"Das taucht in keiner Bilanz zur Einheit auf"

Bild: Ausschnitt aus dem Buchcover "Waffenschmiede DDR"

Ein Interview mit dem Berliner Soziologen Uwe Markus zur DDR-Rüstungswirtschaft und zu den verschleuderten Sachwerten des NVA-Arsenals

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Zum Interviewpartner: Uwe Markus, Jahrgang 1958, war Offizier auf Zeit in der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, studierte anschließend Soziologie in Halle an der Saale - Schwerpunkt Arbeits- und Industriesoziologie - und arbeitete dann an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin. Nach der Wende gründete Markus mit Kollegen ein Marktforschungsinstitut und machte sich 1996 als Markt- und Wahlforscher sowie Marketingberater für Unternehmen selbstständig. Parallel arbeitete er als Dozent. Seit 2009 ist er als Publizist tätig.

Herr Markus, 30 Jahre nach der DDR-Grenzöffnung ist die Wendezeit in Medien und auf dem Buchmarkt wieder ein großes Thema. Auch Sie haben nun eine Neuauflage ihres Buchs "Waffenschmiede DDR" herausgebracht. Darin geht es um die Rüstungswirtschaft der DDR - ein Bereich über den eher wenig zu hören ist, wenn es um die oft als "marode" bezeichnete Wirtschaft des sozialistischen Staates ging. Warum haben Sie sich mit dem Thema überhaupt beschäftigt?

Uwe Markus: Ich hatte vor zehn Jahren als Herausgeber ein Buch über das Bildungssystem der DDR gemacht. In diesem Zusammenhang habe ich mich auch immer mal wieder an meine Studienzeit erinnert und mich gefragt, ob es nicht interessant wäre, mal in einen Wirtschaftsbereich hineinzuschauen, der den Blicken der Öffentlichkeit bis 1989 verschlossen war - nämlich die Rüstungsindustrie in der DDR. Man hat das immer gesehen, wenn man irgendwo in ein Unternehmen gekommen ist, dann waren bestimmte Bereiche tabu. Oder wenn ich von Berlin nach Halle, wo ich studiert habe, auf der Autobahn gefahren bin, dann ist mir aufgefallen, dass der Mittelstreifen betoniert war.

Da war jedem Militär sofort klar, dass es um Ausweichflugplätze für den Kriegsfall ging. Wenn man im Zug saß, sah man, dass Bahngleise ins Nirgendwo führten und dort standen jede Menge Plattenwagen herum, auf die im Kriegsfall Panzertechnik verladen worden wäre. Also man hat die Anzeichen für den Mobilmachungsfall überall gesehen. Und ich habe mich immer gefragt, wo die ganze Militärtechnik produziert wurde, was da eingesetzt wurde und was das alles gekostet hat. Das war der Ausgangspunkt. Und für die erste Auflage 2009 habe ich sehr viel recherchiert, habe Interviews mit Zeitzeugen gemacht und bin in die jeweiligen Unternehmen gefahren, so sie denn noch existierten. Aus alldem ist das Buch entstanden.

"Pauschalisierende Negativurteile gehen an der Realität vorbei"

Und warum nun die Neuauflage?

Uwe Markus: Das hat eher einen politischen Grund. Ich habe festgestellt, dass viele Geschichtslegenden, die in der Wendezeit schon eine Rolle gespielt haben, nach wie vor verbreitet werden. Also etwa die Aussage, die DDR war überschuldet. Oder die DDR-Wirtschaft war marode, nicht marktfähig und musste abgewickelt werden. Da stellt man sich natürlich die Frage: Wie man mit einer völlig maroden Wirtschaft moderne Streitkräfte hätte aufbauen und unterhalten sollen? Das ist ein Widerspruch.

Ich habe ja an einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät studiert, habe danach etliche Jahre in der DDR-Industrie soziologisch gearbeitet, dort Umfragen durchgeführt et cetera. Ich bilde mir ein, dass ich den damaligen Zustand der DDR-Industrie relativ gut kenne. Pauschalisierende Negativurteile gehen an der Realität vorbei.

Es gab einen Modernitätsrückstand gegenüber dem Westen, in manchen Bezirken waren ungefähr 60 Prozent der Bausubstanz überaltert und fast 60 Prozent der industriellen Anlagen verschlissen- aber das war eben nicht die gesamte Wirtschaft. Das war auch regional und nach Branchen sehr unterschiedlich. Die Rüstungsindustrie - also die sogenannte "spezielle Produktion" - war in der Regel modern.

Sie haben Geschichtslegenden über die DDR angesprochen. In den großen Medien heißt es ja öfter, die DDR sei ein "militaristischer Staat" gewesen, ein "hochgerüstetes" Regime in der Tradition Preußens. Zählt das aus Ihrer Sicht auch zu den Legenden oder war die DDR tatsächlich ein hochgerüsteter Militärstaat?

Uwe Markus: Naja, in der Anfangsphase hatte man die Idee, die entstehende Rüstungsindustrie so zu organisieren wie in der Sowjetunion. Und so hat man in den 1950er Jahren versucht, die wenigen für die Landesverteidigung produzierenden Unternehmen in der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) UNIMAK zusammenzufassen. Das wurde aber sehr schnell, und zwar 1961, beendet, weil man merkte, dass es sinnvoller ist, diese Unternehmen, die immer auch zivil produziert haben, weiter als zivile Firmen in die normalen staatlichen Planungen einzubeziehen. Man hat die Rüstungsleistungen also in zivilen Betrieben realisiert. Das waren übrigens nicht nur Produktions- sondern zum größten Teil Instandsetzungsleistungen.

Im Zuge der Kombinatsbildungen in den 1970er Jahren hat man dann das Kombinat Spezialtechnik gegründet. Das umfasste sämtliche Betriebe, die hauptsächlich für die Landesverteidigung arbeiteten. Dazu gehörten etwa die Flugzeugwerft in Dresden, die Wartung und Instandsetzung von Panzern im Reparaturwerk Neubrandenburg, die Instandsetzung von Radartechnik und Raketen in Pinnow, die Sturmgewehrproduktion in Wiesa und andere. Dieses Kombinat unterstand aber einem zivilen Industrieministerium, dem Ministerium für Allgemeinen Landmaschinen- und Fahrzeugbau. Und dort gab es eine Abteilung "Spezielle Produktion" und die war dann für die Rüstungsproduktion zuständig.

Wie viele Betriebe waren in diesem Kombinat zusammengefasst?

Uwe Markus: Insgesamt waren im Wehrtechnikbereich 70 bis 80 Unternehmen tätig. Darin haben ungefähr 40.000 Beschäftigte gearbeitet. 25 Betriebe davon waren auf Instandsetzung von Militärtechnik spezialisiert. Das ist der Umfang der DDR-Rüstungswirtschaft gewesen. Zum Kombinat Spezialtechnik gehörten aber nur jene zehn Unternehmen, die hauptsächlich für die Landesverteidigung produzierten oder Instandsetzungsleistungen erbrachten. Entscheidend ist, dass es in der DDR keine Strukturen gab, die Rüstungswünsche der Militärs in politische Entscheidungen umsetzen konnten.

Also das, was man Rüstungslobbyismus nennt…

Uwe Markus: Ja, darüber standen immer zivile Entscheidungsträger. Die sagten: "Das und das funktioniert, das lässt sich planungsmäßig umsetzen, aber das und das funktioniert nicht."

"Bestimmt haben nicht die Militärs, sondern die knappen Budgets"

Sie betonen in ihrem Buch, dass es in der DDR anders als im Westen keinen "Militärisch-Industriellen Komplex" gab.

Uwe Markus: Ja, die Formulierung "Militärisch-Industrieller Komplex" ist ja nichts, was aus dem linken Spektrum stammt, sondern vom ehemaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower. Er erklärte damals, dass es in seinem Land eine Zusammenballung von Interessen des Militärs und der mit diesem verbundenen Rüstungsunternehmen gibt. Rüstungswirtschaft und Militär befinden sich in einer Art Symbiose und versuchen über Lobbyarbeit die Politik des Staates zu beeinflussen. Davor hat er gewarnt.

Diese Strukturen gibt es ja bis heute in den Vereinigten Staaten. Es gab sie auch in der Sowjetunion. Da gab es Unternehmen, die unterstanden direkt dem Militär. Betriebswirtschaftliche Erwägungen spielten dort kaum eine Rolle. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs sagte man in der UdSSR: "Koste es, was es wolle, die Rüstung muss produzieren!"

Dieser Bereich entwickelte ein Eigenleben und war in der Lage, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ein Beispiel war die Stationierung der SS-20-Raketen. Die sowjetische Rüstung hatte die Rakete zur strategischen Waffe weiterentwickelt und sie dann mit entsprechendem Druck und entsprechender Argumentation (Ersatz für veraltete Systeme, neue Einsatzmöglichkeiten) der Politik nahegelegt. Nur daraus ist die Stationierung erfolgt.

Das ist eine völlig andere Dimension, als es in der DDR der Fall gewesen ist. Die Budgets waren so eng, dass man sich in der DDR keine Sonderrolle der Rüstung leisten konnte. Das hätte auch hinsichtlich der staatlichen Planungsprozesse nicht funktioniert. Man konnte eben nicht hingehen und sagen: "Wir brauchen jetzt eine Entscheidung in dem und dem Bereich, weil die Rüstungsunternehmen oder die Militärs das wollen."

Auch wenn die Militärs das vielleicht gern gewollt hätten - aber sie waren in der DDR der Entscheidungsgewalt ziviler Politiker unterworfen. Sie wollten zum Beispiel gern den veralteten Standardpanzer T-55 ausmustern und stattdessen den damals modernen T-72 aus der Sowjetunion in der NVA für alle Panzereinheiten einführen. Das war ökonomisch nicht machbar, also gab es eine Modernisierung eines Teils der vorhandenen T-55-Panzer. Da blieben die Wünsche des Militärs offen, denn am Ende haben die Wirtschaftspolitiker entschieden.

"Mit der Zeit lernte die DDR, zu Moskau auch mal ‚nein‘ zu sagen"

Und wie sah es aus, wenn statt der NVA-Generale der "große Bruder" aus Moskau höhere Rüstungsanstrengungen verlangte?

Uwe Markus: Das unterscheidet sich auch je nach Zeitraum. In der Anfangsphase, also als die NVA in den 1950er und 60er Jahren aufgebaut wurde, waren die DDR-Wirtschaftspolitiker in vielen Bereichen abhängig von der Sowjetunion. Aber im Laufe der Zeit entwickelte die DDR eine größere Eigenständigkeit und ein größeres Selbstbewusstsein. Das lag daran, dass qualitativ hochwertige Militärtechnik einen immer größeren Stellenwert gewann.

Paradebeispiel ist das Kombinat Carl Zeiss Jena. Dieses wurde auf Initiative sowjetischer Entscheidungsträger beauftragt, Zielsuchköpfe für Luft-Luft-Raketen zu produzieren. Die Sowjetunion übergab Lizenzen dafür. Ähnliche Lizenzübergaben gab es bei der Produktion von Panzerabwehrlenkraketen, Feuerleitanlagen und ähnlichem. Es gab gemeinsame Projekte im Marineschiffbau - also etwa bei der Produktion von U-Boot-Jagdschiffen.Mit alldem war eine Aufwertung der DDR als Vertragspartner verbunden. Sie wurde in diesem Bereich zum wichtigsten ausländischen Partner der UdSSR.

Es sollte zum Beispiel auch ein gemeinsames Projekt zum Bau eines Raketen- und Artillerieschiffes für die Ostsee geben. Das ließ die DDR aber fallen, weil die Zusammenarbeit mit den sowjetischen Partnern nicht funktioniert hat und weil man beschlossen hatte, die gesamten Kapazitäten in den Bereich der Mikroelektronik zu stecken. Die Rüstungsprojekte bei Carl Zeiss wurden dann sukzessive zurückgefahren.

Die DDR hat sich auch einem Projekt zur Ersatzteilproduktion für Jagdflugzeuge der Typen MiG und Suchoi verweigert, weil es volkswirtschaftlich nicht sinnvoll war. Die DDR hatte sich in der Rüstungswirtschaft also in dieser Phase ein Stück weit emanzipiert. Sie machte keine Freundschaftspreise mehr und verhandelte mit Moskau auf Augenhöhe. In den 1970er und 1980er Jahren war es keine Einbahnstraße von Befehlsgeber und Befehlsempfänger mehr, sondern Aushandlungsprozesse mit der DDR als einem robusten Juniorpartner, der auch seine Interessen durchsetzte.

Welche Interessen waren das konkret?

Uwe Markus: In der DDR stand zunehmend die volkswirtschaftliche Machbarkeit im Fokus. Die ökonomischen Spielräume wurden immer enger. Es war jedem Entscheidungsträger klar, dass Geld, das man in die Rüstung investiert, im Grunde genommen Geld war, das man aus dem Fenster schmiss. Die DDR baute zwar regelmäßig eine militärische Drohkulisse nach außen auf, das wurde auch mit martialischen Paraden zelebriert, wo Militärtechnik vorgeführt wurde.

Man hat in der DDR aber eigentlich immer nur das Mindeste umgesetzt, was im Rahmen der Bündnisverpflichtungen gemacht werden musste. Finanziell wichtig war, vieles über die eigene Industrie abzudecken, um teure Importe zu vermeiden. Die DDR machte nicht mehr, als sie musste.

Insofern ist diese These über die Militarisierung der DDR ausgesprochen fragwürdig. Es gab eben keine abgeschotteten Bereiche der Volkswirtschaft, die als komplette Nebenökonomie nur fürs Militär existiert haben - wie in der Sowjetunion. Das wäre in der DDR auch gar nicht machbar gewesen. Und selbst die Rüstungsunternehmen, die es gab, haben immer auch für den zivilen Bereich produziert.