Das grüne Europa der freien Völker
Im Europäischen Parlament kooperieren die Grünen mit separatistischen Parteien wie der Neuen Flämischen Allianz
Seit 1999 bilden die Grünen in Straßburg eine Fraktionsgemeinschaft mit der Europäischen Freien Allianz, in der sich mehr oder weniger separatistische Parteien wie die Neue Flämische Allianz (N-VA), die Scottish National Party, die Süd-Tiroler Freiheit und die korsische Partitu di a Nazione Corsa zusammengeschlossen haben.
Während die europäische Öffentlichkeit sich überwiegend geschockt vom Wahlergebnis in Belgien zeigte, das die separatistische Neue Flämische Allianz (N-VA) zur stärksten politischen Kraft machte, begrüßten die französischen Grünen im Europa-Parlament das Resultat. „Der Machtgewinn der N-VA hat die politische Ordnung in Flandern wiederhergestellt, indem er der flämischen Sache einen ganz und gar demokratischen Ausdruck verlieh und den Stimmenanteil von Vlaams Belang um die Hälfte sinken ließ“, hieß es auf der Website von Europe Ecologie.
Für den Verfasser François Alfonsi, der den Beitrag als persönliche Stellungnahme verstanden wissen wollte, eröffnet das Ergebnis nicht nur Flandern, sondern auch Europa große Chancen. Allerdings hat er dabei nur bestimmte Regionen im Auge: Schottland, Katalonien und das Baskenland. Und natürlich seine eigene. Alfonsi stammt nämlich aus Korsika und sitzt für die Partitu di a Nazione Corsa in Straßburg, die wiederum als Mitglied der Europäischen Freien Allianz (EFA) eine Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen bildet. Darum hält sich sein Patriotismus auch in Grenzen. Heftig polemisiert der Politiker gegen die französische Sicht auf die flandrischen Dinge im Allgemeinen und gegen die „jakobinischen Medien“ im Besonderen, die der N-VA und ihrem Vorsitzenden Bart de Wever zu Unrecht Rechtslastigkeit und Ausländerfeindlichkeit attestiert hätten.
Mitgemeint ist dabei auch Daniel Cohn-Bendit, denn der Co-Präsident von Die Grünen/Europäische Freie Allianz hatte sowohl der N-VA als auch den wallonischen Sozialisten vorgeworfen, bei der Wahl auf eine konservative Kirchturmpolitik gesetzt zu haben. Als Ausdruck einer Angst vor neuen Herausforderungen interpretierte Cohn-Bendit das Ergebnis des Urnengangs.
Das ist das, was ich ‚Die kulturelle Liga der Lombardei oder wie schütze ich mich vor den Problemen der Globalisierung' nenne.
Auf die sechs lombardische Ligen in den Reihen der eigenen Fraktionsgemeinschaft ließ Cohn-Bendit allerdings nichts kommen. Mit der N-VA, der Scottish National Party, der lettischen PCTVL, der walisischen PC, der katalanischen ERC und Alfonsis PNC kann der Grüne offenbar gut leben. „Unsere Gruppe ist nicht regionalistisch“, versicherte er Liberation, aber wir haben Leute unterschiedlicher Richtungen bei uns, das ist bei den anderen Gruppen auch so“. Großen Streit gibt es untereinander nicht: „Bei 80 Prozent der Abstimmungen sind wir einer Meinung“. Und in der Tat stimmte in der Legislaturperiode 2004 bis 2009 keine politische Vereinigung einmütiger ab.
N-VA, SNP & Co.
Das verwundert einigermaßen, nicht nur angesichts der N-VA. Die Partei gibt sich zwar moderat und zog ohne ein ausländerfeindliches Programm in den Wahlkampf - sie spielte nur die alte konservative Leier und forderte von den Migranten Sprachkenntnisse und Anpassung an die Sitten und Gebräuche der neue Heimat ein. Aber sie kann auch anders. 2005 verteilte die Neue Flämische Allianz Massen von falschen 50-Euro-Scheinen vor einer wallonischen Fabrik, um gegen den inner-belgischen Finanzausgleich zu protestieren.
Die Trennlinie zur extremen Rechten ist ebenfalls nicht immer scharf gezogen. Noch im April demonstrierte die N-VA gemeinsam mit Vlams Belang und der Liste Dedecker für die Teilung des Bezirks Brüssel, der als Haupthindernis für die Zerschlagung Belgiens gilt. Im Jahr 1996 besuchte der N-VA-Vorsitzende Bart de Wever einen Vortrag des französischen Rechtsaußen Jean-Marie Le Pen und diskutierte mit ihm. Als das Foto von dem Zusammentreffen 2007 in Umlauf kam, verteidigte de Wever sich mit den Worten, er würde sich eben gerne aus erster Hand informieren. 2006 gab es dann wieder Gelegenheit dazu: Die beiden trafen sich auf der Beerdigung des Vlams-Blok-Gründers Karel Dillen wieder.
Ein Jahr später kritisiert Bart de Wever den Antwerpener Bürgermeister Patrick Janssens vehement, weil dieser sich bei der Jüdischen Gemeinde offiziell für die Mitwirkung der Stadt bei den Deportationenen während der Besatzungszeit entschuldigt hatte. De Wever wollte von der Kollaboration, die im flämischen Teil Belgiens ausgeprägter war als im wallonischen, nichts wissen. „Die Stadt Antwerpen hat die Deportationen nicht organisiert, sie war ein Opfer der Nazi-Okkupation ... Die damals Verantwortlichen mussten in schweren Zeiten schwere Entscheidungen treffen. Ich finde es nicht sehr mutig, sie jetzt zu stigmatieren“, sagte er und nannte das Vorgehen Janssens „billig“. Damit nicht genug, konnte er der beliebten Übung nicht widerstehen, Israels Politik in den besetzten Gebieten mit Nazi-Methoden zu vergleichen. Erst nach massiven Protesten der Jüdischen Gemeinde entschuldigte de Wever sich für seine Einlassungen.
Auch die anderen fünf Parteien, die in Straßburg mit den Grünen zusammenarbeiten, haben es in sich. Die Scottish National Party (SNP) beispielsweise hielt nur die politische Aussichtslosigkeit von dem Unterfangen ab, in diesem Jahr ein Referendum über die Loslösung von England zu organisieren. Ex-Premier Gordon Brown, der selbst aus Schottland stammt, sah sich angesichts der SNP-Aktivitäten schon 2007 gezwungen, seine Landsleute dazu aufzurufen, „jeder Entwicklung hin zu einer Balkanisierung Großbritanniens zu widerstehen“. Und die ERC kämpft nicht nur für eine „katalanische Nation“, sie betreibt auch eine aggressive Form der Sprachpflege. So trug die Partei im Regional-Parlament ein Gesetz mit, das den Gebrauch des Katalanischen im nicht-privaten Schriftverkehr zur Pflicht erklärt und Zuwiderhandlungen unter Strafe stellt. Zugleich gelang es ihr auf der europäischen Ebene, die Übersetzung bestimmter Rechtsakte ins Katalanische, Baskische und Galizische zu erreichen.
Das jüngst erfolgte Urteil des spanischen Verfassungsgerichts, welches das katalanische Autonomie-Statut weitgehend bestätigte, aber einige Einschränkungen vornahm (siehe Drohen zwischen Katalonien und Spanien belgische Zustände?), lehnte die ERC ab. Eine „Demütigung“ nannte der Parteivorsitzende Juan Puigcercos es, der Region den Rang einer Nation abzusprechen und auf einer Gleichbehandlung von spanischer und katalanischer Sprache in einem Gebiet zu bestehen.
Die Parteien der Europäischen Freien Allianz, die keinen Sitz im EU-Parlament haben, entfalten in ihren Heimatländern ebenfalls beträchtliche Zentrifugalkräfte. Die Süd-Tiroler Freiheit streitet unermüdlich für deutschsprachige Ortsnamen und überzog den Landesteil schon mit Plakaten in Form der österreichischen Nationalflagge, auf denen der Slogan prangte: "Süd-Tirol ist nicht Italien". Die Ruch Autonomii Slaska (RAS) hätte gern ein autonomes Schlesien und arbeitet zu diesem Behufe auch mit ihren deutschen Freunden von der „Initiative der Autonomie Schlesiens“ zusammen.
„Eine potenzielle Bedrohung der polnischen Interessen“ sehen die Verfassungsschützer des Landes in der RAS, während ihre bulgarischen Kollegen die UMO Ilinden-Pirin, die Partei der mazedonischen Minderheit, mit Argusaugen beobachten. Im Jahr 2000 verbot der Staat wegen separatistischer Umtriebe sogar Versammlungen, woraufhin der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihn verurteilte. Aber die EFA kennt auch Grenzen: 1994 suspensierte sie die Lega Nord wegen ihres Bündnisses mit der Alleanza Nazionale.
„Nationen ohne Staaten“
Das Europa, wie wir es kennen, ist auf der Homepage der EFA trotzdem kaum mehr zu entdecken. Ein Maus-Klick auf das dortige Kartenwerk genügt, und es tut sich ein merkwürdiges Gebilde auf. England ist um Schottland, Wales und die Region Cornwall ärmer, und Spanien umfasst nur noch einen Bruchteil seines heutigen Territoriums. Auf dem Rest erstrecken sich Galizien, Katalonien, das Baskenland, Andorra und Asturien. Okzetanien lappt weitflächig ins heutige Frankreich hinein, das noch dazu der Bretagne verlustig geht. Belgien trifft es am schlimmsten - es verschwindet ganz von der Landkarte. Die EFA macht also aus Europa nicht nur einen Flickenteppich, sie stellt darüber hinaus die territoriale Integrität vieler Staaten in Frage.
Sie tut das mittels eines ominösen Begriffes von „Nation“. „Nicht alle europäischen Staaten von heute sind ‚Nationen‘“, heißt es in der Brüsseler Erklärung vom Jahr 2000, „einige sind Gebilde aus mehreren unterschiedlichen Nationen. Diese internen Nationen werden manchmal ‚staatenlose Nationen‘ (...) genannt“. Zum Beispiel von François Alfonsi in dem eingangs zitierten Artikel. Unter der Überschrift „Flandern, eine europäische Nation“ feiert er darin den Wahlausgang als Sieg einer „Nation ohne Staat“. Mit der republikanischen Bestimmung der Nation als politischer Rechtsgemeinschaft haben Alfonsi & Co. nichts am Hut. Sie definieren diese anhand ethnischer Kriterien und kultureller Prägungen und fordern eine „direkte Präsenz staatenloser Nationen“ bei der Europäischen Union durch eine Kammer mit Regionalvertretern ein.
Die Verbindung des Regionalen mit dem Supra-Nationalen sucht dabei nicht nur Alfonsi. Die schottische SNP strebt eine „Unabhängigkeit in Europa“ an, die RAS ein autonomes Schlesien als Teil eines vereinten Europas und die Plaid Cymru imaginiert „ein unabhängiges Wales, das eine fortschrittliche und entscheidende Rolle in Europa übernimmt“.
Wo Cohn-Bendit, der seine EFA-Freunde mit den Worten verteidigte: „Das sind Europäer, sicherlich Regionalisten, aber Europäer“, noch einen möglichen Zielkonflikt insinuierte, da sehen diese nicht nur eine Vereinbarkeit, sondern eine notwendige Bedingung. Nur als Europäer können sie Regionalisten sein. Von „Euro-Nationalismus“ spricht die SNP in diesem Zusammenhang. Ihr gilt die große EU als Schutzmacht der kleinen Staaten und Motor der Separationsbestrebungen. „Demokratie vertiefen durch Dezentralisierung“ heißt das dann im gemeinsamen Statut von Grünen und EFA.
„Auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips wollen wir eine Europäische Union freier Völker aufbauen, die an Solidarität miteinander und mit allen Völkern der Welt glauben“, erklären die Fraktionen. Die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ mag nicht an solch hehre Ziele glauben. „Das Verhältnis der Regionalparteien zu Solidarität und Subsidiarität als Prinzipien der europäischen Integration ist - soweit es noch vorhanden ist - rein instrumentell. In der Praxis wollen die Regionalisten ihre wirtschaftlichen Ressourcen nicht mit anderen Regionen teilen“, schreibt Sabine Riedel in ihrer Studie „Regionaler Nationalismus“.
Das grüne Band der Sympathie
Die Kooperation der Grünen mit den mehr oder weniger chauvinistischen Lokalpatrioten mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Auf den zweiten allerdings schon weniger. Die Regionalisten bedienen nämlich so allerhand Mythen, die diesem politischen Spektrum immer schon lieb und teuer waren. Es hört „ethnische Minderheit“ und denkt sogleich an Asterix und seine Gallier, „David und Goliath“ und „Small is beautiful“. Big ist dagegen Brother. „Das Zentrum - das ist die Macht“, sagte mir einmal sinngemäß ein junger linker Spanier, der nicht länger Spanier sein wollte. Er kann sich dabei durchaus auch auf Erfahrungen aus der Geschichte berufen. denn Franco hat die baskische und katalanische Nationalbewegung genauso brutal unterdrückt wie sein Pendant Mussolini die südtiroler.
Ein grüner Europa-Politiker verkörperte paradigmatisch die Verbindung von links-alternativem mit regionalistischem Denken: Der 1995 verstorbene Alexander Langer. Er stammte aus Südtirol und hat dort schon früh für die Autonomie gestritten, wobei er sich immer von rechten Tendenzen absetzte. Langer machte sich dafür stark, „aus der Phase der Attentate in eine Phase der Demokratie“ zu gelangen und vermied es sorgsam, eine Volksgruppen-Politik zu betreiben. Stattdessen gab er eine zweisprachige Zeitung mit heraus, engagierte sich bei einer inter-ethnischen Bürgerliste und weigerte sich bei einer Volkszählung standhaft, sich zu einer der drei Sprachgruppen zu bekennen.
Mitte der 80er Jahre gehörte der Südtiroler zu den Mitbegründern der italienischen Grünen. Von 1989 bis zu seinem Freitod im Jahr 2005 vertrat er die Partei im Europa-Parlament, und genauso lange saß er der gesamten Fraktion als Co-Vorsitzender vor. Auch für ihn war dieser Weg alles andere als zufällig. In einem 1986 erschienenen autobiografischen Text betonte er den Modell-Charakter seines Südtirols für ein künftiges Europa. „Minderheit sein, ohne sich deswegen in Klagen und Nostalgie abzukapseln; die eigenen Besonderheiten pflegen, ohne deswegen in einem Ghetto oder im Rassismus zu enden; die Möglichkeiten eines pluri-kulturellen und pluri-ethnischen Zusammenlebens erproben; Teil einer ethnischen Bewegung sein, ohne den ethnischen Aspekt verabsolutieren zu wollen“, das alles sollte für ein „Europa der freien Völker“ gelten.
Fast 25 Jahre später sieht die regionalistische Realität allerdings anders aus. So anders, dass die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ in ihrer Studie dazu rät, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, um ihn untersuchen zu lassen, ob die Programme von N-VA, SNP & Co. nicht den Europa-Verträgen widersprechen. Für die Autorin steht das Urteil schon fest. Ihrer Ansicht nach stecken diese Parteien noch tief im Nationalismus des 20. Jahrhunderts und torpedieren somit den europäischen Einigungsgedanken, der die Überwindung von Feindbildern zum Ausgangspunkt der Kooperation gemacht hat. Aus diesen Gründen lautet ihr Rat:
Deshalb sollten EU-Institutionen und die politischen Parteien im Europaparlament genau prüfen, welche genauen Ziele regionalistische Akteure auf europäischer Ebene und in ihrer jeweiligen Region verfolgen, bevor sie diese in Bündnisse oder Entscheidungsprozesse einbeziehen.