Debatte um längere AKW-Laufzeiten: Sollen Bürger noch mitentscheiden dürfen?
FDP-Politiker wollen Entscheidung einem Expertengremium übertragen. Andere fordern ein Ende der Debatte. Wieso der neu entfachte Streit eine Scheindebatte sein könnte. Der Kommentar.
Die FDP steht unter Druck, ihr Mitwirken in der Regierungskoalition bekommt ihr nicht gut. Bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr erlebte sie herbe Schlappen, und die Umfragewerte sind schlecht. Wären heute Wahlen zum Bundestag, würde sie wohl nur mit Mühe wieder in das Parlament einziehen.
Momentan käme die Partei immerhin noch auf knapp sechs Prozent der Stimmen – die Sterne stehen für die Liberalen aber nicht gut. Erst die Coronapandemie, dann der Krieg in der Ukraine und dann noch die "Zeitenwende": Der gesellschaftliche Trend geht in Richtung "mehr Staat". Ohne die Interventionen der Bundesregierung, ohne die Abermilliarden Euro an Schulden wäre die Bundesrepublik vermutlich ein zutiefst gespaltenes Land.
Vor diesem Hintergrund ist die Sinnkrise der FDP verständlich: Der Marktradikalismus ist an der Realität gescheitert. Das Problem ist nur: Funktionäre und Mitglieder dieser Partei weigern sich, den Tatsachen in die Augen zu blicken. Und so entwickeln sie sich mit der Zeit zu Wadenbeißern in der Regierungskoalition.
Ihr Beharren auf längere Laufzeiten für Atomkraftwerke ist ein Beispiel dafür, dass die Liberalen mehr die Nerven ihrer Mitstreiter strapazieren als konstruktive Lösungen für die Energieprobleme im Land suchen. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) preschte nun mit einem Vorschlag nach vorn und entfachte den ad acta gelegten Streit neu.
Eine unabhängige Expertenkommission solle über längere Laufzeiten für die drei verbliebenen deutschen Atommeiler entscheiden, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Er trat damit der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) entgegen, die ein Ende der Debatte gefordert hatte. Bas argumentierte dabei gegen eine Laufzeitverlängerung.
Laut FAZ-Bericht will Wissing innerhalb der Koalition eine Debatte wiederbeleben, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Herbst mit einem Machtwort beendet hatte. Eine offene gesellschaftliche Debatte, die Scholz‘ Entscheidung bestätigen könnte, will Wissing aber auch nicht.
Wissing sagte: "Wir brauchen jetzt keinen politischen Streit und keine Rechthaberei, sondern wir brauchen eine fachliche Antwort auf die Frage, wie wir stabile und bezahlbare Energieversorgung sicherstellen können und gleichzeitig unsere Klimaschutzziele erreichen". Schließlich verschlechtere sich die Ökobilanz von Elektroautos, wenn die Atomkraftwerke abgeschaltet würden.
Die Entscheidung über solche Fragen an eine Expertenkommission zu übertragen, mag der neoliberalen Doktrin entsprechen – demokratisch ist dieses Vorgehen nicht. Experten können keine Entscheidung demokratisch legitimieren, von deren Folgen Millionen Menschen betroffen sind, die aber nicht mitentscheiden durften; denen die Argumente nicht vorgelegt wurden.
Bas hatte in dem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung einige Argumente angeführt, die für ein Ende der Atomkraft in Deutschland sprechen. Wissing hielt es nicht für nötig, auch nur auf eines davon einzugehen.
Der Atommüll etwa: Niemand will ihn haben – aber er fällt dennoch an. Oder: Momentan laufen die Atommeiler im Streckbetrieb; werden aber neue Brennstäbe geordert, wie lange müssten die Anlagen dann noch laufen? Ein Blick auf Frankreich zeigt auch: Atomkraftwerke sichern nicht in jedem Fall die Energieversorgung. Etwa, weil der Klimawandel im Sommer das Kühlwasser aus den Flüssen knapp werden lässt.
An diesen Faktoren ändert sich auch nichts dadurch, dass sich führende Vertreter der Industrie für längere Laufzeiten aussprechen. "Unseren europäischen Nachbarn ist schwer zu vermitteln, in der gegebenen Mangellage sichere Kraftwerke abzuschalten und gleichzeitig Solidarität einzufordern", erklärte etwa der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Dass Vertreter der FDP der Industrie nach dem Mund reden, mag für die finanzielle Grundlage ihrer neuen Selbstfindungsphase gut sein. Zum Wohle aller Menschen in Deutschland wäre es sicherlich nachhaltiger, die Frage zu beantworten: Welche Entscheidungen haben zur Krise in Deutschland geführt?
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