Das aufhaltbare Sterben der Wirbeltiere

Gefährdete Waldhüter: Afrikanische Waldelefanten. Foto: Thomas Breuer / CC-BY-2.5

In den letzten 50 Jahren gingen die Bestände wild lebender Wirbeltiere weltweit zurück. Zugleich gibt es Beispiele für erfolgreichen Artenschutz. Geld wäre da, doch es gibt ein entscheidendes Problem.

Nicht nur Insekten, auch Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien verschwinden immer schneller von diesem Planeten. Zwischen 1970 und 2018 wurde bei mehr als 31.000 untersuchten Populationen ein Rückgang von nahezu 70 Prozent beobachtet, heißt es im Living Planet Report 2022, der kürzlich von der Umweltstiftung WWF und der Zoologischen Gesellschaft London veröffentlicht wurde.

Die Autoren werteten Daten von rund 31.000 Beständen zu mehr als 5230 Wirbeltierarten aus. Demnach sind die Süßwasserarten mit einem Rückgang von 83 Prozent aller beobachteten Populationen am stärksten von der Artenkrise betroffen. Hotspot des Artensterbens ist Süd- und Zentralamerika: Hier sind die untersuchten Tierbestände mit durchschnittlich 94 Prozent besonders stark geschrumpft.

Der Bestand des Amazonasdelfins in Brasilien zum Beispiel sank von 1994 bis 2016 um rund 65 Prozent. Die Population der Westlichen Flachlandgorillas im Nki-Nationalpark in Kamerun schrumpfte zwischen 2005 und 2019 um rund 70 Prozent. Auch in Europa verschwinden Arten rasant – zum Beispiel die Feldlerche. War der Singvogel hierzulande einst weit verbreitet, so hat sich seine Population von 1980 bis 2019 um mehr als die Hälfte reduziert.

Von fünf bis neun Millionen Tierarten gehen weltweit jährlich bis zu 58.000 verloren. Zu diesem Ergebnis kam bereits 2014 eine Studie an der Stanford University. Demnach starben im Laufe der letzten 500 Jahre bei den Landwirbeltieren 322 Arten aus. Die Populationen der verbleibenden Arten gingen durchschnittlich um ein Viertel zurück.

Bei den wirbellosen Tieren weisen 67 Prozent der überwachten Populationen einen durchschnittlichen Rückgang von 45 Prozent auf. Die Ursachen des Artenschwundes sind vielfältig: Zum Einen werden Lebensräume durch Waldrodungen und intensive Flächennutzungen zerstört, eine andere Ursache ist die intensive Landwirtschaft mit Pestiziden und Nitratauswaschung. Auf diese Weise gehen Habitate von Wildtieren verloren. Ein weiteres Problem sind invasive Arten, welche einheimische Arten verdrängen.

Wissenschaftler sprechen inzwischen von einem "Sechsten Massenaussterben", das den globalen ökologischen Wandel vorantreibt. Das Verschwinden der Tiere wirke sich kaskadenartig auf das Funktionieren der Ökosysteme und das menschliche Wohlbefinden aus, warnte das Team um Wissenschaftler Rodolfo Dirzo bereits 2014.

Artensterben und Klimakrise befeuern sich gegenseitig

Häufiger und extremer auftretende Naturkatastrophen wie Waldbrände, die Erwärmung der Meere sowie das Schmelzen der Eiskappen - diese und andere Extremereignisse vernichten Lebensräume. Gleichzeitig befeuert die fortschreitende Zerstörung von Wäldern und Mooren als natürliche Kohlendioxid-Speicher den Klimawandel.

Glaubt man dem Weltklimarat (IPCC), erhöht sich die Auswirkung des Klimawandels auf die Artenvielfalt bis 2100 dramatisch. So liegt bei einer globalen Erwärmung um 1,5 Grad Celsius der Anteil der Arten, die mit hohem Risiko aussterben würden, bei vier Prozent. Steigt die Erwärmung um drei Grad, könnte sich dieser Anteil auf 26 Prozent erhöhen.

Das Verschwinden der Tierbestände würde auch den Klimawandel befeuern, weil die Ökosysteme dann weniger Kohlenstoff aufnehmen. Ein Beispiel ist der Afrikanische Waldelefant, dessen Bestände in einigen Gebieten bereits um mehr als 90 Prozent zurückgingen. Gab es 1970 noch etwa zwei Millionen Tiere, so schätzt die Tierschutzorganisation Future for Elephants die aktuelle Population auf noch etwa 350.000.

Die Elefanten, die in relativ kleinen Familienverbänden leben, kommen nur in den dichten Tropenwäldern in Zentral- und Westafrika vor - und die schrumpfen zusehends. Rund drei Viertel des ursprünglichen Waldes sind bereits verschwunden. Die Elefanten sind wahre Waldhüter: Mit dem ausgeschiedenen Kot verteilen sie Baum- und Strauchsamen und düngen den Waldboden. Der Dung ist gleichzeitig Lebensraum und Nahrung für zahlreiche andere Tierarten.

Sie beseitigen wucherndes Gebüsch, so dass die Bäume besser an Licht und Wasser gelangen. Je größer ein Baum wird, desto mehr Kohlendioxid kann er binden und Sauerstoff produzieren. Sterben die Elefanten aus, hätte dies fatale Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Ökosystems. Werden Naturschutzmaßnahmen umgesetzt, können sich Populationen erholen, wie folgende Beispiele zeigen:

• Der Bestand der Seeadler, der vorher stark geschrumpft war, hat in den letzten Jahren wieder zugenommen – nicht nur in Deutschland und Österreich, sogar in Island.

• In Nepal hat sich die einst sterbende Population wild lebender Tiger seit 2009 verdreifacht.

• Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es mehr als Hunderttausend Kegelrobben an der Ostseküste. Hundert Jahre später waren sie nahezu ausgerottet. Seit 2004 kehren immer mehr Robben zurück. Derzeit leben an der nördlichen Ostsee mehr als 40.000 Tiere.

Mit mehr Schutzgebieten und nachhaltiger Landbewirtschaftung ließe sich der Verlust der biologischen Vielfalt aufhalten, ist Christoph Heinrich, geschäftsführender Vorstand des WWF Deutschland, überzeugt.

Amphibien vermehren sich in neu angelegten Teichen

Ein anderes Beispiel für erfolgreichen Artenschutz ist ein Schweizer Amphibienprojekt. Bis vor 20 Jahren waren die Amphibien im Kanton Aargau noch vom Aussterben bedroht. Das Verschwinden von Fröschen und Kröten alarmierte die Wissenschaftler der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).

In Zusammenarbeit mit dem Wasserforschungsinstitut Eawag und der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz legten die Forscher mehr als 400 neue Tümpel und Teiche an, die sie mit Amphibien besiedelten. In der Folge nahmen die Bestände von zehn der zwölf gefährdeten Arten wieder zu, darunter die Gemeine Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans), die Gelbbauchunke (Bombina variegata) und der Nördliche Kammmolch (Triturus cristatus).

Die Population des Europäischen Laubfrosches (Hyla arborea) vermehrte sich geradezu explosionsartig. Dieses deutliche Resultat habe die Wissenschaftler erstaunt, erklärt die Ökologin Helen Moor von der WSL. In 77 Prozent der 43 bekannten Metapopulationen halfen die neuen Teiche die Individuenzahl der meisten Arten zu erhöhen bzw. zu stabilisieren.

Je größer der neu angelegter Teich oder je näher er zum Wald und zu anderen Teichen war, desto höher war die Chance, dass er besiedelt wurde. So nahm der Bestand der Gelbbauchunke, die gerne neue, offene Gewässer besiedelt, insbesondere im Rhein- und im Aaretal stark zu. Die Laubfroschpopulation im Reusstal hat sich im untersuchten Zeitraum sogar mehr als verdoppelt.

Eine Ausnahme bildete die Kreuzkröte (Epidalea calamita), die große überschwemmte Flächen im Offenland mit schwankendem Wasserstand bevorzugt. In diesem Fall war es offenbar nicht gelungen, die spezifischen Ansprüche der Kreuzkröte an deren Lebensraum zu berücksichtigen. Die Ergebnisse sind in einer aktuellen Studie veröffentlicht.

Artenschutz kann gelingen, wenn der politische Wille zum Handeln da ist und die Akteure am gleichen Strick ziehen. Das Wissenschaftlerteam um Helen Moor hofft nun, dass das Projekt Nachahmer findet und auch in anderen Regionen verstärkt Teiche angelegt werden. Denn: Jeder neu angelegte Teich ist für Amphibien wertvoll.

Milliarden Angelhaken töten Meerestiere

Auch im Meer treibendes Fanggerät befeuert den marinen Artenschwund: Fische, Schildkröten, Vögel und andere Meerestiere verfangen sich täglich in verloren gegangenen oder absichtlich zurückgelassenen Fischernetzen. Das Team um Kelsey Richardson der University of Tasmania, Australien, versuchte nun erstmalig, das globale Ausmaß der zurückgelassenen Netze, Reusen oder Langleinen und anderen Fanggeräte abzuschätzen.

Zu diesem Zweck befragten die Wissenschaftler 451 Fischer aus verschiedenen Ländern, wie viele und welche Fanggeräte sie jährlich verlieren. Diese Verluste setzten die Forschenden ins Verhältnis zum globalen Fischereiaufkommen, wobei sie unterschiedliche Fangmethoden und Schiffsgrößen berücksichtigten. Wie die Hochrechnungen ergaben, bleiben nahezu zwei Prozent aller Fanggeräte im Meer zurück.

In absoluten Zahlen sind dies 2963 Quadratkilometer Kiemennetze, 739.583 Kilometer Langleinen, 218 Quadratkilometer Schleppnetze sowie mehr als 25 Millionen Reusen und Fallen.

Insbesondere tausend Kilometer Langleinen mit 13 Milliarden Haken werden den Meerestieren zum Verhängnis, wenn sie sich daran verfangen. Bedrohte Arten wie Haie oder Rochen, deren Populationen im Laufe der letzen 100 Jahre um rund 70 Prozent schrumpfte, werden durch Angelhaken und Geisternetze weiter dezimiert.

In den Hochrechnungen enthalten sind dabei nur verloren gegangene Geräte des kommerziellen Fischfangs und nicht die von illegaler oder Freizeitfischerei. Zudem gehen die Wissenschaftler davon aus, dass die befragten Fischer weniger Verluste ihrer Geräte angaben, als tatsächlich anfielen.

Allerdings könnte es sein, dass sich durch das Aufspüren und die Bergung verloren gegangener Netze mittels Einsatz moderner Ausrüstung die Verluste zwischenzeitlich verringern konnten. Auf Grundlage ihrer Ergebnisse soll das Risiko unterschiedlicher Fanggeräte bewertet und effektive Schutzmaßnahmen ergriffen werden, wünschen sich die Wissenschaftler. Auf diese Weise gingen nicht nur weniger Fanggeräte verloren, auch die Meeresbewohner würden besser geschützt.

Naturschutz durch Umleitung umweltschädlicher Subventionen

Auf der Weltnaturkonferenz in Montreal im Dezember 2022 bietet sich erneut eine erneute Chance, das Artensterben zu verlangsamen, wenn nicht zu stoppen. Denn hier soll ein global verbindliches Rahmenabkommen zum Schutz der Ökosysteme, der biologischen Vielfalt und zur nachhaltigen Nutzung der Natur verabschiedet werden.

Ein Entwurf sieht unter anderem vor, dass die Verwendung von Pestiziden bis 2030 weltweit um zwei Drittel verringert und die weitere Belastung der Umwelt mit Plastikmüll gestoppt werden soll. Zudem sollen jeweils 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche des Planeten unter Schutz gestellt werden. Bestehende intakte Ökosysteme und Wildnisgebiete sollen erhalten, gestörte Ökosysteme renaturiert werden.

Fischfang, Jagd, Landwirtschaft und Waldnutzung sollen nachhaltig umgestaltet und die Umweltverschmutzung durch Schadstoffe massiv verringert werden.

30 Prozent der Flächen als Totalreservate einzustufen – in Deutschland zumindest ginge das nicht, gibt Agrarbiologe Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung im Interview mit Greenpeace zu bedenken.

Denn hierzulande gibt es noch nicht einmal ein Prozent Wildnis, dafür viel - vom Menschen seit Jahrhunderten geprägte – Kulturlandschaft. Naturschutz- und Fauna-Flora-Habitat-Gebiete ergeben zusammen 20 Prozent. Diese bereits bestehenden Gebiete müssten einfach sehr nachhaltig genutzt werden, erklärt der Wissenschaftler.

Die Frage sei, wie Natur und Menschen nicht als Gegenspieler, sondern als gemeinsame Akteure auftreten könnten. Im September kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, bis 2025 jährlich 1,5 Milliarden Euro für den internationalen Biodiversitätsschutz bereitzustellen, doppelt so viel wie im Durchschnitt der Jahre 2017 bis 2021 investiert wurde.

Deutschland setze damit ein sehr wichtiges Signal, besonders in dieser schwierigen Zeit, freut sich Florian Titze vom WWF, auch wenn es eigentlich mindestens zwei Milliarden Euro sein müssten. Doch wo soll das Geld für mehr Naturschutz herkommen in Zeiten steigender Preise und sinkender Steuereinnahmen?

Jedes Jahr gibt die Regierung rund 68 Milliarden Euro an umweltschädliche Fördersummen aus. Darin enthalten sind Subventionen für die industrielle Landwirtschaft bis hin zu Zuschüssen für Dienstwagen, kritisiert der WWF-Experte.

Würde man den Großteil dieser Subventionen ökologisch nachhaltig und sozial gerecht gestalten, wäre der Natur doppelt geholfen,Wichtig sei, dass es bei den Aufwendungen für den Arten- und Naturschutz um zusätzliches Geld gehe – und nicht etwa um Mittel für den Klimaschutz, die nur umgewidmet werden.

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