Déjà-Vu nach 13 Jahren

Ein Kommentar zu den Parallelen im öffentlichen Umgang mit 9/11 und dem Ukraine-Konflikt

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Ende 1991 verschwand die Sowjetunion von der politischen Landkarte. Bereits in den Monaten zuvor hatte sich der Warschauer Pakt aufgelöst. Der große Feind des Westens war nicht mehr da. Für die westliche Rüstungswirtschaft und ihre politischen Unterstützer war das Ende der Ost-West-Konfrontation ein Problem. Die Rechtfertigung für horrende Militärausgaben fehlte plötzlich. Passenderweise gab es bald einen neuen furchterregenden Feind: Spätestens mit den Anschlägen vom 11. September 2001 übernahm der islamistische Terrorismus ("Al Qaida") diese Universalrolle.

"Dass ein Feind sich einfach auflöst, wird den USA nicht nochmal passieren", prophezeite der politische Kabarettist Volker Pispers bei seinen Auftritten in den Jahren danach. Er behielt Recht. Die US-Amerikaner und ihre Verbündeten kämpfen immer noch gegen Islamisten wie nun ISIS. Die "terroristischen Mörderbanden" (Steinmeier) seien bis heute eine "extreme Bedrohung" (US-Verteidigungsminister Hagel) für die freie Welt geblieben, so der öffentliche Tenor. Die Anschläge von New York und Washington vor 13 Jahren waren der Kulminationspunkt dieser Entwicklung.

Doch durch ein anderes Ereignis erklärt der Nato-Westen nun zusätzlich und erneut Russland zum Feind. Was sich mit den Kriegen in Georgien und Syrien bereits abzeichnete, wurde mit der Krimkrise und den Kämpfen in der Ostukraine zur Gewissheit. Wer nun noch westliche Politeliten und Rüstungslobbyisten über Polen und das Baltikum reden hört, weiß: Der Russe muss wieder vor die Tür.

Der dies letztlich auslösende Konflikt in der Ukraine weist dabei besonders in seiner politisch-medialen Rezeption beunruhigende Parallelen zum 11. September auf.

Der Bösewicht ist schnell identifiziert

Die vielleicht auffälligste Gemeinsamkeit ist die ultraschnelle Festlegung auf einen Schuldigen. Noch bevor die Zwillingstürme des World Trade Centers am 11. September in sich zusammenstürzten, fiel in westlichen Medien der Name Osama bin Laden als möglicher Drahtzieher der Anschläge. In den folgenden Tagen wurde diese Vermutung dann zur einzig denkbaren Möglichkeit.

Terrorfürst Bin Laden dementierte nach den Anschlägen aber merkwürdigerweise seine Täterschaft. Mit seiner Hinrichtung durch US-Soldaten 2011 in Pakistan starb auch die Möglichkeit einer gerichtlichen Befragung. Bis jetzt hat das FBI tatsächlich keine gerichtsfesten Hinweise für Bin Ladens Beteiligung an den Anschlägen.1 Diese Information ist heute nicht nur weitgehend unbekannt, sie ist auch erschreckend, da Bin Ladens Schuld hinsichtlich 9/11 trotzdem feststehendes Allgemeinwissen ist.

Im Ukraine-Konflikt legten sich westliche Politiker und Leitmedien ebenfalls von Beginn an auf einen verurteilungswürdigen Strippenzieher und Hauptschuldigen fest: den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sein ukrainischer Kollege Viktor Janukowitsch wurde zwar auch harsch kritisiert, galt den westlichen Medien jedoch mehr oder weniger als Marionette Putins und verschwand nach seiner Flucht Ende Februar völlig von der Bildfläche.

Seitdem stieg das mediale Interesse am Konflikt deutlich. Und auch Putins Schuld und Boshaftigkeit steigerten Politiker und vor allem Journalisten weiter. Es ging u.a. um einen Völkerrechtsbruch ("Annexion" der Krim), die Unterstützung von Separatisten ("Destabilisierung"), dann sogar um Mord (MH 17) und zuletzt um eine militärische Invasion im Nachbarland.

Beim Anschluss der Krim an Russland ist die Lage nicht so eindeutig, wie etwa deutsche Medien sie darstellen.2 Und in den anderen Punkten konnten die politisch-medialen Ankläger bislang neben tendenziösen Interpretationen und einigen Indizien keine konkreten Beweise für Putins Schuld vorzeigen. Die permanenten Vorwürfe dürften ihre Wirkung trotzdem entfaltet haben, so dass der russische Präsident in großen Teilen westlicher Gesellschaften heute als Scheusal gilt.3

Offene Fragen bleiben offen

Eine weitere Parallele im öffentlichen Umgang mit 9/11 und dem Ukraine-Konflikt ist das fehlende Interesse an Aufklärung bei Politik und Medien. Der 11. September mit seinen vielen kleinen und großen Merkwürdigkeiten rief zahlreiche Fragesteller auf den Plan. Antworten sollte es aber erstmal keine geben. Die Klärung offener Sachverhalte würde nur wichtige Kräfte im anstehenden Kampf gegen den Terror binden, sagte etwa der damalige Vizepräsident Dick Cheney.

Erst nach starkem Druck von Opferangehörigen setzte die Bush-Regierung ein Jahr später eine völlig unterfinanzierte Kommission ein, die wegen des kommenden Präsidentschaftswahlkampfes auch noch zeitlich begrenzt wurde. Aufklärung brachte ihr Report jedenfalls nicht und das sollte er von Anfang an auch gar nicht. "Wir wurden eingesetzt, um zu scheitern", sagte nach den Untersuchungen der stellvertretende Kommissionsvorsitzende Lee Hamilton. Bis heute sind zentrale Aspekte von 9/11 ungeklärt.4 Sämtliche Leitmedien haben das klaglos hingenommen.

Im Ukraine-Konflikt ist das gleiche Muster zu beobachten. Es geht gar nicht darum, Vorwürfe zu belegen, sondern nur sie permanent zu streuen (Kriegspropaganda: Eine Kiewer Ente im deutschen Blätterwald). Dies kann für so gut wie jede Aussage westlicher Politiker über Russland bzw. die Regierungsgegner in der Ostukraine gelten. Es geht auch nicht darum, Vorfälle zu untersuchen und aufzuklären, sondern sie für die eigenen Bedürfnisse so schnell wie möglich zu nutzen. Am offensichtlichsten ist dies bei den "ukrainischen 9/11s" - nämlich den Scharfschützenmorden von Kiew (20. Februar) und dem Absturz von MH 17 (17. Juli).5

Die westliche Politik könnte in diesen - aber auch im Fall der Toten von Odessa (Wie die Regierung Kiew die Aufklärung der Brand-Tragödie in Odessa sabotiert) - selbst ein ganzes Stück zur Aufklärung beitragen oder Druck auf Kiew ausüben, dies ebenfalls endlich zu tun. Stattdessen beschließen EU und USA mehrere Sanktionsrunden gegen Russland und eskalieren weiter zusammen mit der Nato durch Militärmanöver und öffentliche Verleumdungen Putins.

Auch die deutschen Qualitätsmedien verweigern sich ihrer eigentlichen Aufklärungs- und Wächterfunktion so gut es geht. Tatsächlich lassen sie sich in ihrer großen Mehrheit6 unkritisch in die PR-Maschinerie Kiews und der Nato einspannen. Sogar schwer bewaffnete SS-Nachahmer wie das ukrainische Bataillon "Asow" werden von ARD und ZDF verharmlosend als "Freiwilligenverbände" oder "Bürgerwehren" bezeichnet - dieser geschichtsvergessene Wahnsinn ist heute öffentlich-rechtliche Realität.

Diffamierung der Kritiker

Wer gegen diesen Leitmedienkonsens angeht, wird von etablierten Journalisten und Politikern pauschal verunglimpft. Unabhängig von Substanz und Art der Kritik werden Gegner der offiziellen Haltung heute wie auch vor dreizehn Jahren in erster Linie persönlich diffamiert.

Kritiker der offiziellen Version des 11. September waren und sind dann pauschal "Verschwörungstheoretiker" - je nach Herkunftsland warfen und werfen ihnen Politiker und Medien zudem unpatriotische oder antiamerikanische Einstellungen vor. Pauschal geht es auch gegen die heutigen "Putinversteher"- ein wahrlich würdiger Kandidat für das Unwort des Jahres und ein ähnlich diskreditierender Sammelbegriff (wie "Verschwörungstheoretiker") für Gegner der aktuellen westlichen Kampagne. Dabei scheint es völlig egal, ob diese Putin selbst ablehnend, zustimmend oder indifferent gegenüberstehen. Wer am konfrontativen Vorgehen von EU, Nato und USA Kritik übt, muss Putin-Fan sein. Eine Zwischenposition wird nicht zugestanden. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Die selbstbetrügerische Erklärungspalette deutscher Top-Journalisten für Kritiker ihrer einseitigen Linie reicht von kreml-finanzierten Online-Foristen über ewiggestrige Diktatur-Fans bis hin zu saturiert-phlegmatischen Wohlstands-Pazifisten. Das Prinzip ist offensichtlich: Kritiker werden nicht argumentativ widerlegt, sondern in ihrer persönlichen Integrität angegangen.

Kollektiv versagende Medien oder gelungene publizistische Kriegsführung?

Das Scheitern vor allem der Leitmedien an journalistischen Idealen wie Objektivität, Neutralität, Unabhängigkeit, kritischer Distanz, Sorgfalt oder Ergebnisoffenheit ist dabei mehr als nur eine Parallele zwischen 9/11 und dem Ukraine Konflikt. Die bedingungslos unkritische Unterstützung der nationalen Regierungslinie sowie der Einsatz für konkret nie benannte "westliche Werte" ist quasi die verbindende Konstante der Auslandsberichterstattung von damals bis heute und gleichzeitig eine Bankrotterklärung an das eigene Berufsethos.

Immer noch stellt kein Top-Journalist kritische Fragen zur offiziellen Version von 9/11. "Das Thema ist zu groß für einzelne Journalisten", vermutet Sachbuch- und Telepolis-Autor Paul Schreyer. Medienmacher, die so etwas wagten, würden dann selbst als "Verschwörungstheoretiker" verunglimpft. Ihre Karriere wäre vorbei.

Genauso vermint scheint das publizistische Gelände im Ukraine-Konflikt. Abweichungen von der außenpolitischen Linie der Bundesregierung sind in heimischen Leitmedien selten und wenn dort mal kritisiert wird, dann vornehmlich von rechts. Mögliche individuelle Gründe hierfür gibt es einige: tiefste Überzeugung, eigene Verstrickungen in Machtnetzwerke, psychologische Selbstschutzmechanismen, Angst vorm Karriereknick oder einfach nur denkfauler Papageienjournalismus.7

Von unabsichtlichem Versagen der Qualitätsjournalisten kann damals wie heute nicht die Rede sein - zu lange hat sich nichts geändert, zu vielstimmig und unüberhörbar ist die Kritik, zu uneinsichtig und rechthaberisch sind die Antworten darauf: "Die Medien sind zum Teil ein Element der Kriegführung", gibt der Schweizer Historiker Daniele Ganser zu bedenken. "Sie bearbeiten die Heimatfront."8 Dies scheint auch bereits zu gelten, bevor der eigentliche Krieg begonnen hat.

Rechtfertigung für aggressive westliche Geopolitik

Stichwort Krieg: Mit 9/11 legitimierte die Bush-Administration zwei US-amerikanische Angriffskriege. Der damals aktivierte und bis heute geltende Nato-Bündnisfall führte auch die Bundeswehr nach Afghanistan. Ein Gesetzespaket wie der Patriot Act oder Horror-Orte wie Abu Ghuraib und die geheimen CIA-Gefängnisse sind weitere Folgen der Anschläge. Dank der Terrorattacken vom 11. September konnten hohe oder steigende Militär- und Sicherheitsbudgets im Westen wieder gerechtfertigt werden. Unter dem Diktum des "Krieges gegen den Terror" wandelte sich die US-Außenpolitik noch stärker als zuvor zu einem aggressiven Unilateralismus. Die Zahl der weltweiten US-Militärbasen erhöhte sich erneut.

Der zuerst rein politische Ukraine-Konflikt mündete inzwischen ebenso in eine bewaffnete Auseinandersetzung. Der Stellvertreterkrieg zwischen Nato und Russland in der Ostukraine ist zwar anders gelagert als die US-amerikanischen "Strafaktionen" gegen den Irak und Afghanistan. Doch das westliche Bündnis benutzt auch diesen Konflikt als Rechtfertigung für seine weitere geopolitische Ausdehnung.

Zwar ist das Land zwischen Karpaten und Donbass gar kein Mitglied der Nato, doch notwendige Bedrohungslagen konstruiert die Pentagon-Vorfeldorganisation dann eben im Windschatten der Auseinandersetzungen dort. Besonders auffällig ist dies bei der von Politik und Medien penetrant behaupteten Gefahr einer russischen Invasion im Baltikum.9

Und schon wurde über die Stationierung von Nato-Kampftruppen und die Einrichtung von Militärbasen in Polen, Litauen, Lettland und Estland beraten. Der ominöse Raketenschirm gegen den Iran könnte sich bald auch offiziell gegen Russland richten. Der politisch-mediale Umgang mit dem Ukraine-Konflikt deutet klar in eine Richtung: Die Bevölkerung soll emotional auf eine lang anhaltende Kampagne gegen den aktuellen Feind des Westens sowie auf weitere Terroranschläge durch diesen Feind und auf kommende Wirtschafts- und Ressourcenkriege vorbereitet werden. Genau das folgte zumindest nach dem 11. September.