Das Wort zum Wahlsonntag
Die Deutschen wählen aus Angst die derzeitigen Regierungsparteien. Warum wird die Ignoranz von Gemeinwohl-Interessen eigentlich akzeptiert?
Am Sonntag ist Bundestagswahl. Laut Umfragen möchten etwa 60% der Wähler den derzeitigen Regierungsparteien ihre Stimme geben. Vielleicht spielt bei so mancher Wahlentscheidung der Glaube an die politische Gestaltungskraft von CDU/CSU und SPD weniger eine Rolle als der Glaube an die eigene Angst: Angst vor Terroranschlägen, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Zuwanderung, Angst vor Putin und Trump, Angst vor Fake News - Angst vor der Zukunft.
Von dieser Angst profitieren (neben der AfD) insbesondere die großen Altparteien: Sie verkörpern in einer unübersichtlichen, gefährlichen Welt noch am ehesten Stabilität und Sicherheit. Die jüngste EMNID-Umfrage bestätigt das hohe Angstpotenzial bei Wählern von AfD, SPD und CDU.
Wir Deutsche haben (glücklicherweise!) den direkten Bezug dazu verloren, was eine wirklich gefährliche Welt ist. Wie es sich z. B. anfühlt, im Jahr 2017 mit seiner Familie in Syrien, in Afghanistan oder im Jemen zu leben. Deutschland ist eines der sichersten und reichsten Länder der Erde. Seit Jahrzehnten wächst unsere Wirtschaft: Fast ausnahmslos wird Jahr für Jahr immer noch mehr Geld umgesetzt.
Aber wofür wird dieses Geld verwendet? Wie wird es verteilt? Anstatt unsere Gesellschaft sozialstaatlich und friedlich weiterzuentwickeln, geht der Umbau eher in eine andere Richtung. Wirksamer Widerstand entfaltet sich vielleicht gerade deshalb nicht, weil wir eine verängstigte Gesellschaft sind, die den Rückzug in den kuscheligen Innenraum der sozialen Netzwerke angetreten hat.
Im Nationalsozialismus zählten nur die Starken. Alles Schwächliche sollte ausgemerzt werden. Mit dem Grundgesetz haben wir diese Hackordnung überwunden und unseren Staat als Solidargemeinschaft aller Bürger neu aufgestellt (Eigentum verpflichtet!).
Das Bewusstsein, dass nur eine funktionierende Solidargemeinschaft unser Gemeinwesen beschützen und den soziale Frieden gewährleisten kann, geht aber zunehmend verloren. Und mit der Entsolidarisierung entsteht ganz allmählich wieder eine neue Hackordnung: Die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Hilfebedürftigen gerät zunehmend auf den Prüfstand, während die Anpassung an die Interessen der wirtschaftlich und politisch Mächtigen im Großen und Ganzen untertänig hingenommen wird (siehe z. B. Freihandelsabkommen, Privatisierungen, Bürgerausspähung oder Militarisierung).
Die unterwürfigen und autoritätshörigen Deutschen
Selbst bei kleineren Zumutungen, wie etwa der offenkundigen Betrugsmentalität von Kfz-Herstellern, zeigt sich, dass es mit unserem gesellschaftlichen Selbstbewusstsein nicht sehr weit her ist. Wir erfahren, dass uns die Automobilindustrie seit Jahren belügt, und der Spritverbrauch unserer Autos im Schnitt um 42% höher liegt als angegeben. Kein kleiner Getränkehändler würde auch nur einen Tag lang damit durchkommen, wenn seine 0,5l-Bierflaschen mit lediglich 0,3l Bier gefüllt wären! Aber der Kundenbetrug der Kfz-Hersteller spielt in einer anderen Liga, weshalb die zuständigen Minister nicht einschreiten, und die Regierungschefin schweigt. Wir Bürger bezahlen brav unsere überhöhten Tankrechnungen, und 60% von uns bedanken sich mit ihren Wählerstimmen bei CDU/CSU und SPD. Warum eigentlich?
Wem fühlen sich unsere Regierungspolitiker mehr verbunden - den einfachen Bürgern, die sie wählen, oder den Geldeliten, die ihre Parteien sponsern? Die Autoskandale der letzten Monate führen die Welt nicht an den Abgrund. Sie zeigen aber, dass gewählte Politiker offensichtlich kein Problem damit haben, Gemeinwohl-Interessen auch mal gerne zu ignorieren. Warum akzeptieren wir das? Warum hieven wir immer wieder dieselben Parteien ins Amt, ohne uns z. B. folgende Fragen zu stellen?
- Wieso sind Arbeitseinkommen sozialversicherungspflichtig und Kapitaleinkommen sozialversicherungsfrei?
- Wieso können Einkommen aus Arbeit mit bis zu 42% weitaus höher besteuert werden als Einkommen aus Kapitalerträgen (maximal 25%)?
- Wieso müssen wir beim Kauf von Nahrungsmitteln, Zigaretten oder Benzin Umsatzsteuer, Tabaksteuer, Energiesteuer etc. bezahlen, während der Kauf von Wertpapieren komplett steuerfrei ist?
- Wieso hat unsere Bundesregierung strengere Steuerregeln auf EU-Ebene mehrfach ausgebremst, obwohl Deutschland jährlich 50 Milliarden € Steuereinnahmen durch internationale Konzerne verliert, die nicht bereit sind, für alle in Deutschland erzielten Gewinne auch in Deutschland Steuern zu zahlen?
- Wieso befindet sich Deutschland auf dem internationalen Schattenfinanzindex unter den Top Ten der beliebtesten Geldwäsche-Oasen?
- Wieso haben wir eine Steuergesetzgebung, die dazu führt, dass Deutschland bei der Ungleichverteilung von Vermögen im OECD-Vergleich einen Spitzenplatz einnimmt?
- Wieso wurde die seit Bismarcks Sozialgesetzgebung von 1885 gültige Regelung, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Kosten von Kranken- und Rentenversicherungen jeweils zur Hälfte tragen, zu Lasten der Arbeitnehmer geschliffen?
- Wieso wird unser Rentenniveau wegen angeblicher Nicht-Finanzierbarkeit Jahr für Jahr abgesenkt, obwohl wachsende Produktivität die Altersstruktur-Entwicklung unserer Gesellschaft mehr als ausgleicht?
- Wieso stieg die Armutsgefährdungsquote von Alleinerziehenden während Merkels Kanzlerschaft um 30% an?
- Wieso leben in Deutschland etwa 10% aller Arbeitnehmer unterhalb der Armutsgrenze, und wieso ist diese sogenannte Erwerbsarmut bei uns im europäischen Vergleich mit weitem Abstand am stärksten angestiegen?
Die Fragenliste ist bei Weitem nicht vollständig, aber alle hier angesprochenen Regelungen wurden politisch bewusst herbeigeführt oder sehenden Auges in Kauf genommen - und zwar zu Ungunsten der Solidargemeinschaft und/oder zugunsten der wirtschaftlich Mächtigen.
Der Glaube, dass ein freier Markt für gesellschaftliche Probleme bessere Lösungen parat habe als ein solidarischer Sozialstaat, setzte sich unter Schröders rot-grüner Koalition durch und verbreitete sich unter Schwarz-Gelb und Schwarz-Rot munter weiter. Was würden die verantwortlichen Parteivorsitzenden auf die oben genannten Fragen antworten? Wir wissen es nicht, weil ihnen kaum ein Journalist diese Fragen öffentlichkeitswirksam und mit Nachdruck stellt.
Man muss schon viel Vertrauen aufbringen, eine der Regierungsparteien der vergangenen 16 Jahre am Sonntag zu wählen: Vertrauen, dass all die politischen Weichenstellungen, die sich gegen das Gemeinwohl richten, aus einem tieferen Verständnis heraus betrachtet doch irgendwie gesamtgesellschaftlich wertvoll sein könnten: Die Wege des Herrn sind eben manchmal unerforschlich, und wir wissen ja "Teile der Antwort würden die Bevölkerung verunsichern" (Innenminister De Maizière). Wir kennen eben nie alle Hintergründe, und wie sagte unsere Bundeskanzlerin so treffend: "Die Leute sollen uns Politiker die Politik machen lassen, weil wir so viel mehr davon verstehen."
Für politisch neugierige Menschen, die ihre Wahlentscheidung eher angstfrei und obrigkeitsskeptisch treffen, gibt es einen anderen Vorschlag: Wählen wir doch einfach die Partei, die am wenigsten nach oben buckelt und nach unten tritt. Und die sich in der vergangenen Legislaturperiode im Bundestag am konsequentesten für den Frieden eingesetzt hat.