"De facto sind viele deutsche Städte längst bankrott"

Es hat sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft der Kommunen herausgebildet

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2010 waren es 44,8 Milliarden Euro, 2012 bereits 47,9 Milliarden Euro: Die Gesamtverschuldung der deutschen Großstädte ist innerhalb von nur zwei Jahren noch einmal um knapp sieben Prozent gestiegen. Trotzdem droht nicht allen der Bankrott. Nach einer Analyse der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young konnten Kommunen ohne größere finanzielle Probleme ihre Bilanzen verbessern, während andere immer tiefer in die Schuldenfalle gerieten.

Weder die wirtschaftliche Gesamtentwicklung noch die üppigen Steuereinnahmen konnten den Abwärtstrend der stark verschuldeten Kommunen stoppen. Die Pro-Kopf-Verschuldung stieg von 2010 bis 2012 noch einmal um 12 Prozent auf 4.247 Euro und erreichte den Höchststand in Oberhausen, Offenbach, Ludwigshafen, Hagen und Saarbrücken. Untersucht wurden 72 deutsche Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern - außer Berlin, Hamburg, Bremen und Bremerhaven, für die z.T. keine Daten verfügbar waren. 19 deutsche Städte wiesen eine absolute Verschuldung von über einer Milliarde Euro aus – am prekärsten war die Lage in Nordrhein-Westfalen, namentlich in Essen, Köln, Duisburg, Dortmund und Oberhausen.

Zu einem ähnlichen Befund kommt die vor kurzem veröffentlichte Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP. Demnach haben die nordrhein-westfälischen Städte und Gemeinden allein 14,3 Milliarden Verbindlichkeiten bei der landeseigenen NRW-Bank.

"De facto sind viele deutsche Städte längst bankrott", resümierte Hans-Peter Busson, Partner bei Ernst & Young, anlässlich der Vorstellung der neuen Studie. Und ein Ende der Talfahrt scheint nicht in Sicht. Weder bei der Kürzung freiwilliger Leistungen noch bei der Erhöhung von Gebühren sehen die Analysten noch Spielraum für finanzschwache Kommunen. "Die hoch verschuldeten Städte benötigen Hilfe bei der Sanierung ihrer Finanzen – aus eigener Kraft können sie das kaum schaffen", so Busson.

Stattdessen würden die Schuldenbremse und der EU-Fiskalpakt die Handlungsmöglichkeiten weiter einengen, ganz zu schweigen von einem (immerhin perspektivisch möglichen) Anstieg der aktuell niedrigen Zinsen.

Dank niedriger Zinsen können die Kommunen ihre Schulden derzeit zwar bedienen. Wenn die Zinsen aber wieder steigen oder die Banken sich weiter aus dem Geschäft mit den Kommunen zurückziehen, drohen den Städten sehr schnell erhebliche Probleme, weil der große Teil der Schulden kurzfristige Liquiditätskredite sind. Diese Altschulden sind eine tickende Zeitbombe.

Hans-Peter Busson, Ernst & Young

Mit weniger oder ganz ohne Schulden leben

Auf der einen Seite verschärfte sich die Situation, auf der anderen war Entspannung angesagt. Denn von 2010 bis 2012 stieg nicht nur die Anzahl der Großstädte mit einer Pro-Kopf-Verschuldung von weniger als 1.000 Euro von 15 auf 19. Es gab auch leuchtende Beispiele von kompletter Schuldenfreiheit wie Dresden oder Wolfsburg und extrem niedrige Raten in Stuttgart, Heilbronn oder Jena.

Sieben von neun ostdeutschen Großstädten konnten ihre Verbindlichkeiten senken oder bei Null halten und auch in Bayern, Baden-Württemberg oder Niedersachsen durften die Kämmerer vielfach positive Bilanzen ziehen. Bei den wirtschaftsstarken Kommunen zeichnete sich ein ähnlicher Trend ab wie bei den wirtschaftsschwachen – nur eben in umgekehrter Richtung.

Die wohlhabenden Städte können mit attraktiven Angeboten um Unternehmensansiedlungen und Zuzügler werben – und dafür auch Investitionen tätigen. (…) – die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer.

Hans-Peter Busson, Ernst & Young

Kommunale Unternehmen

Der Wirtschaftsprüfer sieht Einsparpotenziale zum Beispiel im Bereich der Stadtverwaltungen, wobei kaum davon ausgegangen werden kann, dass eine Professionalisierung der Strukturen und Arbeitsabläufe neun- bis zehnstellige Summen in die leeren Kassen spült. Busson weist deshalb auch auf Einsparmöglichkeiten beim Beteiligungsmanagement hin. Kommunale Unternehmen müssten wirtschaftlich effizient arbeiten und dürften nicht Spielball politischer Auseinandersetzungen sein.

Dieser Ratschlag kann allerdings nur auf fruchtbaren Boden fallen, wenn die Städte noch über entsprechende Einrichtungen verfügen und ihren Bestand nicht längst veräußert haben. Immerhin setzt man vielerorts auf die Rückgewinnung kommunaler Unternehmen – wie jüngst bei den Berliner Wasserbetrieben (Na also, geht doch). Bussons Empfehlung, Unternehmensbeteiligungen, Grundstücke oder Immobilien zu verkaufen, würde nun wiederum die Trennung von einem Teil des kommunalen Tafelsilbers bedeuten. In diesem Fall glaubt der Wirtschaftsprüfer allerdings ohnehin nicht daran, dass seine Vorschläge Gehör finden.

Da eine deutsche Kommune nicht pleitegehen kann, schrecken die Städte vor radikalen Sanierungsmaßnahmen zurück.

Hans-Peter Busson, Ernst & Young

Die neue Studie bestätigt in der Tendenz den "Kommunalen Finanzreport 2013" der Bertelsmann-Stiftung. Dieser zeigte im Spätsommer das ganze Ausmaß der finanziellen Schieflage, weil hier nicht nur die Verbindlichkeiten der Großstädte, sondern die Gesamtverschuldung der Städte und Gemeinden berücksichtigt und – Stand 2011 – auf etwa 130 Milliarden Euro taxiert wurde. 19 Milliarden mehr als 2007, vornehmlich wegen höherer Kassenkredite, die nicht mehr durch Werte oder Investitionen gedeckt waren.

Auch im Finanzreport wird vor der "Spaltung in reiche und arme Kommunen" gewarnt, die übrigens nicht nur ökonomische Folgen nach sich zieht. "Viele Städte scheinen in einer Abwärtsspirale aus Überschuldung, Abwanderung und sinkender Attraktivität gefangen", so Kirsten Witte, Kommunalexpertin der Stiftung. Überdies bemängelten die Forscher die mangelnde Transparenz der kommunalen Haushalte. Fast 60 Prozent der Schulden seien mittlerweile in diverse Unternehmensbeteiligungen ausgelagert worden.

Wieder eine Kommission einrichten

Auch die Länder brauchen eine vernünftige Finanzausstattung, um gemeinsam mit ihren Kommunen die vielfältigen Aufgaben erfüllen zu können. Handlungsfähig in Bund und Ländern, Städten und Gemeinden, in allen Regionen Deutschlands, das ist unser Ziel.

Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. 18. Legislaturperiode

Wer nun glaubt, dass Union und SPD eine größtmögliche Einigung in der Frage erzielen, wie den Kommunen schnell und umfassend geholfen werden kann, kommt im Vieles versprechenden Wohlfühl-Koalitionsvertrag des Jahres 2013 kaum auf seine Kosten. Dabei wird die wichtige Rolle von Städten und Gemeinde über 185 Seiten regelmäßig betont – auf Seite 123 sogar im Zusammenhang mit dem "Problem überfüllter Tierheime".

Gleichwohl weisen die Parteien entschieden darauf hin, dass der Bund bereits einen "gewichtigen Beitrag" zur Entlastung der kommunalen Finanzen geleistet habe, etwa die anstehende Erstattung der Nettoausgaben für die Grundsicherung im Alter oder bei der Erwerbsminderung sowie die Beteiligung am Ausbau der Kita-Plätze. Obendrein soll ein Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung konzipiert werden, das die Kommunen bei der Eingliederungshilfe um etwa 5 Milliarden Euro entlastet.

Damit ist nur ein kleiner Teil der wichtigsten Fragen beantwortet. Den Rest soll eine Kommission klären – wie so oft in der Berliner Expertenrepublik. Vertreter der Kommunen nehmen hier allerdings nicht zwingend als gleichberechtigte Entscheidungsträger teil – sie werden "einbezogen". In erster Linie geht es um die Perspektiven von Land und Bund, die sich über die Zukunft der föderalen Finanzbeziehungen, eine Reform des Länderfinanzausgleichs, Altschulden oder den Solidaritätszuschlag austauschen wollen. Ergebnisse werden im Koalitionsvertrag für "Mitte der Legislaturperiode" angekündigt.

Schuldenbremse, Aufgabenbremse oder gleich ein Rettungsschirm?

Im Sommer empfahl der Finanzreport der Bertelsmann-Stiftung die Einführung einer kommunalen Schuldenbremse, die auf Länderebene längst beschlossen ist. Auch die Städte und Gemeinden sollten verpflichtet werden, ihre Einnahmepotenziale voll auszuschöpfen – etwa durch eine Anhebung der Grund- und Gewerbesteuern, die sehr unterschiedlich angesetzt werden. Die Hebesätze der Städte und Gemeinden in Sachsen lagen im Durchschnitt deutlich höher als die der Kommunen in Rheinland-Pfalz oder Hessen.

Stephan Articus, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, verwies allerdings darauf, dass seiner Organisation keine einzige hoch verschuldete Kommune bekannt sei, die ihre Hebesätze nicht bereits erhöht habe:

Wir brauchen keine Schuldenbremse für Kommunen, sondern eine Aufgabenbremse für Bund und Länder. Denn die Aufgaben und Ausgaben, die den Kommunen übertragen werden, sind das Problem, das ihnen zu schaffen macht.

Stephan Articus

Die Freien Wähler, bei denen die Kommunen - sicher auch aus strategischen Überlegungen - traditionsgemäß eine wichtige Rolle spielen, fordern in einem aktuellen Statement zur Ernst & Young-Studie bereits einen "Rettungsschirm" und eine "Sensibilisierung der EU für deutsche Probleme". Schließlich sei auch der Investitionsstau bei den Kommunen auf über 100 Milliarden Euro angewachsen, die jährliche Finanzierungslücke beim laufenden Bedarf betrage 25 Milliarden Euro.

Die Probleme sind vielfältig und extrem komplex. Dass sie in der nächsten Legislaturperiode gelöst oder auch nur beherzt in Angriff genommen werden, ist derzeit eher unwahrscheinlich.