"Das taucht in keiner Bilanz zur Einheit auf"

Seite 2: "DDR-Rüstungsbetriebe waren nach der Wende sehr interessant für westliche Unternehmen"

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Sie haben ja vorhin schon gesagt, die Rüstungsbetriebe waren in der Regel modern. Weil das beim Thema Wende 1990 gleich noch eine Rolle spielt: Wie modern waren diese Betriebe denn im internationalen Vergleich?

Uwe Markus: Also die Unternehmen des Kombinats Spezialtechnik verkörperten schon ein technologisch hohes Niveau. Es wurden ja nicht irgendwelche Waffen hergestellt, sondern in der Regel sehr anspruchsvolle Systeme wie Panzerabwehrlenkraketen, Zielsuchköpfe, Feuerleitanlagen - also viele Systeme mit hohem Elektronikanteil. Dazu muss man aber auch sagen, dass das in der Regel in sowjetischer Lizenz produzierte Waffensysteme waren, zu einem Zeitpunkt als die Sowjetunion bereits die nächste Generation dieser Waffen in ihre Streitkräfte eingeführt hatte. Sie haben solche Lizenzen immer vergeben, wenn sie ihre eigenen Kapazitäten für die neue Serienproduktion frei bekommen wollten.

Aber die DDR war technologisch in diesen Bereichen einer der ersten Ansprechpartner und mit am weitesten entwickelt - sei es im Marineschiffbau, sei es in der Optoelektronik oder in ähnlichen Dingen. Da ist viel Volksvermögen investiert worden. Diese Bereiche waren hochklassig. Nicht ohne Grund sind diese Betriebe nach der Wende schnell von westlichen Unternehmen übernommen worden.

Also Carl Zeiss hat die Basis für Jenoptik gebildet. Die Peene-Werft in Wolgast ist nach wie vor im Marineschiffbau tätig - da geht es ja aktuell um die Streitfrage der Patrouillenschiffe für Saudi-Arabien. Die Flugzeugwerft Dresden ist bei EADS gelandet. Unternehmen der Munitionsproduktion sind von General Atomics gekauft worden. Viele waren noch lange Jahre, teilweise bis heute in der Rüstung tätig. Das wäre nicht so gekommen, wenn dort alles Schrott gewesen wäre und die Betriebe nicht über entsprechendes Know How verfügt hätten. Das ist eine Tatsache. Da sollte man fair sein, und auch anerkennen, dass manche Unternehmen bis heute von den Investitionen der DDR profitieren.

In Ihrem Buch lassen Sie auch eine Reihe von Verantwortlichen der damaligen Betriebe zu Wort kommen. Gibt es da einen roten Faden in deren Aussagen und Wertungen?

Uwe Markus: Im Kern geht es darum, dass die Gesprächspartner stolz sind auf ihre Leistungen, die sie teils unter widrigen Umständen und häufig gegen die Planungsbürokratie geschafft haben. Es ist eben schwierig, wenn man den Leuten sagt: "Das war alles nichts wert!" Diese Frustration, die man heute flächendeckend im Osten findet, hat ja nicht nur materielle Ursachen. Es geht um die Anerkennung der Lebensleistungen der Leute, die in der DDR ihr Arbeitsleben verbracht haben.

Den Menschen der DDR-Wehrwirtschaft wurde immer gesagt: "Ihr tut etwas Wichtiges. Ihr tut etwas für den Erhalt des strategischen Gleichgewichts und des Friedens." Denen ist im Nachhinein erklärt worden, dass sie falsch gelebt haben. Das, was sie damals leisteten, sei nichts wert, weil es in einer Diktatur erbracht wurde. Das monieren meine Gesprächspartner. Das ist in den Interviews ja teilweise sehr emotional. Die Menschen haben versucht, für ihre Familien einen gewissen Wohlstand aufzubauen. Aber nach der Wende hieß es, sie hätten in schrottreifen Fabriken gearbeitet, hatten eine niedrige Arbeitsproduktivität und wenn es geht, wird ihnen noch unterstellt, sie seien irgendwie arbeitsscheu gewesen. Das ist ehrenrührig und führt zu Trotzreaktionen.

Es heißt, die Sowjetunion habe sich "totgerüstet". Sie schreiben und sagten vorhin, trotz aller Sparsamkeit wurden in die DDR-Rüstung eben doch Mittel gesteckt, die in anderen Bereichen gefehlt haben. Lässt sich die These des Totrüstens also auch auf die DDR übertragen?

Uwe Markus: Aus meiner Sicht nicht. Wie gesagt, bin ich in den 1980er Jahren in vielen Betrieben in der DDR gewesen und habe mir angeguckt, was dort passiert ist. Es war eben eine überwiegend auf den zivilen Bedarf ausgerichtete Volkswirtschaft. Für die Landesverteidigung der DDR wurden 4,5 Prozent des Nationaleinkommens aufgewendet. Wenn man den Unterhalt für die sowjetischen Truppen und die Uransubventionierung dazu nimmt, kommt man auf 11 Prozent. Das war aber nicht verhandelbar. Der Anteil der Rüstungsproduktion an der Warenproduktion lag bei 4 Prozent. Das war also relativ überschaubar.

Die DDR ist nicht an der Rüstung zugrunde gegangen. Ökonomisch haben ihr andere Aspekte das Genick gebrochen. Nämlich, dass man das schwerfällige Planungssystem der Sowjetunion und die starke Orientierung auf die Schwerindustrie übernommen hat. Auch die Zusammenarbeit im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe hat oft wegen nationaler Egoismen nicht gut funktioniert. Das alles hat wachstumshemmend gewirkt. Hätte man kein Geld in die Rüstung gesteckt, hätte man diese Mittel in das Lebensniveau der Bevölkerung investieren können. Aber das hätte an den generellen wirtschaftspolitischen Defekten des Systems nichts geändert.

Im Schlusskapitel Ihres Buchs ist die Wendezeit Thema. Genauer gesagt, wie das Waffenarsenal der NVA in den Besitz der Bundesrepublik überging. Was ist denn damals mit den ganzen Rüstungsgütern der DDR geschehen?

Uwe Markus: Ehrlicherweise hätte man eine faire Eröffnungsbilanz der Vereinigung machen müssen. Also welche finanziellen und materiellen Werte hat die DDR in die deutsche Einheit eingebracht? Dazu hätte neben dem Auslandsvermögen der DDR und anderen Dingen auch das Sachvermögen der NVA gehört. Konservativ gerechnet, hatte die NVA inklusive der Immobilien ein Sachvermögen von 150 Milliarden D-Mark.

Andere sprechen von 200 Milliarden D-Mark. Allein die Bewaffnung und Technik hatte nach dem Zeitwert einen Wertumfang von 40 bis 45 Milliarden D-Mark. Diese Werte tauchen aber in keiner Bilanz auf. So kann man heute sagen, es sind riesige Summen in den Osten geflossen, ohne zu erwähnen, dass auch viel Geld in die entgegengesetzte Richtung floss.

"Die DDR-Steuerzahler sorgten für den Bestandsschutz der Bundeswehr"

Und was geschah konkret mit dem NVA-Arsenal? Da waren doch auch für die Militärs der Bundesrepublik und weiterer NATO-Staaten interessante Waffensysteme dabei.

Uwe Markus: Die Bundeswehr hat NVA-Material eine Zeitlang weiterverwendet. Dazu gehörten etwa Jagdbomber, Raketenkomplexe, Transporthubschrauber oder Fliegerabwehrraketen. Die Bundesregierung erklärte, der Gesamtwert der weiterverwendeten Materialien habe bei zwei Milliarden D-Mark gelegen. Aber schon allein das MiG-29-Geschwader in Rostock-Laage hatte zum damaligen Zeitpunkt einen Marktwert von zwei Milliarden D-Mark. Das waren 24 hochmoderne Jagdflugzeuge.

Dann hat die Bundesregierung weiteres NVA-Material unentgeltlich an NATO-Partner geliefert. An die USA wurde beispielsweise Material für deren Krieg 1991 im Irak ("Operation Desert Storm") geliefert, vor allem Schutzausrüstung gegen ABC-Angriffe, sowie Tankfahrzeuge und Pioniertechnik. Die Bundesrepublik wollte nicht an diesem Krieg teilnehmen und hat sich mit NVA-Material sozusagen freigekauft.

Die Zahlen sind ja öffentlich. 740 Millionen D-Mark haben die Lieferungen für die Vereinigten Staaten, Israel, die Türkei und Frankreich im Irakkrieg gekostet. An Griechenland und die Türkei sind NVA-Waffen im Wert von 2,1 Milliarden D-Mark gegangen - darunter hunderte Schützenpanzer und hunderte Raketen.

Viele Dinge wurden unter Wert verkauft. Indonesien erhielt 39 Kampfschiffe der Volksmarine für nicht mal 190 Millionen D-Mark. Der tatsächliche Marktwert lag bei 1,8 Milliarden D-Mark. Da stellt sich schon die Frage, wie damals gerechnet wurde. Das sind die materiellen Aspekte.

Aber es gibt noch weitere Aspekte: Beide deutschen Staaten waren laut internationalen Vereinbarungen zur Abrüstung verpflichtet. Nach der deutschen Einheit sind diese Abrüstungsabkommen durch die Bundesrepublik ganz überwiegend dadurch erfüllt worden, dass NVA-Gerät verschrottet oder verkauft wurde. Man könnte also sagen, mit dem Geld der DDR-Bürger, die diese Waffen einst bezahlt haben, wurde der Bestandschutz der Bundeswehr gesichert.

Und es gab noch einen weiteren Aspekt: Besonders innovative Waffensysteme hat man zu Studien- und Auswertungszwecken an Verbündete abgegeben, damit diese ihre Streitkräfte für etwaige Konfliktfälle besser konditionieren konnten. Die MiG-29 sind zum Beispiel als Sparringspartner in den USA eingesetzt worden, um Luftkämpfe zu trainieren. Man hat bei der NATO dadurch Know How übernommen - etwa das Wissen, wie Turbinen für Torpedoschnellboote aus sowjetischer Produktion aufgebaut sind.

Die Bundesregierung hat NVA-Raketentechnik ins Ausland geliefert, damit diese dort studiert werden konnte. Bonn hat sich damit ein gewisses Wohlwollen erkauft und das auf Kosten der DDR-Steuerzahler. Das taucht nirgendwo auf. Wenn Ostdeutsche das heute erfahren, empfinden sie das natürlich als ungerecht.

Sie sagen also: Bundeswehr und Bunderegierung haben sich gesundgestoßen an diesem Teil des ostdeutschen Volksvermögens - dargestellt wurde es aber umgekehrt oder überhaupt nicht.

Uwe Markus: Ja, das spielte öffentlich keine Rolle. Es lief sozusagen unter der Hand. Die Verkaufsaktionen hatten bereits unter der letzten DDR-Regierung im Spätsommer 1990 begonnen. Da war noch vorgesehen, dass dieses Geld innerhalb der DDR investiert wird, also beispielsweise für Armeeangehörige, die in den Zivilbereich gehen und ähnliches. Das war aber mit der Übernahme und sukzessiven Auflösung der NVA durch die Bundeswehr erledigt gewesen. Da konnte die Bundesrepublik mit diesen Waffenbeständen machen, was sie wollte. Das tat sie auch.

Die Argumente, die damals immer kamen, etwa von Leuten wie Jörg Schönbohm, lauteten: "Es ist zu teuer, diese Waffen zu bewachen. Und außerdem braucht die Bundeswehr die NVA-Waffen nicht, da sie ihre Ausrüstung schon hat und die NVA-Systeme mit den westlichen nicht kompatibel sind." Aber man hätte bessere Preise erzielen können, wenn man sich darum bemüht hätte. Und bei manchen Ausrüstungen weiß man bis heute nicht, wo die geblieben sind.

Natürlich gab es damals ein weltweites Überangebot an Militärtechnik aus dem Ostblock. Da haben ja weitere Länder abgerüstet. Aber mit einer klugen Marktbearbeitung wäre an mehreren Stellen mehr herauszuholen gewesen. Ein weiteres Problem ist aber auch der kommunikationspolitische Umgang mit der Angelegenheit.

Das Thema tauchte öffentlich fast gar nicht auf, höchstens mal bei Anfragen im Deutschen Bundestag. Ansonsten spielte sich das alles relativ geräuschlos unterhalb der öffentlichen Erregungsschwelle ab. Deswegen brauchte man das von westdeutscher Seite auch nicht als eine Art "Morgengabe" der DDR-Bürger für die deutsche Einheit zu thematisieren.

Und das nützt natürlich auch der oft gehörten These: "Naja, es gab ja nichts in der DDR, was erhaltenswert war. Es gab nichts von Wert, alles war kaputt." Mit Hilfe solcher Legenden stellen die Verantwortlichen ihre eigene Rolle im Vereinigungsprozess bis heute positiv dar.