Das säkulare Indien lebt (noch)

Im südindischen Chennai sind die Demonstrationen kleiner, aber sie finden ebenfalls täglich statt. Foto: Gilbert Kolonko

Kein Ende der Proteste gegen umstrittene Gesetze; die Lügen der Regierung werden immer offensichtlicher. Modis Vorstellung von Indien wird im Bundesstaat Uttar Pradesh anschaulich

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Mittlerweile ist nachgewiesen, dass einige Ausschreitungen bei den gegenwärtigen Demonstrationen in Indien von "Modis-Männern" angezettelt wurden. Damit sollten alle Demonstranten in ein schlechtes Licht gerückt werden, die gegen ein umstrittenes Einbürgerungsgesetz der Zentralregierung auf die Straße gehen.

So wurden fünf Aktivisten der Studenten Organisation der rechtsradikalen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) in West-Bengalen festgenommen, als sie einen leeren Zug anzünden wollten. Die RSS ist die religiöse Denkfabrik von Modis Bharatiya Janata Party (BJP). Die fünf Festgenommenen hatten davor auch Steine auf Züge geworfen. Nicht einmal Innenminister Amith Shah kann wie üblich von einer Verschwörung sprechen - die fünf RSS Leute hatten ihre Tat gefilmt.

Telepolis hatte am 21.Dezember berichtet, dass Innenminister Amith Shah die Chief-Ministerin von West- Bengalen, Mamata Banerjee, für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht hatte. Mamata ist eine der größten Kritikerin der Politik der Spaltung von Narendra Modi und Amith Shah.

Dazu gehen viele Menschen auch gegen das Gesetz namens National Register of Citizens (NRC)-Bill auf die Straße: Mit ihm sollen die Bürger Indiens registriert und illegale Einwanderer ausfindig gemacht werden.

Ängste

Die Demonstranten werfen der Modi-Regierung vor, dass sie auch dieses Gesetz benutzt, um einzig muslimische Flüchtlinge und Bürger rauszuwerfen, auch wenn viele von ihnen schon seit 1971 in Indien leben - damals flüchteten ein paar Millionen Ost-Bengalen aus Bangladesch (damals Ost-Pakistan) vor den Massakern der pakistanischen Armee.

Dazu befürchten viele ältere Menschen, dass sie nicht ausreichend Papiere vorlegen können, die beweisen, dass sie in Indien geboren sind. Im Bundesstaat Assam, wo die die NRC schon eingeführt ist, wurden zwei Millionen Menschen zu Staatenlosen erklärt. Darunter auch ehemalige Soldaten der indischen Armee, die im Kargil-Krieg gegen Pakistan gekämpft haben.

Auch in Kolkata gehen die Demonstrationen täglich weiter. Foto: Gilbert Kolonko

In Assam befürchten die Menschen zusätzlich, dass illegale Einwanderer zu Hindus "werden", um bleiben zu können. In Assam kommt es regelmäßig auch zu Morden und Gewalttaten an eingewanderten West-Bengalen.

Innenminister Shah behauptet, die NRC habe nichts mit der Religion zu tun, dabei twitterte er noch im April: "Wir werden die Einführung der NRC im ganzen Land sichern. Wir werden jeden Eindringling entfernen außer Buddhisten, Hindus und Sikhs."

Etwas ähnliches hatte Shah schon in einem Interview im Jahr 2016 klar gemacht: "Alle Hindus, Parsis, Sikhs, Buddhisten und Christen bekommen eine Staatsbürgerschaft. Sie werden nicht gefragt, ob sie irgendwelche Dokumente haben."

Dazu behauptete Innenminister Amith Shah letzte Woche, dass die NRC nichts mit der ähnlich klingenden National Population Register (NPR) zu tun hat: Die Tageszeitung The Hindu entlarvte sachlich auch diese Aussage von Shah als Lüge.

Die Regierung des radikalen Hindupriesters Yogi Adityanath

Wie es Muslimen und Andersdenkenden in einem Hindu-Indien nach Modis und Shahs Vorstellungen ergehen würde, kann in Uttar Pradesh (UP) betrachtet werden - mit 200 Millionen Einwohnern Indiens bevölkerungsreichster Bundesstaat. Dort regiert seit 2017 der radikale Hindupriester Yogi Adityanath. Bei den Demonstrationen gegen das Einwanderungsgesetz und die NRC kam es in Uttar Pradesh zu 19 Toten.

Viele wurden unter fragwürdigen Umständen erschossen. Die Polizei sagte in jedem der Todesfälle aus, sie hätten nicht von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, doch ganz aktuell ist bei einer Autopsie bestätigt worden, dass das untersuchte Opfer von Polizeikugeln getroffen wurde.

Genauso fragwürdig sieht es bei den Anklagen gegen einige der mehr als 1.200 verhafteten Demonstranten in Uttar Pradesh aus.

Die Polizei weist alle Vorwürfe von sich und lobt sich selbst. Der bekannte indische Journalist Omar Rashid kann aus erster Hand anderes berichten. Die Polizei in Lucknow verhaftete ihn, als er in einem Café saß. Rashid sollte gestehen, dass er mit kaschmirischen Terroristen zusammenarbeitet und wurde Zeuge von brutalen Misshandlungen an einem Mitgefangenen.

Dazu gibt es Berichte einer Menschenrechtsgruppe und Zeugen, die aussagen, dass hinduistische Hilfspolizeitrupps (Police Mitrs - "friends of police") und die Polizei die Demonstranten provozierten oder angriffen haben. Anschließend hatte die Polizei einen Grund zuzuschlagen.

Dazu hat Yogi Adityanath angekündigt, die Demonstranten für die angerichteten Schäden mit ihrem ganzen Vermögen zahlen zu lassen: Erst verprügeln, dann verhaften und zur Kasse bitten, ist das Verständnis von Demokratie in Uttar Pradesh - in der Rangliste eines funktionierenden Justizsystems in Indien nimmt der Bundesstaat den letzten Platz ein.

Bei einer aktuellen Demonstration protestierten die Teilnehmer mit verbundenen Händen, damit sie nicht wegen angeblicher Ausschreitungen verhaftet werden.

Doch der Priester Yogi Adityanath ist in Uttar Pradesh nicht einfach vom Himmel gefallen. 65 Jahre herrschte politisches Chaos in Uttar Pradesh - in den ersten 50 Jahren schaffte es keine Regierung, ihre volle Amtsperiode von fünf Jahren zu überstehen. Dazu kommt Klientel- und Kastenpolitik.

Zehn Mal musste die Zentralregierung per president’s rule die Amtsgeschäfte übernehmen - so oft wie in keinem Bundesstaat Indiens. Für die die Entwicklung der Menschen wurde nichts getan. Im Index der menschlichen Entwicklung nimmt der Bundesstaat Platz 28 in Indien ein.