Dauersumpf NSU

Seite 2: Schauplatz München: Seit einem halben Jahr Plädoyers

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Es ist der 403. Sitzungstag und der 25. Tag der Plädoyers, die Ende Juli 2017 mit der Bundesanwaltschaft begonnen haben und Mitte November 2017 durch die Nebenklage fortgesetzt wurden, als die Opferanwältin Seda Basay-Yildiz in ihrem Schlussvortrag Erstaunliches kundtut:

Das Mordopfer Ismail Yasar war einige Zeit vorher von dem Nürnberger Neonazi Jürgen F. angegriffen und sein Imbiss so schwer beschädigt worden, dass F. zu einer einmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt wurde. Basay-Yildiz hat nun herausgefunden, dass F. wahrscheinlich ein Kennverhältnis zu den jenaer Neonazis Ralf Wohlleben, Holger Gerlach, Stefan A. und Uwe Mundlos hatte, die selber mindestens in den 90er Jahren in Nürnberg waren.

Im Fall Simsek gibt es eine ähnliche Kette vom Trio über die Neonazi-Szene von Nürnberg zum Mordopfer.

Bisher war unklar, warum die NSU-Opfer ausgesucht worden waren. Doch mit dem Fall Yasar könnte sich das ändern, weil eine konkrete Motivlage sichtbar werden könnte - Rache und Bestrafung. Das wiederum eröffnet Rückschlüsse auf die gesamte Tätergruppierung und die mögliche Rolle des Trios Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe darin.

Waren sie Stellvertreter-Mörder, Auftragskiller gar? Und wenn ja, für wen? Wäre demnach die Benutzung der Ceska-Pistole, die bei allen neun Morden an den türkisch- und griechischstämmigen Männern eingesetzt wurde, so etwas wie der Beleg für die Ausführung des Auftrages gewesen?

Zu einem solchen möglichen Szenario passt, was die Anwältin weiter an Fakten und Umständen zusammentrug. Auch bei den übrigen Taten in Nürnberg, den zwei anderen Morden und dem Anschlag mittels einer Taschenlampenbombe, müssen die Täter, wenn sie nicht selber aus Nürnberg waren, so doch Unterstützung in der Stadt gehabt haben.

Doppelt missbraucht

Was Seda Basay-Yildiz darlegt, ist eindrucksvoll und vor allem gründlicher und logischer als das, was die Bundesanwaltschaft präsentierte. Die Nebenklageanwältin arbeitet mit demselben Material, das auch die Anklagebehörde besitzt. Auch sie hätte zu solchen Schlüssen kommen können. Doch ihre Ausführungen waren von einer hartnäckigen Oberflächlichkeit, wie jetzt entlarvt wird. Die Behörde nahm eine selektive Auswahl der Ermittlungsergebnisse vor, damit sie in ihre Drei-Täter-Theorie hinein passt.

"Es muss weiterermittelt werden", sagt die Anwältin, die die Familie des ersten Mordopfers Enver Simsek vertritt, am Ende ihres Plädoyers. Sie will das als Appell an das Gericht verstanden wissen. Sollte das dem nachkommen, würde es den Wiedereinstieg in die Beweisaufnahme bedeuten. Danach sieht es im Augenblick nicht aus.

Ein Teil der großen Medien, wie Spiegel und Süddeutsche Zeitung, verschweigt die Erkenntnisse, die Seda Basay-Yildiz im Gerichtssaal präsentiert. Dazu benutzen sie ausgerechnet die Rede ihres Mandanten Abdul Kerim Simsek, dem Sohn des Getöteten, der in ergreifender Weise schildert, was der Tod seine Vaters für die Familie bedeutete, und der am Ende die Entschuldigung des Angeklagten Carsten Schultze akzeptiert. Seinen Auftritt stellen sie in den Mittelpunkt.

Der Simsek-Sohn wird gleich doppelt missbraucht, denn selbst er wird nur selektiv zitiert. "Wir wollen hundertprozentige Transparenz", sagt Abdul Kerim nach Ende des Sitzungstages gegenüber Journalisten, "alle Akten müssen freigegeben werden, vor allem die des Verfassungsschutzes." Die Gerichtsreporterin der SZ steht dabei und hört es. In ihrer Zeitung liest man es nicht. Was nicht berichtet wird, hat nicht stattgefunden.

Am folgenden Tag kommt der Prozess erneut ins Stocken. Der Angeklagte Ralf Wohlleben hat Rückenschmerzen. Das Publikum muss den Saal verlassen, damit nicht-öffentlich darüber verhandelt werden kann. Die nächsten Plädoyers werden vertagt.