Das Wilde, Anarchische der Computerspiele tritt in den Hintergrund

Ein Gespräch mit Andreas Rosenfelder über die künstlichen Paradiese der Computerspiele - Teil 1

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Computerspiele als ästhetische Erfahrung, der Verlust des Spektakulären und die Routinen der Mediengeschichte

"Unbemerkt sind die animierten, elektronischen Universen expandiert." schreibt Andreas Rosenfelder in seinem Buch "Digitale Paradiese", einer ebenso geistreichen wie virtuosen Studie über die Welt der Computerspiele. Darin erklärt der Autor, warum es im Digitalen noch unausgelotete Räume gibt, welche Spiele ihren Spieler zur Freiheit verurteilen, wo sich in Computerspielen Augenblicke des Glücks finden lassen.

Von anderen Büchern zum Thema unterscheidet sie sich dadurch, dass der Autor über den Bildschirmrand hinausblickt, und in der Lage ist, zu erklären, warum ein Computerspiel eine Kulturtechnik ist, wie andere Medien und Künste auch. Rosenfelder, der einige Jahre lang Mitarbeiter im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war, und dort zum Pionier des neuen Genres der Computerspiel-Rezension wurde, lebt heute in Berlin und arbeitete bis zu dessen Einstellung als Kulturreporter beim Wochenmagazin Vanity Fair.

Sie haben in den letzten Jahren in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" das Besprechen von Computerspielen im deutschen Feuilleton richtig etabliert. Bei der FAZ haben Sie regelmäßig Computerspiele besprochen. Wie rezensiert man Computerspiele? Für einen Kulturteil, in dem es um mehr geht, als darum, ob es langweilig ist oder nicht, oder ob's technisch funktioniert? Was sind da die Kriterien für Auswahl und Qualität?

Rosenfelder: Da muss man schon eine ziemlich harte Auswahl treffen. Und relativ streng sein. Also das meiste einfach nicht besprechen. Denn ganz vieles sind nur Sequels, die sind komplett uninteressant. Dieser Auswahlprozess war für mich tatsächlich eine tabula rasa. Ich bin subjektiv verfahren, habe Spiele ausgewählt, an denen mich der Stoff interessierte. Zum Teil auch die wichtigen Sachen: An GTA 4 kam man 2008 nicht vorbei - das wurde auch überall zumindest wahrgenommen.

Grand Theft Auto 4

Für eine Rezension ist es natürlich wichtig, das Spiel auch tatsächlich zu spielen. Auch dort drin Zeit zu verbringen. Viele Elemente und Eigenheiten eines Computerspiels erschließen sich erst, wenn man in einem bestimmten Level eine gewisse Zeit verbringt. Man muss dieses eigene Zeit-Empfinden, das in den Spielen herrscht, nachempfinden. Ein Spiel kann man nicht so durchblättern oder querlesen, wie unter Umständen einen Roman, und es trotzdem erfassen. Man kommt ja auch nicht weiter.

Das ist manchmal total irre: Am Anfang habe ich auch alle Spiele richtig durchgespielt, was eigentlich kein Anspruch ist, den man irgendwie durchhalten kann - man braucht da zum Teil 24 Stunden oder mehr. Ich erinnere mich noch an das Adventure-Game Fahrenheit - da hing ich zwei Stunden in irgendeinem blöden Level fest. Da standen immer Wachen, und haben einen erschossen. Also es hat bestimmt 40 Mal gedauert, bis ich es geschafft hatte, den Moment zu erwischen, an dem die Wache genau in dem Moment erst um die Ecke kam, an dem man bereits rüber läuft. Solche Erfahrungen gehören vielleicht auch dazu.

Fahrenheit

Ansonsten ist ein wichtiges Kriterium, wie sehr man reingezogen wird. Wie sehr man auch bereit ist, sich solchen Unsinn anzutun. Und bereit ist, Zeit zu investieren. Bei einem Film kann man sich darauf verlassen, dass er nach spätestens drei Stunden vorbei ist - egal wie schlecht er ist.

Grundsätzlich geht es aber schon darum, einerseits die schiere Erfahrung zu beschreiben - fast wie in einem Reisebericht: Bei einem Buch oder Film würde man das gar nicht machen. Die zweite Ebene ist dann die der Opernkritik: Einordnung in einen Kanon, Vergleich zu anderem, überhaupt Vergleichbaren.

Rosenfelder: Genau. Aber man schreibt automatisch über das eigene Spielen mit. Es ist nicht möglich, sich da völlig rauszuhalten.

Spielt auch die alte Kracauer-Frage - Warum macht man jetzt diesen Film/dieses Spiel? Was sagt das über unsere Zeit? - auch eine Rolle? Kann man also das konkrete Spiel auch zum Anlass nehmen, über Computerspiele an sich und Kultur an sich zu schreiben? Dazu also, Kulturkritik zu betreiben?

Rosenfelder: Das finde ich schon. Ich finde, dass gerade Computerspiele, weil sie einem Spieler Aktivität und konkrete Handlungen abverlangen, sich auch kultursoziologisch lesen lassen. Computerspiele sind ein soziales Phänomen. Das sollte schon eine Frage sein: Inwiefern Computerspiele auch Ideologien oder eine bestimmte Moral transportieren. Ich glaube schon, dass sich Computerspiele in einem klassischen kulturkritischen Sinn kritisieren lassen. Und dass es sogar wichtig ist, sie so zu kritisieren. Natürlich kommen dann immer auch irgendwelche Leute mit dem Überinterpretationsvorwurf. Das sind zwar manchmal irgendwelche Fans, die ihr Vergnügen gestört sehen, wenn man zeigt, dass das Spiel auch noch irgendetwas bedeutet. Aber vor allem sind es die Fundamentalkritiker der Spiele, die oft gar nicht wissen, wovon die Rede ist.

Wie würden Sie jemandem, der Computergames gar nicht kennt, denn erklären, worum es sich handelt? Was ist daran ein Spiel, was Kultur? Was etwas anderes?

Rosenfelder: Schwierige Frage. Vielleicht fange ich mal mit diesem Kulturbegriff an. Dabei geht es ja immer auch um Legitimierung. Der Kulturbegriff ist ein Schutzbegriff, um zu begründen: Das ist keine Zeitverschwendung, das ist kein Trash, keine "bloße" Unterhaltung, sondern da geschieht etwas, das kulturell sanktioniert ist, und wofür man sich nicht rechtfertigen muss. Das im besten Fall zur Herzensbildung beiträgt. Insofern ist es immer schon strategisch, etwas in einen Kulturkontext zu stellen. Was mich natürlich nicht davon abhält, das selber zu tun - und ich glaube auch mit guten Gründen.

Man muss nur im Hinterkopf behalten, dass man diese kulturellen Weihen, die man damit über so ein neues Genre verteilt, nicht wieder zu ernst nimmt. Natürlich ist es so, dass 90 Prozent von dem, was auf dem Feld der Computergames erscheint, ziemlicher Schrott ist. Das mag sogar auch noch in gewissem Sinn Kultur sein, aber es ist nicht die Kultur, die mich interessiert.

Trotzdem glauben Sie, dass man Computerspiele in den kulturellen Kanon eingliedern muss. Warum?

Rosenfelder: Zum einen, weil dort ganz bestimmte Inhalte, ein kulturelles Wissen aufbewahrt wird. Kulturelle Überlieferung. Ich weiß selber aus meiner Gamer-Sozialisation: Ich habe mit 13, 14 begonnen, auf dem Schneider PC meines Vaters, Computerspiele zu spielen, Spiele wie Pirates!, wo man in vorsintflutlicher Graphik im 16. Jahrhundert Weltmeere durchkreuzt hat, und Inseln wie Nassau eroberte - das waren historische Kontexte, die sich einem da erschlossen haben. Ich bin überzeugt: Viel davon würde verlorengehen, würde es nicht umgegossen in so ein zeitgemäßes Medium. Da würde ich ganz traditionell auch zwischen Medium und Inhalt unterscheiden. Kultur besteht in der Weitergabe von bestimmten Stoffen, Themen und Mythen. Aber die Medien der Weitergabe können wechseln.

Pirates!

Computergames stellen sich in diese Reihe von Medien. Das Wenigste, was Computergames machen, ist neu erfunden. Das Meiste sind Stoffe, die sich seit 2000 Jahren in verschiedenen Formen wiederfinden. Klar gibt es dort auch ganz futuristische Welten und Alien-Geschichten, die völlig unbekannt und neu erscheinen. Aber selbst da ist vieles Teil einer langen Tradition.

Ansonsten sind es inhaltlich meist ganz archaische Stoffe. Viele Schlachten, jede Menge kriegerische Spiele - und da würde ich sagen, dass die Erfahrung, die man zum Beispiel als Jugendlicher macht, wenn man irgendwelche Römerschlachten am PC nachspielt, sich gar nicht so stark von Erfahrungen unterscheidet, als Jugendliche im 18. Jahrhundert die Ilias mit Holzpferden gespielt haben, oder im 19. oder 20. Jahrhundert die gleichen Schlachten mit Zinn- oder Plastiksoldaten.

Daneben gibt es natürlich eine ästhetische Tradition…

Rosenfelder: Wenn man sich die Entwicklung von Technik und Design der Computergames anschaut, erkennt man auch da eine Entwicklung, die sich analog zu anderen Kultur- und Kunstformen begreifen lässt: Es begann mit ganz Primitivem, das sich dann allmählich zu archaischen Formen entwickelte: Ich erinnere mich selber noch gut an diese C 64-Spiele der 80er Jahre, zweidimensionale Monitore, auf denen dann so ein grüner Curser blinkt - das ist im Grunde die Steinzeitästhetik der Computerspiele.

Commodore 64

In Begriffen der Kunstgeschichte könnte man das vielleicht mit mittelalterlicher Malerei vergleichen: Flächig, zweidimensional, goldener undefinierter Hintergrund, davor Figuren - so ähnlich war der Monitor mit diesen grünlich blinkenden Gestalten. Und heute: Wahnsinnig opulente, photorealistisch ausgefüllte dreidimensionale Welten. Das ist auch eine strukturelle Ähnlichkeit zu dem, was in der Malerei passiert ist…

Da sind die Computergames im Grunde bei einem Realismus des 19. Jahrhunderts, aber noch vor dem Schritt in die Abstraktion… Computergames sind eine Kulturtechnik, sind Kulturgut. Muss man das heute überhaupt noch begründen? Gibt es etwas, was Sie aus dem Spielen mit in die "real world" nehmen?

Rosenfelder: Letztlich ist das Computergamen auch eine kulturelle Erfahrung, weil es einen zwingt, sich mit fremden Welten auseinanderzusetzen, sich in fremden Welten zu bewegen, die sich jenseits von wahr oder nichtwahr befinden. Ich würde da schon mit einem klassischen Fiktionalitätsbegriff herangehen: Es geht ja nicht darum, irgendwelche Fähigkeiten fürs wirkliche Leben zu testen oder zu trainieren - diese Argumentation gibt es ja auch: In Computergames lerne man Skills fürs Leben: Reaktionsfähigkeit, Hand-Auge-Koordination, komplexe Zusammenhänge,

Strategisches Denken…

Rosenfelder: Genau. Dass das Entscheidende an Computergames ist, würde ich auch nicht sagen. Es handelt sich hier um parallele Welten, in denen man sich bewegen kann, die keine allgemeine Gültigkeit bekommen, aber doch für einen selber dann eine gewisse Relevanz besitzen. Das ist dann im Kern eine ästhetische Erfahrung.

Mann nennt das Ganze in der Regel "Computerspiele". Das ist ein Ausdruck, der sich nunmal eingebürgert hat. Aber ist er Ihrer Ansicht nach überhaupt adäquat? Kann und muss man vielleicht auch differenzieren zwischen Phänomenen, die überhaupt keinen Spielcharakter besitzen, und anderen, die das tun? Mich würde interessieren, worin dieser Spielcharakter genau besteht?

Rosenfelder: Ich halte den Spielcharakter für etwas sehr Wichtiges. Obwohl dieses spielerische Element in jüngerer Zeit etwas verloren zu gehen droht. Historisch sind Computerspiele tatsächlich entstanden durch Spielerei. Dadurch, dass Techniker oder Programmierer, die an hochavantgardistischen Forschungslabors an irgendwelchen Techniken forschten, am MIT oder anderswo in den USA, in den fünfziger oder sechziger Jahren, angefangen haben, ihre Technik zu zweckentfremden. Nach Feierabend, oder nebenbei haben sie sie für Spielereien benutzt.

Space War

So sind diese ersten Computerspiele entstanden: Pong zum Beispiel oder Space War. Das waren sozusagen Abfallprodukte der Forschung, die sich dann verselbständigt haben. In der Hackerszene, die auch schon relativ früh in den sechziger Jahren entstanden ist…

Wirklich? Schon in den sechziger Jahren?

Rosenfelder: Ja, da gab es schon eine erste Szene, die diese Gerätschaften, die ja eigentlich alles andere sind, als Spielgeräte, zweckentfremdet hat. Das waren ja hochrationale Maschinen, die dazu gemacht wurden, um Raketen zu steuern, Daten zu verwalten, Finanztransaktionen zu vereinfachen. Eigentlich sind Computer ja Dinge, die überhaupt nichts Spielerisches an sich haben. Das da im Inneren sozusagen durch Missbrauch diese Spiele herangereift sind, ist eine Ironie der Technikgeschichte. Insofern waren diese Spielewelten immer schon Gegenwelten zum rationalen Prinzip, das im Computer sich verkörpert. Das waren Sachen, die in ganz anderen Welten spielten, irgendwo am Rande des Universums, sozusagen in ganz weltfremden Welten.

In den letzten Jahren tendieren die Spiele nun dahin, dem realen Leben immer ähnlicher zu werden, sozusagen Mimikry zu betreiben. Vor allem auch Mimikry an der Berufswelt: Wenn man sich etwa Second Life anschaut, das hat jetzt eine etwas unglückliche Geschichte, ist mehr oder weniger verlassen, das war ja der Versuch, eine Zweitwelt aufzubauen, die der ersten zum Verwechseln ähnlich sieht; in der man Geld hat, Unternehmen aufbauen kann, mit allen bekannten Zwängen. Da verschwindet dann das hedonistische, zweckfreie Element wieder stark im Hintergrund. Damit geht dann auch etwas verloren. Man hat dann nur eine soziale Realität, für die man sich nicht mehr vom Rechner wegbewegen muss. Insofern würde ich an diesem Spielelement festhalten - aber es gibt Gegentendenzen. Zum Teil muss man eher von Parallelwelten sprechen.

Wenn Sie es mit traditionellen Spielen vergleichen: Mit welchem Typus Spiel? Strategie? Zufall? Oder näher an Glücksspiel? Oder Spielen wie Fußball? Es ist ja bemerkenswert, dass zu den populärsten Sachen Sportsimulationen gehören…

Rosenfelder: Auf jeden Fall. Diese ganzen genannten Genres finden sich alle auch im Bereich der Computerspiele. Ganz viele sind klassische Geschicklichkeitsspiele. Brettspiele. Und ganz viel Sport. Trotzdem gibt es da ein Element, das die Computerspiele von allem Klassischen unterscheidet. Gerade zu Schach wird von Gamerseite oft der Vergleich gezogen. Selbst von Counterstrike-Spielern, die mit Vorwürfen konfrontiert werden, irgendwelche Amokläufe zu simulieren. Die sagen dann in Verteidigung ihres Spiels, das sei doch im Grunde wie Schach.

Counterstrike

Auf einer ganz abstrakten Ebene kann man das auch so sehen: Es gibt Figuren, die nichts bedeuten, und die dann stellvertretend für die Spieler auf einem begrenzten Terrain eingesetzt und gegebenenfalls geopfert werden. Aber ich glaube, dass bei Computerspielen ein Identifikationsmoment dazu kommt. Und das darf man nicht unterschätzen. Man spielt nicht nur mit Figuren, sondern man ist selber im Spiel. Als Person.

Es wäre ja mal interessant, umgekehrt ein Schachspiel in der "Counterstrike"-Ästhetik zu programmieren, mit Splattereffekten und ähnlichem…

Rosenfelder: Das gab es sogar mal. Das hieß "Battlechess". Man hat ganz normal Schach gespielt, aber die Figuren haben sich den Kopf abgeschlagen.

Das ist tatsächlich so eine komische Mischgattung, die einerseits diese formalen Elemente von Brettspielen aufgreift, aber dann noch eine andere Komponente ins Spiel bringt, was man dann vielleicht eher aus der Literatur oder dem Kinofilm kennt: Das man sich in einer ganz buchstäblichen Weise mit einer Figur, mit dem Helden identifiziert. Und zwar gar nicht so sehr wie im Roman. Dort bleibt es einem ja auch überlassen, wie weit man sich identifiziert oder identifizieren möchte. Manchmal klappt es auch gar nicht. Im Spiel aber ist diese Identifikation die Voraussetzung.

Man steht dann in einem schlechtbeleuchteten unterirdischen Flur. Und wenn man sich nicht bewegt, wird man erschossen. Die Identifikation ist hier in einer ganz buchstäblichen Weise die Voraussetzung, überhaupt das Spiel zu beginnen. Das ist etwas, was es anderswo so nicht gibt. In anderen Kulturtechniken hat man viel mehr Möglichkeiten, sich zu distanzieren. Und Romanfiguren, die dann morden oder irgendwelche abnormen Psychoeigenschaften aufweisen, von denen kann man sich distanzieren. Aber im Computerspiel geht das halt nicht. Weil man wie ein Marionettenspieler eine Figur steuern muss.

Würden Sie eigentlich sagen, dass auf der Ebene der Entwickler, die sich ein Computerspiel ausdenken, und Programmierer das Computerspiel eine Kunst ist? Also eine zehnte, zwölfte Kunst? Und welcher Kunstform ist es am ähnlichsten? Sie haben ja eben Literatur oder Film genannt…

Rosenfelder: Erstmal gibt es schon eine Tendenz dahin, dass die Leute, die Spiele machen sich im weitesten Sinne als Kunstschaffende verstehen. Das ist auch eine jüngere Entwicklung, die auch dann wieder anderem aus der Mediengeschichte entspricht. Im Kino war das ja auch so: Am Anfang wurde Variete gemacht, da waren Filme vergleichbar mit Jahrmarktsattraktionen. Es gab vieles, was wir heute als Trash qualifizieren würden: Irgendwelche Showgirlrevuen, Turnübungen. Später hat sich dass das ausdifferenziert. Es hat sich ein Bewusstsein als eigene Kunst entwickelt. Andererseits entstand mit Hollywood ein Mainstream und entgegengesetzt ein Kunstfilm.

Ich denke, dass es eine ähnliche Entwicklung auch im Bereich der Computerspiele gibt. Die anarchische Frühphase ist jetzt vorbei, in der sich das Ganze noch in so einer Grauzone bewegte, in der man gar nicht klar sagen konnte: Ist das jetzt Kunst, ist das Unterhaltungselektronik? Ist das Zeug, was in irgendwelchen Spielhallen herumsteht und blinkt und dann vielleicht im Nachhinein Kultstatus gewinnt, und dann doch wieder zu einem Kulturgut wird?

Inzwischen ist schon so ein Selbstbewusstsein da. Es gibt eine Reihe von Spieleentwicklern, die mit einem hohen kulturellen Anspruch an ihre Arbeit gehen, und auch tatsächlich schon Werke schaffen, die man wie Kunstwerke beurteilen und rezensieren kann. Und über die dann entsprechend auch im Feuilleton nicht zufällig Artikel auftauchen.

Gibt es da so etwas wie Stil? Ist eine persönliche Handschrift erkennbar? Oder ist es noch viel stärker als beim Film ein Teamwork, was bestenfalls vielleicht die Handschrift eines Studios, einer Produktionseinheit erkennbar macht?

Rosenfelder: Das ist schon noch viel arbeitsteiliger als ein Kinofilm. Da sind es zwar auch hunderte von Leuten, aber es ist noch eine soziale Einheit. Das zerfällt ja bei Computerspielen total. Da werden dann zum Beispiel bei modernen Autorennspielen die Automechanik in irgendwelchen Entwicklerstudios in Osteuropa entwickelt und das Ganze wird irgendwo in Kanada zu Computerspielen zusammengesetzt. Das sind Einheiten, die oft komplett unabhängig voneinander operieren.

Sim City 2000

Es gibt trotzdem ein paar Einheiten, die so etwas wie eine Handschrift auf der Ideenebene erkennbar werden lassen. Will Wright wäre so jemand, der große alte Mann der Spielentwicklung. Der hat in den Achtzigern die Städtesimulation Sim City programmiert, später dann die Sims, ein gerade auch bei Mädchen wahnsinnig erfolgreiches Spiel.

Die Sims

Jetzt das jüngste Spiel von ihm, das erst gerade im November erschienen ist, ist Spore - das ist eine Simulation der Evolution: Man hat so ein kleines amöbenartiges Wesen, und kann das in die freie Wildbahn schicken, und kreuzen. Da merkt man eine geistige Handschrift: Das ist einer, der immer experimentell verfährt, und guckt, was passiert, wenn man bestimmte Figuren in eine Anordnung bringt, und ihrer Spieleinheit überlässt. Ansonsten kann man nicht sagen, dass sich so ein Stil ausprägen würde, wie man ihn jetzt von großen Filmregisseuren kennt. Es gibt keinen Francis Ford Coppola der Spielewelt. Es gibt große Einzelwerke, aber man kann nicht sagen: Da entsteht so etwas wie ein Gesamtwerk. Da muss auch noch viel passieren.

Spore

Sicherlich ist die ästhetische Umsetzung schon wahnsinnig weit, was den Oberflächenrealismus angeht ist es kaum zu steigern. Trotzdem hat man immer noch das Gefühl, sich in Computerspielwelten zu bewegen. Egal wie offen diese sind, ist der Weg dann doch relativ vorgezeichnet. Auch wenn man sich so neue Spiele anschaut, wie Assassin’s Creed, das im Nahen Osten im 12. Jahrhundert spielt. Auch da hat man relativ schnell raus: Das und das sind die Missionen, zu diesen und jenen Leuten muss man gehen. Dass da wirklich was Neues entsteht - da muss man noch drauf warten.

Sie haben jetzt mehrfach "noch" gesagt, und mindestens dreimal "schon" - also in der Sprache der Fortschrittsgeschichte gesprochen. Sie würden also schon grundsätzlich davon ausgehen, dass wir hier etwas Ähnliches haben wie das Kino oder die Oper, also relativ junge Künste, die sich allmählich immer stärker eine eigene immanente Gattungsgeschichte zulegen und sich zugleich in die Kulturgeschichte integrieren?

Rosenfelder: Ja, ganz klassische Kanonisierungsprozesse, die dann Niveauunterschiede sichtbar werden lassen. Das führt natürlich auch zu einem Verlust des Spektakulären: Dieses Wilde, Anarchische, Jugendkulturelle, das die Computerspiele umgeben hat, verschwindet zwar nicht gleich, aber es tritt in den Hintergrund. Computerspiele werden eine normale Freizeitbeschäftigung, die jetzt auch als Familiensport relativ weit verbreitet ist.

Man merkt das auch an den Debatten über Computerspiele: Die Schädlichkeitsdebatte ist abgeflaut. Man konnte das sehen: 2008 ist GTA 4 erschienen, ein tolles, trotzdem auch relativ gewalthaltiges Spiel. Hier wurde überraschenderweise gar keine Killerspieldebatte geführt. Es gab keine Fernsehtalkshows mit CSU-Politikern und Kriminologen, sondern man hat es als ein Gesamtkunstwerk gewürdigt, hat gestaunt, wie oft sich das verkauft.

Daran zeigt sich ein Reifeprozess. Denn diese Gefahrendiskussion hat ja auch jedes junge Medium begleitet: Was Platon in der Antike über das Griechische Theater geschrieben hat, deckt sich ja zum Teil mit den Argumenten der Gefahrendebatte um die Computerspiele: Dass das Theater die Emotionen in unguter Weise aufwühlt. Dass es den vernunftbegabten Teil des Menschen schwächt. Ich denke, dass diese Gefahrendiskussion eine Routine der Mediengeschichte ist. Wenn sie nachlässt, ist das ein Zeichen von kultureller Integration.

Kann man denn sagen, dass bei Computerspielen bereits eine Ausdifferenzierung nach oben und nach unten gibt? Oft wird ja über Computerspiele unter dem allgemeinen Verdikt des Niveauverfalls diskutiert, der Barbarisierung und Primitivierung… Was wären denn aus Ihrer Sicht stilistisch anspruchsvolle, künstlerisch oder intellektuell innovative Computerspiele? Tatsächlich ist ja die oberflächliche Erfahrung eines Außenstehenden mit der Massenwaren in den Kaufhäusern der Eindruck einer allgemeinen wahnsinnigen Geschmacklosigkeit: Jeder C-Movie sieht besser aus, als die Bilder der Spiele. Es wirkt auch alles sehr ähnlich und einheitlich im schlechten Sinne. Wo ist das Ungewöhnliche?

Rosenfelder: Ja, das ist ja das bekannte Sturgeons Law, benannt nach dem Science-Fiction-Autor Theodore Sturgeon: "99 percent of everything is crap". Das gilt unbedingt auch für Computerspiele. Die Mehrheit ist trivialer Müll.

Die Aufgabe des Kulturkritikers ist es, das eine Prozent herauszufinden?

Rosenfelder: Genau. Es gibt tatsächlich ungewöhnliche Spiele, aber die sind selten. Das waren auch Sachen, die gar nicht so groß herausgekommen sind. Ich erinnere mich an ein Spiel, das habe ich vor ein paar Jahren mal für die FAZ besprochen: Es hieß Psychonauts. Das war phantastisch: Das Szenario war einfach nur ein typisches US-amerikanisches Ferienlager, das klassische Szenario von so einem Stand-by-me-Film. Oder auch der Comic: Calvin and Hobbes: Langeweile in den Sommerferien. Das Ferienlager war dann allerdings kein normales Ferienlager sondern man wurde dann so zu einem Psychonaut erzogen.

Psychonauts

Und Psychonaut hieß die Fähigkeit, in andere Köpfe einzudringen, und darin zu reisen. Das war irre: Man bewegte sich zunächst in dieser amerikanischen Natur, hatte einen Aufenthaltsraum und alles Mögliche - und konnte dann aber in das Bewusstsein anderer Menschen eindringen. Da gab es einen Dozenten, der hatte ein Bewusstsein, das mit Tiffanylampen und ganz schrecklichem Kitsch ausgestattet war, dann gab es aber kubistische Räume - wirklich psychoanalytische Szenarien: Da liefen dann kleine Bürokraten mit Stempeln herum, und haben alles Mögliche zensiert, was dort nicht hingehörte. Das war Wahnsinn: Ein Spiel, das man kaum nacherzählen kann, weil es zu verrückt ist. Aber voll mit kulturhistorischen Gags und tollen Anspielungen. Also das gibt es schon, aber es ist selten.

Morgen folgt Teil 2: Computerspiele sind keine moralfreien Zonen

Andreas Rosenfelder: "Digitale Paradiese. Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele"; Verlag Kiepenheuer & Witsch; Köln 2008; 192 Seiten, 8,95 Euro