Das große Schweigen
Israelis und Palästinenser hoffen darauf, dass die Waffenruhe im Gazastreifen hält
Die Führungen von Israelis und Palästinensern haben sich am Samstag Abend überraschend auf einen Waffenstillstand im Gazastreifen geeinigt. Die Hoffnungen auf ein Ende der Gewalt währten allerdings nur kurz: Zwar hatte die israelische Armee bereits in der Nacht zum Sonntag ihre Operationen in dem dicht bevölkerten Landstrich beendet und ihre Truppen abgezogen. Doch weniger als eine Stunde nach dem Beginn der Waffenruhe um sechs Uhr Ortszeit (5:00 MEZ) schlugen in der israelischen Stadt Sderot wieder Raketen ein. Die Verantwortung dafür übernahm der Islamische Dschihad und erklärte, man werde sich an der Übereinkunft nicht beteiligen – ein herber Schlag für den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas und seinen Regierungschef Ismail Hanijeh, die gehofft hatten, auf diese Weise einen diplomatischen Durchbruch erzielen zu können. Denn die Dinge sind auch so schon schwierig genug: Die Verhandlungen über die Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit aus Abbas' Fatah-Fraktion und der radikalislamischen Hamas Hanijehs bewegen sich immer noch auf der Stelle und in Israel wird zunehmend eine dauerhafte Wiederbesetzung des Gazastreifens gefordert, um den Raketenbeschuss einzudämmen.
Sderot muss man sich ungefähr so vorstellen: In der Mitte der gescheiterte Versuch eines Parks, umgeben von einer willkürlichen Ansammlung von Gebäuden, deren Architekten vermutlich ungern mit ihnen in Verbindung gebracht werden möchten, drumherum – fast nichts: Felder, mühsam dem kargen Boden, der hier schon fast Wüste ist, abgetrotzt, unterbrochen von Kibbutzim und Moschawim, Kollektive, deren Bewohner einst die knochenbrechende Aufgabe auf sich genommen hatten, diese Einöde zum Blühen zu bringen und sich auch heute noch als erste Verteidigungslinie des jüdischen Staates sehen, denn der Gazastreifen ist nur wenige Kilometer weit entfernt.
Mit der ideologischen Überzeugung dieser Menschen haben die meisten Einwohner von Sderot wenig am Hut: Sie leben nicht hier, weil sie möchten, sondern weil sie müssen. Nach ihrer Einwanderung aus der arabischen Welt oder aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurden sie von der Regierung hierhin geschickt, als menschliches Schutzschild gegen den palästinensischen Landstrich, der sozusagen wie ein Stachel in das israelische Staatsgebiet hinein ragt. Die einfache Formel aus der Gründungszeit des Staates „Menschen erzeugen einen Markt, der Arbeitsplätze schafft“ galt da schon lange nicht mehr; Die Israelis kauften lieber ausländische Produkte als die einheimischen Eigenprodukte, deren Hersteller, Betriebe im Besitz von Stadt oder Gewerkschaften, die Wirtschaft bis in die 70er Jahre hinein am Laufen gehalten hatten. Rasend schnell verschwanden im nördlichen Süden des Landes Tausende von Jobs, und damit auch die Chancen der Menschen von Sderot, es jemals in nettere Gegenden zu schaffen. Immerhin, ist in der Stadt immer wieder zu hören, immerhin seien die Wohnungen hier billiger als anderswo, und der Zusammenhalt ziemlich „Schiga'on“, ein Slangwort, dasssowohl die höchste Form der Euphorie, als auch der Frustration ausdrücken kann und damit kaum zu übersetzen ist.
„Wann hört das endlich auf?“
In dieser Stadt also verpasst am Sonntagmorgen Motti, der Friseur, mit stoischer Ruhe seinen Kunden wahlweise Pilz-, Altherren- oder Millimeterschnitt, packt Avi, der Laufbursche vom Gemischtwarenladen nebenan, die Regale voll, scheucht Anat, eine junge Lehrerin, die Kinder ins Schulgebäude, bereiten sich nebeneinander Teams von „Al Jazeera English“ und dem israelischen Kabelsender Kanal Acht auf die nächste Schaltung vor, als in der Ferne ein Pfeifen hörbar wird, das näher kommt, von der schrill aufheulenden Luftsirene übertönt wird, bis es zu einem Krachen mutiert, das kurz darauf mit dem lauten, metallisch-scharfen Knall einer Explosion endet.
„Wann hört das endlich auf?“, schreit eine Frau über die Straße, als die ersten Schocksekunden vergangen sind und die Menschen vom Boden aufstehen, auf den sie sich beim Ertönen der Luftsirene geworfen haben. Es ist das Einzige, was man hier tun kann, denn Luftschutzräume, die in Tel Aviv, Jerusalem oder Haifa eine Selbstverständlichkeit sind, gibt es hier nur wenige, und das obwohl die Stadt schon seit Langem unter den Kassam-Raketen leidet, die aus dem Gazastreifen in Richtung Israel abgefeuert.
Eigentlich sollten jetzt die Waffen schweigen, das hatten jedenfalls die Führungen von Israelis und Palästinensern am Abend zuvor beschlossen, eine Entscheidung, die überraschend kam, und von der palästinensischen Seite ausging: Sämtliche palästinensischen Fraktionen hätten sich auf einen zunächst auf den Gazastreifen begrenzten Waffenstillstand geeinigt, wenn Israel im Gegenzug seine Soldaten von dort abziehen werde, hatte Präsident Abbas Regierungschef Olmert in den späten Stunden des Samstag abends mitgeteilt; der israelische Premierminister nahm dankend an, und befahl den Soldaten den Rückzug.
Dennoch ist in Sderot vom Waffenstillstand im Moment noch nichts zu bemerken. „Die letzte Nacht war sogar noch schlimmer als sonst“, berichtet Motti, der Barbier: „Die Raketen kamen eine nach der anderen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier ein Auge zugetan hat.“ Sechs Kassams, wie die palästinensischen Eigenbauten heißen, seien es bis zum Beginn des Waffenstillstandes um sechs Uhr Ortszeit (5:00 MEZ) gewesen, rechnet ein Militärsprecher vor, der aus Tel Aviv herbei geeilt ist, um die unzähligen in- und ausländischen Journalisten zu betreuen, die kurz nach dem Bekanntwerden der Nachricht vom Waffenstillstand nach Sderot gereist sind. „Schön, dass Ihr Euch mal wieder für uns interessiert“, waren Worte, mit denen sie von den Einwohnern begrüßt wurden. „Sie müssen die Leute verstehen“, sagt Motti: „Sie haben kein Vertrauen mehr in die Öffentlichkeit oder die Politik. Vor ein paar Monaten wurde uns Hilfe versprochen, dann brach der Libanon-Krieg aus und plötzlich sprach keiner mehr davon, was wir hier durchmachen. In den Medien sah es so aus, als wäre die Lage hier in Ordnung, aber das war sie gar nicht.“
Mehr als 1200 Kassam-Raketen seien seit dem Abschluss der Räumung aller israelischen Siedlungen im Gazastreifen auf Israel abgefeuert worden, hat die amerikanische Lobbyorganisation „The Israel Project“ ausgerechnet und damit ausgerechnet der israelischen Rechten den Unterbau für ihr Argument geliefert, die Siedlungsräumungen seien die Ursache für den Raketenbeschuss und nur eine Wiederbesetzung des Gazastreifens könne Abhilfe schaffen – eine Idee, die auch zunehmend durch die Köpfe der Politiker aus dem Zentrum geistert: „Was wir jetzt brauchen, ist eine Ausweitung der Militäroperationen“, hat Avi Dichter, Minister für innere Sicherheit und ehemaliger Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, in den frühen Morgenstunden gesagt.
Bildungsministerin Juli Tamir von der Arbeiterpartei deutete mit den Worten „Israel kann die Lage keinen Tag länger mehr hinnehmen“ an, dass auch sie nicht mehr an eine friedliche Lösung des Ganzen glaubt. Und Marina Solodkin, Abgeordnete von Olmerts Partei Kadima, mutmaßte, dass weder die radikalislamische Hamas von Regierungschef Ismail Hanijeh noch die Fatah-Fraktion von Präsident Mahmud Abbas in der Lage sind, ihre eigenen Leute, geschweige denn andere palästinensische Gruppen wie zum Beispiel den Islamischen Dschihad zu kontrollieren, der die Verantwortung für die nach dem Beginn des Waffenstillstands abgefeuerten Raketen übernommen hat: „Das sind doch alles nur Worte. Wenn sie könnten, hätten sie doch schon längst ihre Regierung der Nationalen Einheit gebildet, und wir alle wären einen Schritt weiter.“
Mitarbeiter von Abbas und Hanijeh räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass sich die Führung der palästinensischen Autonomiebehörde in einer „sehr schwierigen“ Situation befindet: Vieles, was hätte getan werden müssen, sei in den vergangenen Monaten wegen des Ringens um die Regierungsumbildung liegen geblieben. „Das bedeutet aber nicht, dass wir es jetzt nicht in den Griff bekommen können“, sagt ein Beamter aus den Umfeld Hanijehs: „Wir haben unsere Lektion gelernt und arbeiten daran.“
Rätselraten um die offenbar zwischen der israelischen und palästinensischen Regierung getroffenen Absprachen
So bestätigt die Hamas, dass Israel in der Tat alle Truppen aus dem Gazastreifen abgezogen hat, und reagiert in den Mittagsstunden auf den Verdacht, auch Mitglieder des bewaffneten Flügels der Organisation hätten den Waffenstillstand gebrochen, indem sie allen Angehörigen der Essedin al Kassam-Brigaden befiehlt, sich von der Grenze fernzuhalten. Kurz darauf werden Hunderte von palästinensischen Sicherheitsbeamten ins Grenzland geschickt, ausgestattet mit dem Befehl, auf jeden zu feuern, der sich in dem Gebiet aufhalte. „Vermutlich wird es noch eine Zeit lang dauern, bis unsere Maßnahmen Wirkung zeigen werden“, sagt ein Sprecher des palästinensischen Innenministeriums, „aber ich versichere Ihnen, dass wir alles tun, was wir können, auch wenn dies nicht bedeutet, dass 100 Prozent an Einsatz am Ende auch 100 Prozent Erfolg bedeuten werden.“
Zumindest für Israels Premierminister Ehud Olmert scheint dies genug zu sein: Während seine Minister, und große Teile der Knesseth, nach dem missglückten Start des Waffenstillstandes mit dem Gedanken der Wiederbesetzung Gazas spielen, mahnt er immer wieder zur Besonnenheit: „Jedem muss bewusst sein, dass ein Waffenstillstand keine sofortige Wirkung zeigen kann“, sagt er während eines Besuches in der Negev-Wüste: „Ich habe die Truppen angewiesen, sich zurück zu halten und dem Waffenstillstand eine Chance zu geben. Wenn alle Beteiligten nun mit Verantwortungsbewusstsein und Zurückhaltung handeln, dürfte es uns möglich sein, den Waffenstillstand auch auf das Westjordanland auszuweiten.“ Bei der gleichen Gelegenheit spricht er auch von „Kontakten“, die es in den vergangenen Wochen zwischen beiden Seiten gegeben habe: Sie hätten zu Übereinkünften geführt, die nun dringend bei einem persönlichen Treffen zwischen ihm und Präsident Abbas fest geklopft werden müssten.
Worum es sich bei diesen Absprachen handelt, warum die Palästinenser überraschend einen kurzfristigen Waffenstillstand vorschlugen, darüber herrscht zur Stunde Rätselraten: Die militanten palästinensischen Gruppen wollten die Gelegenheit nutzen, um sich neu zu formieren und ihre Reihen zu schließen, sagen Beobachter und Politiker aus dem rechtskonservativen Lager in Israel. Die Palästinenser wollten eine umfassende Militäroffensive und weitere Angriffe auf Funktionäre der Hamas abwenden, glauben das israelische Militär und Avi Dichter, der Minister für innere Sicherheit: Allein in der vergangenen Woche seien 25 Führungsmitglieder des bewaffneten Flügel der Hamas und des Islamischen Dschihad vom Militär getötet worden, rechnete der Militärsprecher in Sderot am Morgen vor.
Palästinensische und israelische Journalisten sind sich derweil überwiegend einig, dass der Waffenstillstand weniger spontan kam, als es im Moment scheint, und das Ganze Teil eines größeren Abkommens ist. „Ich tippe darauf, dass man sich auf einen Gefangenenaustausch geeinigt hat“, sagt Ariel Mojal vom Fernsehsender Kanal Eins: „Die Knackpunkte in den Verhandlungen waren das Ende der Raketen und die Frage, ob gleichzeitig oder zeitversetzt ausgetauscht wird. Ich vermute, dass man einfach als Deal ,Das Eine für das Andere“ festgelegt hat.“
Uneinigkeiten bei den Regierungen auf beiden Seiten
Die Ereignisse am Sonntag zeigen aber auch, dass sowohl die palästinensische als auch die israelische Führung zu Hause große Probleme haben: Die Verletzungen des Waffenstillstandes zeigen, dass Vereinbarungen der Führungen der einzelnen Fraktionen in den Palästinensischen Gebieten nicht mehr zwangsläufig von ihren Mitglieder respektiert werden. „Das Ringen um die Regierungsumbildung hat den beteiligten Politikern viel an Respekt gekostet; die Basis nimmt sie nicht mehr ernst“, sagt der palästinensische Journalist Ali Waked: „Es gibt Streit um die Richtung; man wirft den Führungsspitzen vor, Marionetten der Israelis geworden zu sein.“
Streit um die Richtung gibt es auch in der israelischen Regierung, und das vor allem zwischen Olmert und seinem Verteidigungsminister Amir Peretz: Begonnen hatte alles mit einem heimlichen Anruf Peretz' bei Abbas, in dem er den Präsidenten um einen Waffenstillstand bat, ohne dass Olmert davon etwas wusste. Als er die Waffenruhe dann endlich kam, wurden die Differenzen zwischen den Beiden mehr als offensichtlich: Während Olmert von Zurückhaltung sprach, erklärte Peretz, der übrigens aus Sderot stammt und dort nach wie vor jedes Wochenende verbringt, die Armee werde auf jede Verletzung des Waffenstillstandes mit erbarmungsloser Härte reagieren – ein klarer Affront gegen den nach wie vor an dem heimlichen Anruf laborierenden Olmert, der ihn lieber heute als morgen in die Wüste schicken würde, zumal er damals hatte eingestehen müssen, dass er von dem Gespräch nur erfuhr, weil die Geheimdienste das Telefon des palästinensischen Präsidenten abhören – ein Geheimnisverrat, der die Chefs dieser Dienste auf die Palme brachte.
Für Peretz geht es im Moment vor allem um seine Ämter: Seine Politik der harten Hand ist in Gaza offensichtlich gescheitert; der Versuch, einen Waffenstillstand auszuhandeln, und damit in seine alte Rolle als Friedensstifter zurückzukehren, die er noch während des Wahlkampfes Anfang des Jahres gespielt hat, schief gegangen. „Das Signal heute ist, dass es auch ohne Peretz ganz gut geht“, sagt Mojal, „vielleicht sogar noch besser als mit ihm.“
Denn nicht nur er ist davon überzeugt, dass er den Menschen in Sderot näher steht, als er sollte: „Er ist regelrecht besessen davon, den Leuten dort zu helfen“, sagen jene, die ihn schon seit Jahren gut kennen. „Sein gesamtes Handeln wird von Sderot bestimmt: Wenn er für mehr Arbeitsplätze und höhere Mindestlöhne eintritt, dann tut er das, weil es dort nicht genug gibt; wenn er Angriffe auf Beit Hanun befiehlt, macht er das, weil Raketen auf die Stadt abgeschossen werden.“ Für Journalist Mojal ist deshalb klar: „Vieles, wofür Peretz eintritt, nutzt allen Israelis, egal weswegen er es tut. Aber es wird zunehmend erkennbar, dass er den Sinn für die Relationen verloren hat.“
In Sderot will man davon indes nichts wissen: Viele hier machen nicht Peretz, sondern Olmert für die Misere verantwortlich. „Er ist der Regierungschef“, sagt Anat, die Lehrerin: „Es ist seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass sich etwas tut. Das Hauptproblem ist doch, dass das Militär nicht alle Probleme lösen kann. Raketen haben wir auch schon abbekommen, als es im Gazastreifen noch Siedlungen und Tausende von Soldaten gab. Also kann die Lösung nur ein neuer Friedensprozess sein. Das aber ist nicht passiert: Olmert hat uns vor den Wahlen Großartiges versprochen und dann danach alles wieder vergessen.“ Auch Avi, der Laufbursche ist überzeugt: „Peretz tut das Einzige, was er tun kann: Soldaten schicken. Die haben ihm ja sogar sein Budget zusammen gestutzt.“ Motti, der Friseur, macht keinen Hehl aus seiner Hochachtung für Peretz: „Er ist ein Sohn dieser Stadt, und ist es immer geblieben, obwohl er es zu was gebracht hat. Er hat uns nie vergessen, anders als die Leute in Tel Aviv oder Haifa, die so tun, als würde es uns gar nicht geben.“
Es ist ruhig geworden in der Stadt. Seit Stunden schon hat die Sirene nicht mehr geheult, ist keine Rakete mehr eingeschlagen. Die Journalisten trinken Kaffee, manchmal auch ein Bier, und warten auf die nächste Schalte, wenn nichts mehr passiere, haben die Redaktionsleiter schon am frühen Nachmittag durchgegeben, sollen sie zusammenpacken.
Ein paar Kilometer weiter westlich stehen sich nun israelische Soldaten und palästinensische Polizisten gegenüber. In Beit Hanun, jener Stadt im Gazastreifen, die Anfang November der Schauplatz einer israelischen Militäroperation war, die mehr als 80 Menschen das Leben kostete, herrscht zum ersten Mal seitdem wieder so etwas wie ein normales Leben; Menschen bevölkern wieder die Straße, decken sich mit den Lebensmitteln ein, die es noch zu erschwinglichen Preisen zu kaufen gibt. Bewaffnete Kämpfer sind keine zu sehen. Es scheint, als würde der Waffenstillstand halten.