und seine Katastrophengeschichte, fehlt. Die Welt ist alles, was der Unfall ist, und in dieser Hinsicht ist eine technisch, vielleicht auch ethisch bzw. (post)human fortgeschrittenere Zukunft wohl kaum überraschungsresistent. Die unzähligen Alternativ- und Parallelweltentwürfe der Science-, Social-, oder Speculative Fiction berühren Menschen emotional tiefer, versetzen die menschliche Existenz und deren Zukunft in brisante Beziehungen und deklinieren die Abstrakta der Philosophie für alle Fälle durch. Philip K. Dick rekurriert auf Kants5 "Kategorien der Wahrnehmung", um die Wirkung einer "detemporalen" Droge zu erläutern. In spekulativen Erzählungen erfahren wir, wer sich hinter dem "stranger in a strange land" und den Geschöpfen bizarrer Welten verbirgt: Das alieneske, unheimliche Ding aus einer anderen Welt oder aus den Tiefen des Weltraums sind insgeheim oder explizit wir, bis hin zu unwahrscheinlichen Wesen, die psychologisch erst den wahren Sinn machen, der in den gelifteten Menschenbildern unserer narzisstischen Gesellschaften permanent unterschlagen wird - etwa jenes Mädchen, deren parapsychologisch unheimlicher Bruder in ihrer Hüfte wohnt und ihr von den Toten und den Lebenden gleichermaßen die erstaunlichsten Geheimnisse mitteilt.6 Gibt es noch ganz andere Zombies, Symbionten und Gespenster in der Maschine "Mensch" als jenes Gespenst, von dem Descartes redet und das sein Kritiker Gilbert Ryle dem Menschen wieder austreiben wollte? Erst hier entfaltet der inzwischen zum Gemeinspruch verkommene Satz von Arthur Rimbaud respektive Jacques Lacan seinen relativen Schrecken: "Ich ist ein Anderer." Aber nicht, weil das Ich sich selbst im Spiegel verfehlt oder "unrettbar" (Ernst Mach) wäre, sondern weil das Ich auch bloß eine historisch fragile, wankelmütige Konstruktion ist, die nie in ihrer konkreten Gestalt ohne die zugrunde liegende Welt entstehen würde. "Der Glaube an die Wirklichkeit außer mir entsteht und wächst mit dem Glauben an mich selbst; einer ist so notwendig als der andere; beide - nicht spekulativ getrennt, sondern in ihrer vollsten, innigsten Zusammenwirkung - sind das Element meines Lebens und meiner ganzen Tätigkeit."7
Was gilt aber, wenn der Glaube an die Wirklichkeit diesmal auf nicht mehr kartesianisch zu besänftigende Zweifel stößt? Diese Wirklichkeit, die mit unserem vordergründigsten Authentizitäts- und Selbstgefühl evolutionär verlötet ist, könnte auch nur ein technisch reproduzierbarer Schein sein, der so lange notwendig für die Ausbildung des Individuums ist, wie die technische Verfassung der Welt keine besseren Entitäten als eben dieses - inzwischen völlig überlastete - Individuum kennt. Wer gegenwärtig noch die Differenzen von realen und fiktiven, wirklichen und virtuellen Zuständen aufrechterhalten will, gerät in Beweisnot. Der immer nachhaltigere Angriff auf die Wirklichkeit setzt mit Macht in dem Moment ein, in dem Wissenschaften und Technik, Philosophie und Literatur ohne virtuelle und immaterielle Zustände ihre Zuständigkeiten nicht mehr behaupten können. "Les immatériaux" sind als ständige Begleiter unserer technischen Welterschließung mitten unter uns. Die Virtualität, seit je Teil der bisher produktivsten Phantommaschine "Hirn", hat die glänzendste Anwartschaft, in einer technisch aufgerüsteten Zukunft sämtliche Lebensbereiche so zu durchdringen, dass die "wirkliche Wirklichkeit" nicht einmal mehr als Reminiszenz taugt.
Die Ver-rückung der Welt
Höre immer auf den Rat der Experten! Sie sagen dir, was auf keinen Fall geht und weshalb es nicht geht. Wenn du das weißt, mache dich an die Arbeit!
Robert A. Henlein
Philosophen redeten über das obskure Objekt ihrer Wissbegierde in vielerlei, aber regelmäßig imaginärer Gestalt: "Die höchste Glückseligkeit" (Thomas von Aquin und andere), das "zweifelnde Ich" (Descartes), die "reine Vernunft" oder der "kategorische Imperativ" (Kant), der "absolute Geist" (Hegel). Das sind alles prominente Produkte der weltschöpfenden Einbildungskraft, die in den phantastischen Räumen der Philosophie die wichtige Funktion hat, das so unübersichtliche Mobiliar in eine sinnfällige Ordnung zu bringen und auf den Begriff zu treiben.
Das Denken erweist sich darin selbst als eine notwendige Form der "Ver-rückung", als eine auch psychologisch notwendige Translozierung des Beobachters, der sich durch ein anderes Begriffs- und Kategoriensystem privilegierte Wahrnehmungen, Hypothesen und Erkenntnisse eröffnet. Philosophen und Geisterseher arbeiten mit denselben Instrumenten, sie sind lediglich verschiedene Charaktere. Gerade für das philosophische Denken gilt die Erklärung von Steven Weinberg: "Die Welt ist zumindest teilweise so, wie sie ist, weil es sonst niemanden gäbe, der fragen könnte, warum sie so ist, wie sie ist."8 Die Welt als bloße Benutzeroberfläche ist selbst jenen nicht genug, die das Lob des Scheins vor das Wesen stellen. Welterkenntnis ist Verfremdung, Fremdwerden, Bereitschaft für das Phantastische, Monströse und den Sprung in "unvordenkliche" Zeiten oder zu archimedisch weit entfernten Hebelpunkten der Erkenntnis. Platons Kino-Höhle ist dunkel, der Philosoph inszeniert sich dort als Platzanweiser und Vorführer, der den Film schon unzählige Male gesehen hat. Nietzsche mutiert in seinem alter ego "Zarathustra" expressis verbis zum Zeitreisenden. Friedrich Nietzsches respektive Zarathustras Spießgesellen sind jene sagenumwobenen Hyperboreer, zu denen sich auch - allerdings mit finsteren Absichten - H.P.Lovecraft in seinem Cthulhu-Mythos bekannte. Warum aber stürzen sich Philosophen und Erzähler immer wieder in dieses vorgeblich verzerrende Panoptikum der Phantastik? Warum werden irrwitzige Perspektiven gewählt, die alleine mit von ferne auf den Planeten Erde gerichteten Teleskopen eingenommen werden können? Nicht nur Systemstürmer wie Nietzsche umgaben sich mit sagenhaften, gespenstischen oder fremdartigen Geschöpfen, um ihre Einbildungskraft produktiv werden zu lassen. Selbst der kaum je über die Vernunft hinaus delirierende Immanuel Kant bemühte fortwährend Aliens9, um seine Erkenntnisse einem außerirdischen Härtetest zu unterwerfen, der ihre Objektivität über die Zufälligkeit unser Welt und ihrer Geschöpfe hinaus erweisen sollte.
"Eine theoretische Erkenntnis ist spekulativ, wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann."10 Ob es solche von Kant imaginierten Gegenstände allerdings überhaupt geben kann, müssen unbeirrbare Empiristen bezweifeln, denen alle Erkenntnisse erfahrungsgesättigt erscheinen. Demonstrieren die Weltschöpfungen von E.T.A. Hoffmann, Kurd Lasswitz, Philip K. Dick, Stanislaw Lem oder anderen Großmeistern der Imagination nicht, dass der Unterschied zwischen Erfahrungswelten und imaginären Schöpfungen auch nur ein Vorurteil sein könnte? Es handelt sich um jene Erfahrungen der anderen Art, die sich aus Träumen, halluzinogenen Stoffen, im wörtlichen und übertragenen Sinne, und einer nicht domestizierten Fantasie auf der einen Seite, aus extrapolierter Wissenschaft, kühnen Verkopplungen kultureller, sozialer wie technischer Phänomene auf der anderen Seite bilden. Wir reden von jenen Erfahrungen, die mit imaginären Sinnesorganen in imaginären Welten gewonnen werden. Nach Immanuel Kants Moderierungsversuch gegenüber erfahrungslosen Welterschließungen gelangt das Spekulative bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel zu allerhöchster Anerkennung. Es ist das dialektisch versierte Geschäft einer sich selbst reflektierenden Philosophie: "...und alles Wahre, insofern es begriffen wird, kann nur spekulativ gedacht werden".11 Wie arm erscheint dagegen jede buchhalterisch anmutende Korrespondenztheorie, die sich mit dieser wilden Wahrheit als genuinem Geschöpf der kühnsten Spekulation messen will. Wenn selbst die Logik mehr als Logik ist, nämlich eine Form des phantastischen Denkens, stehen die Einfallstore zur Welt des Phantastischen für mutige Philosophen offen: "Die Phantasie ist der Mittelpunkt, in welchem das Allgemeine und das Sein, das Eigene und das Gefundensein, das Innere und Äußere vollkommen in eins geschaffen sind."12 Was Hegel als Selbstharmonisierung der Welt begreift und was sich jedenfalls in seinen phantastischen Begriffssymmetrien auf das Wunderbarste erfüllt, wird anderenorts in schwer wiegender Weise inkriminiert.
Die Ohren des Odysseus
Ich habe nichts gegen eine Wahrsagerin, die den Leuten etwas vorflunkert. Eine echte Seherin dagegen sollte man abknallen wie einen tollen Hund. Kassandra bekam noch viel zu wenig ab.
Robert A. Henlein
Dem Skeptiker David Hume gefallen frei schwebende Ausflüge in das Wunderreich der sprudelnden Begriffe und spekulativ hochdimensionierten Systembauten nicht. Er misstraut der an sich selbst berauschenden Phantasie, die dem analytischen Verstand dämonisch, launisch und überhitzt anmutet. Kurzum, unbrauchbar für echte Denker: "Die Einbildungskraft des Menschen ist von Natur hochfliegend, entzückt sich an allem Entlegenen und Außerordentlichen und stürmt ohne Aufsicht in die weitesten Fernen des Raumes und der Zeit, um den Gegenständen aus dem Wege zu gehen, welche Gewohnheit ihr allzu vertraut gemacht hat."13 Hier regen sich die alten und ältesten Ängste, auf den von der Vernunft sonnenbestrahlten Wegen vom dunklen Anderen einer phantastischen Vernunft14 weggetragen zu werden. Die Phantasie braucht Aufsicht, keine Aufklärung. Friedrich Schiller, der in seiner kantianischen Ordnung Halt sucht und gleichwohl als Dichter den sensualistischen Weltkontakt nicht aufgeben kann, belegt das "gehaltlose Spiel der Vorstellungskraft", das vom klassischen Ideal wegführt, mit dem schärfsten Verdikt: "...der Phantast verlässt die Natur aus bloßer Willkür, um dem Eigensinne der Begierden und den Launen der Einbildungskraft desto ungebundener nachgeben zu können... Der Phantast verleugnet also nicht bloß den menschlichen - er verleugnet allen Charakter, er ist völlig ohne Gesetz, er ist also gar nichts und dient auch zu gar nichts."15 Schiller wütet, stürmt und drängt gegen die "Phantasterei"16 als "Ausschweifung" der Freiheit, weil sie geeignet ist, sein erhaben restriktives Vernunftideal einzureißen und vom Imaginären überfluten zu lassen. In der alltäglichen Lebenspraxis haben Menschen indes nie vergessen, dass die ungefilterte Wirklichkeit ohne ihre phantastische Auspolsterung, Fortführung und Überbietung, den Wirklichkeitspanzer der Imagination, nicht auszuhalten wäre. Mit einem Wort: Nicht das Ganze, sondern die Wirklichkeit, die nicht in der Einbildungskraft vermittelt wird, ist das Unwahre. Des Klassikers fundamentalste Angst dagegen gehört zu einer alten Geschichte, den bildschöpfenden Apparat zu verdrängen, weil "Ich und Welt", "Mensch und Zivilisation" in die Strudel des Phantastischen hinuntergezogen werden könnten. In diesem Angriff der Klassik auf das Phantastische erweist sie sich selbst als "Phantasterei", die "Natur und Erfahrung" unterschlägt und den Menschen verfehlt. Es wird erst zur unhintergehbaren Erkenntnis der Psychoanalyse, zu ihrem Credo und Markenzeichen, dass es keine frei schwebenden phantastischen Zustände geben kann, so wenig in den permanenten Ausdeutungen noch der banalsten Alltäglichkeiten Hardcore-Phantasten wie H.P.Lovecraft darin etwas anderes als "puerilen Symbolismus" erkennen.17 Die Einbildungskraft kann aber seitdem nicht mehr mit der zivilisatorischen Angst vor delirierenden, welt- und sinnflüchtenden Subjekten als tendenzielle Störung der Vernunft verdächtigt werden. Und es kommt noch schlimmer: Das posthumane Superwesen "Golem", das ohne das Korsett einer personalen Struktur existiert, kann nun sogar erklären, dass alles das, was als "blanker Unsinn" erscheinen will, besondere Aufmerksamkeit verdient, weil es die Natur der Welt vor ihrer technologischen Selbstwerdung beschreiben könnte.18 Novalis gab dazu schon früh das ahnungsvolle Leitmotiv aus: "Die vollendete Spekulation führt zur Natur zurück."19
Philip K. Dick, dessen Erzählungen häufig Fortführungen philosophischer Problemstellungen sind, fürchtet nicht die von Schiller perhorreszierte Phantasie, die sich scheinbar wahllos ihre Gegenstände sucht und schafft. In den nicht zu Ende erzählten Prospekten der Philosophie liegt für ihn ein Teil der Antworten auf mögliche Welten, ihre Potentiale und Katastrophen. So entwirft er in "Ubik" eine Welt, die so verkehrt läuft, dass wir unsere Wirklichkeitsbaustoffe nur noch als unverbundene Momente einer zerfallenden Welt erkennen. Die Wahrnehmungen der in ihr lebenden Wesen sind nicht mehr in "prästabilierter Harmonie" verbunden. Dick parodiert den subjektiv radikalen Idealismus des Bischofs George Berkeley, in dem sich jeder seine (Wahrnehmungs)Welt nicht nur subjektiv selbst schafft, sondern objektiv inkompatible Welten aufeinanderprallen. In schlecht verfugten Welten kann es schließlich - auch ohne Terroristen - zum Supergau der Ideen kommen: Wenn Platon Recht hat - Dick zitiert ihn wie auch Berkeley ausdrücklich - bedeuten Regression und Demontage einer Welt, dass sie in ihre Universalien zurückkriecht. Sie kehrt zu ihren Ideen zurück, während deren sinnliches Scheinen dem Wärmetod erliegt. Auf das "ubique", das Allgegenwärtige der Wirklichkeit, diesen gnädigen Zusammenschluss der Menschen und der Dinge in ihrer "kompossiblen" Welt, der Gottfried Wilhelm Leibniz so viel Gottvertrauen entgegenbrachte, kann man sich nicht mehr verlassen. Der paranoide Zweifel an der Wirklichkeit, den mit immer neuen Virtualisierungsschüben nun auch der Frömmste nicht mehr ignorieren kann, beruhigt sich auch nicht länger in der Rückbesinnung des Zweifelnden auf sich selbst. Wenn Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Tod und Leben nicht mehr zu trennen sind und unheimliche Zwischenzustände Menschen an ihrer "conditio" irre werden lassen, muss nach Dick jeder selbst zum besseren Philosophen werden: Wenn ich denke, dass ich denke und also bin, kann schon der nächste Moment erweisen, dass ich bereits tot war, als ich das dachte. Ist das verrückt? Im Traum wissen wir doch auch, dass man mit Toten reden kann, ja selbst tot und lebendig zugleich sein kann. Lewis Carrolls "Cheshire Katze", deren Grinsen im Baum hängen bleibt, aber vor allem Schrödingers Quantentheorie-Katze kennen diese Zustände als gewöhnlichsten Teil ihres Seins.
Science ist Fiction
Lassen sich Alltagsverstand, Wissen und Wissenschaft einerseits, Einbildungskraft, Spekulationen und frei flutende Phantastik andererseits wirklich diskret bis kategorial trennen? John Locke bewegte noch diese Frage, der er keinen geringen Reflexionsaufwand widmet: "Und wenn es einen mäßigen und weisen Mann giebt, wie unterscheidet sich denn nach Ihren Regeln sein Wissen von dem der ausgelassensten Phantasie?"20 Wissen und Phantasie sind inzwischen in den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, so eng liiert, dass Lockes Frage mehr denn je in das kategoriale Elend stößt. Die neuen und neuesten - uns von der Theorie und nicht von den Sinnen aufgedrängten - Wahrnehmungsverhältnisse sind alles andere als dem angemessen, was uns als stammesgeschichtliches Überlebensmodell vorprogrammiert ist. Wer den subatomaren Verrückungen und Verrücktheiten der Materie beikommen will, muss sich Niels Bohr zufolge sogar die ausgelassenste Phantasie leisten. Marvin Minskys Bekräftigung, die eigentlichen Philosophen des 20.Jahrhunderts wären die Autoren der Science Fiction, die das auf dem Reißbrett ihrer Phantasie vordenken, was sich notwendig in Gesellschaft und Wissenschaft vollzieht, ist (noch) eine Mindermeinung. Doch Science Fiction wird von der Naturwissenschaft längst unter immensen Phantasiedruck gesetzt. Quantenkosmologen wie Stephen Hawking, die mit einer unendlichen Zahl von Welten mit unterschiedlichem Wirklichkeitsgehalt und anderen physikalischen Gesetzen rechnen, leiden nicht an Phantasiearmut. Wer wie der Nobelpreisträger Eugene Paul Wigner die Wellenfunktion der Teilchen für den Ausweis kosmischen Bewusstseins hält, kann "Solaris" nicht länger für besonders spekulativ halten. Der auf Grund der Anmutungen einer undurchschaubaren Welt gerichtete Generalverdacht gegen spekulatives Denken, die notwendige Bodenhaftung menschlicher Existenz ohne Not aufzugeben, löst sich in dem Moment auf, wenn "Science" und "Fiction" - über die unabdingbare Kreativität des Wissenschaftlers hinaus - eine notwendige, unauflösliche Beziehung eingehen. Das Quanten-Labor gefällt sich schon lange als die Matrix einer unabsehbaren Fiktionalisierung, die eben durch den immer neuen Erklärungsnotstand gegenüber Phänomenen, die dem Alltagsverstand so völlig zuwider laufen, ausgelöst wird: "Die Welt ist alles, was der Fall ist und auch alles, was der Fall sein kann."21 Kann man dann überhaupt noch die Begrifflichkeit von "Welt" und "Wirklichkeit" gebrauchen, wenn der wissenschaftlich hochgerechneten Totalität jede Grenze abhanden kommt?
Das ist nicht ohne Präzedenz: Hugh Everett wiederholte mit seiner phantastischen Theorie der "Vielen Welten" den Glauben Giordano Brunos, den auch einige Vorsokratiker schon ähnlich geäußert hatten, dass die Erde kein sonderlich exklusiver Ort ist. 1957 lief Everett nicht mehr wie Giordano Gefahr, dafür zumindest in dieser grundlos in sich selbst verliebten Welt verbrannt zu werden. Nach seiner Theorie existieren auf Grund der Quantenbewegungen unzählige Welten, die sich nur in winzigen Varianten oder fundamental von diesem Universum unterscheiden. Schlimmer kann man das über Jahrhunderte unumstößliche Ideal der Naturwissenschaft nach Einfachheit, Klarheit und Wiederholbarkeit ihrer Wirklichkeitsnachbildungen nicht provozieren. Zu diesem Punkt der größtmöglichen Abundanz, den jede mit "Ockham‚s razor" beschnittene Wissenschaft provozieren muss, kann man auch anders gelangen. Frank J. Tipler nimmt Bezug auf den Ideengeschichtler Arthur O. Lovejoy. Demnach impliziert das theologische Prinzip der Fülle, dass "keine echte Seinsmöglichkeit unverwirklicht bleiben darf".22 Frank J. Tipler führt die Physik zur Auferstehung der Toten zum ewigen Leben auf etwas andere Weise, als es die Religionen bisher eher blässlich schildern. Für ihn verspricht die Theologie als Zweig der Physik die Wiederauferstehung in der Weise, dass Individuen in Computern der Zukunft emuliert werden. "Die Physik hat nun die Theologie absorbiert; die Trennung zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Vernunft und Gefühl, ist überwunden."23 Während Tipler sein Paradies in der Emulation im zukünftigen Computer erreicht, gelangen andere Physiker mit Zeitmaschinen und/oder über Wurmlöcher an solche Punkte einer gegenwärtig unvorstellbaren und eben doch vorstellbaren Zukunft. Solche Theorien machen ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Reputation sofort klar, dass die Fiktionalisierung der Wissenschaft zum genuinen Geschäft der Wissenschaft selbst wird. Novalis spekulierte darüber, ob jede Wissenschaft vielleicht nur "eine Variation der Philosophie" sei24. Wichtig ist nicht die Wahrheit solcher universalisierenden Theorien, zum wenigsten in ihren mitunter bizarren Details, sondern die Potenzierung einer Phantasie, die vordem der Theologie, Philosophie oder Literatur vorbehalten schien und sich nun so promiskuitiv mit den vormals exakten Wissensformen des Menschen einlässt.
Ganz entspannt im Hier und Jenseits
Kommt mit dem Verlust der Zentralperspektive zu allen übrigen narzisstischen Menschheitskränkungen nun auch noch die, in irgendeiner von unzähligen Geschichten in irgendeinem Universum zu leben, ohne dass die geringste Hoffnung bestünde, in den Strom einer alle und jeden erlösenden Universalgeschichte nebst verlässlichem Heilsversprechen zu münden? Hier vertreibt der Neandertaler den Homo sapiens, dort siegt Hannibal in und nicht vor Rom, hier wird Jesus nicht geboren, dort stirbt ein Genie im Kindbett, hier...ad libitum. Selbst solche historischen Alternativmythen und Geschichtsvarianten lassen sich noch leicht überbieten: Die Evolution präferiert die Insekten und die Menschheitsgeschichte startet erst gar nicht im Urschlamm, es kommt zur Dynastie der Bienenköniginnen, deren Weltwissen uns nicht mehr mitteilbar ist, so sicher dort der Begriff "Demokratie" nicht entsteht. Gibt es Uranbarrieren, die Zivilisationen daran scheitern lassen, dass die Energien nicht mit den sozialethischen Dynamiken korrelieren? Kurzum, der Mensch wäre zu dumm, um so mächtig zu sein, wie er scheinbar ist. Scheitert die Fortführung des euphorisch einst begrüßten Vernunftprojekts "Sapere aude", weil die Baureihe "Hirn" biotechnisch an ihr kognitives und moralisches Ende gelangt ist, so wie das Außenskelett die Insekten zwar artenreich, aber nicht entwicklungsfähig gemacht hat25. Sollte das "Projekt Aufklärung" als Unterabteilung des Schöpfungsprojekts schlicht an seinen eigenen technischen Voraussetzungen bzw. der Weltkonstruktion zu Grunde gehen? Sind die Aminosäuren alles schuld? Oder findet die Schöpfung überhaupt erst gar nicht statt, da Schöpfer - als über die Zeiten und die Räume erhabene "Präkogs" von Martin Luthers oder Philip K. Dicks Gnaden - inzwischen "a priori" wissen sollten, dass es so schwer ist, erfolgreich zu sein und für das aus unzähligen Kontingenzen konkret gewählte Programm auch wirklich von den jeweiligen Protagonisten dafür geliebt zu werden.
In dem ersten großen Parallelwelt-Roman "Das Orakel vom Berge" von Philip K. Dick geht es nicht mehr nur schlicht um die für Menschen konstitutive Frage "Was wäre wenn...?" Dick thematisiert das Problem, ob diese Welt, die wir zuvor als einzige ansahen, irgendeinen realen Vorsprung vor möglichen anderen Welten hat. Ist die Plausibilität der Welt, in der wir leben, nicht vielleicht sogar geringer anzusetzen als die jener Welten, in der die Geschichte anderen Perspektiven folgt? Für Dick ist das "Orakel vom Berge", das als Fiktion in der Fiktion den Sieg der Alliierten im 2. Weltkrieg mit einigen Modifikationen zu der uns bekannten Geschichte verheißt, plausibler als die fiktiv-reale Ausgangswelt des Romans, in der das Dritte Reich und das kaiserliche Japan sich den Globus aufteilen und am Abend eines dritten Weltkriegs gegeneinander stehen. Der Autor hat in der - von zwei Kapiteln abgesehen - nicht ausgeführten Fortsetzung seines epochalen Romans darüber spekuliert, dass die vorgefundene Welt, das heißt die fiktiv-reale, in der die Faschisten gesiegt haben, der fiktiv-fiktiven Welt des apokryphen Schriftstellers, in der die Nazis verlieren, zur Hilfe eilt. Mit anderen Worten: Der siegreiche Göring schickt dem Verlierer Göring seine Flugzeuge, um doch noch den Luftkampf über England zu gewinnen, indem diesmal nicht die Zivilbevölkerung, sondern die Radaranlagen bombardiert werden.
Dieser Austausch von Welten bis hin zu interdimensionalen Treffen und Überlagerungen ist ein hartnäckiges Thema der SF, das als Indiz gelten darf, dass der zuvor so eherne Glauben beschädigt ist, unser Weltaufenthalt könne sich auf gesicherte Raum-Zeit-Identitäts-Verhältnisse zurückziehen. Das "Unbehagen an der Kultur" (Sigmund Freud) entgrenzt sich in ein fundamentales Unbehagen an der Wirklichkeit - so wenig das ohne eine Vorgeschichte ist. Dass die Einbildungskraft realer als die Realität werden könnte, dass die halluzinogenen Zustände härter konturiert sind, als es das wachende Auge je zulassen würde, ist ein altes Motiv magischer, surrealer und eben phantastischer Literatur und Kunst, die lange vor der Moderne einsetzt. Es geht paradigmatisch um jenen Hyperrealismus, etwa im "Drommetenrot" des Meisters Salimbeni, "in dem die Sonne leuchtet am Tage des Gerichts."26 So wollten Salvador Dali oder Max Ernst ihre späten Höllenbreughel-Nachtflüge gestalten, um mit künstlichen Medien die Pforten der Wahrnehmung, nicht bloß die der diffusen Halluzinationen, weit aufzustoßen. Unser "wirklicheres Dasein" ereignet sich dieser Welterschließung nach im Traum, während das alltägliche Sein "das zweitrangige oder bloß virtuelle Phänomen" ist27. Rein irdische Maßstäbe und menschliche Sinnesorgane reichen da nur höchst selten hin, weil sie die Sinne moderieren, temperieren und letztlich hinter tausend Filtern korrumpieren, um zu jenem armseligen Begriff von "Wirklichkeit" zu gelangen, den wir (noch) unserer alltäglichen Praxis zugrunde legen.
Produktive Einbildungskraft
Muss die begriffsorientierte Vernunft die Phantasie zügeln? Oder entspricht der philosophisch, literarisch oder künstlerisch phantastische Vorgriff auf das zukünftige "Aleph" des Wissens und der Wahrnehmung nicht den Bewegungsgesetzen der Vernunft selbst, die sich von virtuellen zu realen Zuständen und wieder zurück bewegt - in einer ewigen Pendelbewegung zwischen dem Vorgefundenen und dem zu Erfindenden, weil man nicht das begreifen und überschreiten kann, was man nicht zuvor imaginiert hat? Die Geschichte der Phantasie präsentiert nicht nur in der Spannung zwischen Romantik und Klassik ambivalente Züge: Einerseits wurde die Phantasie verdächtigt, eine Kompensationsinstanz der Wirklichkeit, mit Tendenzen zur Weltflucht zu sein. Andererseits gilt sie als die vorzüglichste Quelle der produktiven Aneignung von Wirklichkeit oder Weltschöpfung.28 Philosophen hatten fast immer immense Schwierigkeiten, der gefährlich produktiven Einbildungskraft einen Platz in der Organisation von Erkenntnis und Wahrnehmung zuzuweisen, ohne je ihre hervorragendste Kraft respektive ihre selbstverständlichste Magie in Abrede stellen zu können, das nicht Anwesende anwesend zu machen. Immanuel Kant etwa schwankt zwischen der produktiven Einbildungskraft als der "reinen Form aller möglichen Erkenntnis" und ihrem bildschöpfenden Risikopotential für eine um Ordnung bemühte Vernunft.29 Im zukunftschaffenden Vermögen der transzendentalen Voraussetzungen des Erkennens trifft sich Immanuel Kant mit Stanislaw Lem: "Denn die Vernunft, sofern sie ihre eigenen Prinzipien in Frage stellen kann, muss über sich selbst hinausgehen - zunächst nur in Träumen, ohne es zu glauben oder gar zu wissen, es könne ihr eines Tages wirklich gelingen."30 So wie die Linie nach Immanuel Kant erst gezeichnet werden kann, nachdem sie zum Vorstellungsbild wurde, gibt es für Stanislaw Lem den Flug erst, wenn zuvor vom Fliegen sinnlich präzise geträumt wurde.
Mit fortschreitenden Technologien geraten Zeit und Raum, Sein und Welt, aber auch späte Konstrukte wie "Ich" und "Gesellschaft" immer stärker in virtuelle Dynamiken, die einer strikten Quarantäne der explosiven Einbildungskraft im SF-Superbiotop spotten. Phantasie als ein produktives Medium, das nicht länger nur vom zufälligen Geistesblitz, sondern von exponentiell beschleunigten Rechenkapazitäten lebt, wird zum übergreifenden Leitprogramm einer Welt, die ihre vormals gesicherten Bodenstationen des Wissens verlassen muss. Die prominente Formel der französischen Studenten 1968 "Phantasie an die Macht" ist nicht nur eine politisch provokative Parole, die "verdinglichte bürgerliche Gesellschaft" in mehrfacher Hinsicht zu liquidieren und tanzen zu lassen, sondern knüpft unmittelbar an Novalis' romantische Enzyklopädie an31. Für Novalis sind seine "Reisen durch das Weltall" allerdings keine SF-Prospekte, sondern vor allem Innenweltreisen, denn da liegen die "Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft."32 Die produktive Einbildungskraft als neues Kampfinstrument sollte die äußere Wirklichkeit dagegen politisch bestimmen, die Kreativität nicht länger nur der dichterisch unverbindlichen Phantasie vorbehalten, sondern tief in den Alltag eindringen und verwandeln. Was politisch nicht funktionierte, könnte als technisches Programm ein erfolgreicheres Schicksal erfahren, denn Wirklichkeit ist nichts anderes als "fortschreitende Erfindung"33. Mit der Entfesselung von immer neuen Funktionen einer berechenbaren Welt wird eine künstliche Einbildungskraft, die noch wichtiger als eine künstliche Intelligenz sein könnte, zu einem nicht länger von Genie und Zufall abhängigen Vermögen. Der scheinbar unhintergehbare Prozess der "Entzauberung der Welt" durch eine rationalistische Wissenschaft, die Magien und Mythen auf natürliche Wirklichkeitsmuster zurückführt, kollidiert nun mit einer neuen "Verzauberung", die das Erstaunen gerade in die vorgeblich vom Mythos gereinigten Welterschließungen neu begründet.
Die neuen Erzählungen philosophischer Phantastik
"In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden... Es ist nichts so verwerflich und gering in der Natur, was nicht, durch einen kleinen Anhauch jener Kraft des Erkennens, sofort wie ein Schlauch aufgeschwellt würde; und wie jeder Lastträger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen."34 Dass Philosophie in der Spannung realer und möglicher Welten die perspektivischen Bedingungen ihrer Möglichkeit erst findet, wird zu ihrem späten Selbstverständnis35. Die teleskopische36 Beobachtung des Beobachters durch den Beobachter Nietzsche lässt nicht nur die Erde, sondern auch die Bedeutung der dort erlangten Erkenntnis schrumpfen. "Gott offenbart sich nicht in der Welt."37 Wer sich ab jetzt nicht mehr darauf verlassen kann, dass Gott für diese - beste aller möglichen - Welten eine panoptisch exklusive Beobachterposition einnimmt, also das Licht der Wahrheit ist, sucht nicht mehr seinen Platz in der göttlichen Ordnung, sondern muss nun einen eigenen konstruieren. Wittgensteins Verortung "Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen"38 wird dabei zu einer neuen transzendentalen Erkenntnis, die Grenzen des Denkens in einer virtuellen Perspektive über die Welt hinaus zu verschieben - ohne sich wie Metaphysiker und Theologen noch länger auf eine einigermaßen gut gepflasterte Wegstrecke zwischen Alpha und Omega verlassen zu dürfen. Wie also dieser abwesende Sinn in einer irdischen Versuchsanordnung, im phantastischen Experiment des Philosophen gleichsam simuliert werden kann, trennt gegenwärtige von älteren Konstruktionen des Göttlichen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man phantasieren.
Plötzlich tauchen in der Philosophie immer mehr künstliche, alternative und parallele Welten auf. Ein Park wundersamer Installationen und Papiermaschinen öffnet sich, der nun phantastische Gedankenexperimente in einem epistemologisch aufgeladenen Science-fiction-Milieu möglich werden lässt. Die sonderbare Universalmaschine des Alain Turing, die alles simulieren will, ersetzt die vormals wild rotierenden Weisheitsmaschinen des Ramon Lullus. Vom chinesischen Zimmer des John Searle, in dem der virtuelle Turing-Test selbst virtuell widerlegt werden soll, geht es zu Frank Jacksons theoriegrauen Labor, aus dem er allerdings inzwischen selbst geflohen ist: Eine seit der Geburt ausschließlich im Labor lebende Neurophysiologin hat Zugang zur Welt nur über Schwarzweißbildschirme. Sie weiß alles über Farben, hat aber nie welche gesehen. Tritt sie - ähnlich wie in dem Film "Pleasantville" (Gary Ross, 1998) - in die Welt der Farben ein, lernt sie Tatsachen über Farben kennen, die sich angeblich nicht in den zuvor erlernten Fakten erschöpfen. Diese SF-Labor-Geschichte sollte zum Zeitpunkt ihrer Erzählung den Materialismus widerlegen. Saul Kripke kommt für seine Kritik der Identitätstheorie nicht umhin, starre von nicht starren Begriffen am Beispiel realer und möglicher Welten zu unterscheiden. Parallelweltbesucher, die zuvor bei Philip K. Dick gelernt haben, auch diffusen Zuständen zumindest ein vorübergehendes Wirklichkeitsversprechen abzuringen, erfahren nun hier: Goethe ist überall Goethe, weil wir Goethe sagen, während der Autor der "Wahlverwandtschaften" nicht in jeder vorstellbaren Welt Goethe sein muss. Für Hilary Putnam, den wohl einflussreichsten der neueren Philosophen, werden SF-Phantasien zur conditio sine qua non seines Denkens. Lange vor der schläfrigen Dinggläubigkeit der filmischen "Matrix" versetzt er sich in die "Gehirne im Tank"-Phantasie39, aber eben nicht, um die Lust an der Simulation zu wecken, sondern - gerade umgekehrt - um den Realismus der Außenwelt in nichttrivialer Weise zu belegen. Sein in der Film-Matrix nicht erhörtes Argument gegen die künstlich simulierte Welt lautet in nuce: Wir sind keine Gehirne im Tank, denn sonst wären wir nicht in der Lage, die Vorstellung auszubilden, "Gehirne im Tank" sein zu können. Mindestens ebenso wichtig für Putnams aufgeklärten Außenweltrealismus ist neben der Matrix-Figur sein Blick auf die "Zwillingserde", in der alle Bedingungen unserer Erde gleichartig sind, mit Ausnahme des Wassers, das sich nicht aus H2O, sondern aus XYZ bildet und die "Rolle von Wasser spielt."40 In diesen SF-Szenarien des Philosophen wird der vergleichende Rekurs auf eine nichtexistente Welt methodisch notwendig (!), um den fortgeschrittenen Realismus jenseits individualistischer und apriorischer Modelle überhaupt begreifbar zu machen. Das belegt erneut eindrucksvoll, dass Erkenntnistheorie ein paradoxes Unternehmen bleibt, denn: Das scheinbar Unwirkliche eilt virtuell der an Selbsterkenntnis Not leidenden Wirklichkeit zur Hilfe, damit diese erfolgreich reklamieren kann, "wirklich" zu sein.
Last exit
Spekulative Denker und Erzähler machen im Gegensatz zu Forschern und Technikern keine Fehler, die von einer ungnädigen Wirklichkeit eingeholt, falsifiziert oder gar bestraft werden könnten. Insofern ist das geläufige Wissenschaftskontrollschema, das nach der praktischen Validisierung einer Theorie fragt, gegenüber den "Spekulanten" paralleler Weltentwürfe ein stumpfes Messer der Wirklichkeitserschließung. Vielleicht sind die Konstruktionen der Philosophie, die nur auf sich selbst verweisen und deren technische Ausführung und praktische Überprüfung ihre Perfektion stören würde, die besten Schöpfungen - zumindest in einer Welt wie dieser, die Wirklichkeit nur zum Preis der Katastrophe zulässt. Der Umweg über Materie und der Kampf für ihr Verschwinden bleiben mühselige Angelegenheiten, die neue Weltenschöpfer provozieren sollten. "Warum ist die Evolution von der Atomphysik heruntergekommen auf die Technologie des Mittelalters?"41 Diese Frage, die auch Hiob stellen könnte, lässt sich in einem gesellschaftlichen Kontext reformulieren: Warum lasten auf dem 21.Jahrhundert die ältesten Hypotheken der politischen, ethnischen und religiösen Verblendung, während gleichzeitig die in ihrer Nano-Dimension aufgespürte Materie beginnt, in das beschleunigte Stadium der beliebigen Formbarkeit und Selbstauflösung einzutreten? Die eminent moralische Aufgabe für eine entfesselte Einbildungskraft, die ab jetzt weder die Götter noch Gottfried Wilhelm Leibniz mehr antizipieren, lautet: Könnte man in der Virtualisierung der diversen möglichen Welten eine bessere konstruieren, ohne gleich wieder - wie hier und heute - Teil der Simulationsanordnung selbst werden zu müssen?
Stanislaw Lems "Golem" ist einer der wenigen, der eine Antwort auf die menschliche Katastrophengeschichte parat hält, so wenig sie für das Erdbeben in Lissabon oder seine spätzivilisatorischen Überbietungen post festum entschädigen könnte. Um Dynamik in das Geschäft der Weltkonstruktion und Evolution zu bringen, muss ein Planet ein "bisschen Arkadien und bisschen Hölle sein."42 Ist das Wechselspiel zwischen Gut und Böse danach weniger eine moralische Angelegenheit als ein komplexer Zivilisationsmotor, dessen evolutionäre Reichweite längst noch unbekannt ist? Dann wären unsere Ethiken nur wirkungslose Folgekonstruktionen, über deren Gelingen nicht menschliche Vernunft oder Moral entscheiden würde, sondern allein evolutionäre Logiken, die nicht über unseren Willen gesteuert werden können.
Schöpfungsprojekte, ob nun von Göttern, Philosophen oder SF-Autoren initialisiert und versorgt, arbeiten sich immer an der Frage ab, wie zahlreiche Funktionen so integriert werden, dass das Laboratorium nicht explodiert oder - gleich schlimm - kataton im Zwangskorsett anschlussunfähiger Bio-Konstruktionen erstarrt. Die gegenwärtige Futurologie muss genuinen Weltenbauern armselig erscheinen, weil sie nicht exponentiell-kreativ operiert, sondern eindimensionale Hochrechnungen anstellt, die keine echten Emergenzen zulassen. Diese Aufgabe ist deshalb so schwer zu lösen, weil die Dauer des Experiments auch die Fehleranfälligkeit erhöht - ein Problem, das schon Johannes Duns Scotus bekannt war, der daher die konkrete Wirklichkeit auch nur als eine mögliche ansah. Ob nun Schöpfer mit ihrer "potentia absoluta" nachjustieren dürfen, ist eine alte Streitfrage. Wunder gibt es nicht immer wieder, sondern nur da, wo die Konstruktion mängelbehaftet ist. Höhere Formen der Vernunft sind nur als virtuell breit angelegte Präkonstruktionstechniken vorstellbar, die im Windkanal des Möglichen mehr Hoffnung auf das Projekt machen könnten, als gegenwärtig in unserem irreversibel erscheinenden "experimentum mundi"43 vertretbar erscheint. Die wahre Metaphysik wäre, wie ihr Begriff nahe legt, eine Frage der Technik - einer Technik, die der Existenz die Gnade der immer währenden Revisibilität gewährt. Jenseits dieses Paradieses bleibt es schwer, ein Schöpfer zu sein, wenn mehr als sieben Tage notwendig werden könnten, um eine Welt so rund zu machen, wie ihre Apologeten behaupten, dass sie es schon immer gewesen sei. Unseren Aufenthalt in einer Weltmaschine, die keine Vorlauf- und Rücklauftaste hat, weder Löschungen noch Retuschen zulässt, haben sie dadurch längst nicht erklärt. Plausibler wären Welten, denen der Kontakt zwischen transzendenten und immanenten Sphären in harmonischer Weise erhalten bliebe, oder solche, die der prästabilierten gleich die poststabilierte Harmonie folgen lassen. Kurzum, es gibt zahllose Varianten besserer wie schlechterer, komplexerer wie einfacherer Welten, die in einigen Fällen vielleicht nicht mal gebaut, sondern nur besucht werden müssen. Wünschbar wäre es, bis an das Ende aller Tage am divinen Mischpult zu sitzen, um die besten aller möglichen Varianten erst dann zu edieren, wenn die Rendering-Prozesse der produktiven Einbildungskraft Zeit genug hatten, ein wirklich gutes Produkt "Made in Virtuality" abzuliefern. Und erst dahinter lächelt das Nichts...