Denkende Maschinen

Seite 2: Datenflut und Denkebbe

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die schnelle Digitalisierung aller Subsysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Privatleben etc.) steht zurzeit ganz oben auf der politischen Agenda. Der Grund: Digitalisierung gilt als Schlüssel zur Informationsgesellschaft. Diese Einschätzung halte ich für falsch.

Die Begründung in Form einer Analogie: So wenig wie die Zunahme der Telefonapparate automatisch zu einer Zunahme intelligenter Telefongespräche führt, so wenig führt die Zunahme der Computertechnik automatisch in die Informationsgesellschaft.

Nimmt man "Informationsgesellschaft" nicht wie üblich als Marketingparole, sondern als Chiffre für einen informationell hochstehenden Zustand der Gesellschaft, so spricht Einiges für diese These: Das 20. Jahrhundert, insbesondere seine erste Hälfte, war dem Ideal einer Informationsgesellschaft näher als die Marketinggesellschaft der Jetztzeit. Am Beispiel von Wissenschaft und Technik: Einstein & Co. haben ihre weltbewegenden und im Computerzeitalter noch nicht übertroffenen Informationsleistungen ohne Computer erbracht, auch viele Leistungen von Ingenieuren, Technikern und Facharbeitern sind ohne digitale Unterstützung und dennoch auf höchstem Niveau zustande gekommen. Fragend ein kleines suggestives Beispiel: Wer hat das größere physikalisch getragene Maschinen-Know how, ein traditioneller KfZ-Mechaniker oder ein heutiger Mechatroniker?

Was die Physik betrifft, so wird die Superstringtheorie gelegentlich als Gegenbeispiel angeführt. Richtig ist: Diese Theorie wäre ohne Computer nicht entstanden, denn ihre Monstergleichungen über 10-dimensionale Räume könnten von menschlichen Mathematikern schon aus Zeitgründen nicht gerechnet werden. Dennoch nennt der berühmte Physiker Richard Feynman die Stringtheorie "verrücktes Zeug".

Der Grund: Es fehlen bis heute schlüssige physikalische Interpretationen, um die es in der Physik aber letztendlich geht. Deshalb noch einmal: Etwas in der Qualität, der Bedeutsamkeit und den technischen Folgen mit der Relativitätstheorie und der Quantentheorie Vergleichbares ist im Computerzeitalter noch nicht entstanden. Übrigens wurde auch der Computer 1941 nicht vom Computer erfunden und die späteren Programmiersprachen auch nicht.

All diese großartigen menschlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik sind computerfrei deshalb zustande gekommen, weil von den drei Grundgrößen der Welt, nämlich Masse, Energie und Information, Letztere den Primat übernommen hatte. Wenn ich von "Information" spreche, so meine ich nicht Datenflut, sondern rational geführte Informationsverarbeitung - erklären, analysieren, abstrahieren, prüfen, schlussfolgern etc. Damit sind wir bei der wichtigsten Grundlage der Informationsgesellschaft: beim Postulat der guten Begründung. Die Einhaltung dieses Postulats ist völlig unabhängig vom Einsatz digitaler Maschinen - wie Einstein & Co. in Wissenschaft und Technik gezeigt haben. M.a.W.: Eine Informationsgesellschaft ist grundsätzlich auch ohne Computer denkbar!

Da Politiker nicht zuletzt die Schulen im Visier der hastigen Digitalisierungskampagne haben, an dieser Stelle wenigstens dies: Eine Informationsgesellschaft entsteht im Subsystem "Schule" dann, wenn Schüler und Schülerinnen - neben dem Fachwissen - in Logik ausgebildet werden. Das heißt im einfachsten Fall: Wenn X eine Meinung vertritt, muss sie gut begründet sein.

Rhetorisches Geschick und/oder Durchsetzung qua Macht spielen in der Informationsgesellschaft eine untergeordnete Rolle. Und gut begründet ist eine Meinung nur dann, wenn sie in zweierlei Hinsicht den Anforderungen der Argumentationstheorie genügt: Die Prämissen müssen wahr sein, und die Schlussfolgerung muss den Regeln der Logik gehorchen (siehe dazu z.B. Bayer, K., Argument und Argumentation, 2007). Das ist zunächst einmal "nur" Theorie, aber eine praktisch folgenreiche, denn nur so sind die zahlreichen Fehlschlüsse vermeidbar, die in Politik, Wirtschaft und Alltag ständig begangen werden (dazu gehören u.A. statistische Fehlschlüsse, auch der Fehlschluss "post hoc ergo propter hoc" ("Danach, also deswegen") oder die Ableitung von moralischen Forderungen aus Tatsachen.

Neben den Gesetzen und Regeln der bekannten Logiken (formale Logik, deontische Logik etc.) ist unter dem Postulat der guten Begründung immer auch auf Nebenwirkungen von Maßnahmen zu achten (wie z.B. bei der überhasteten und flächendeckenden Digitalisierung). Auf den Punkt gebracht: Folgerichtiges Denken ist - zeitlich und sachlich - die erste Grundlage der Informationsgesellschaft, nicht digitale Medienkompetenz. Computer sind willkommen, aber nur in der o.g. Reihenfolge. M.a.W.: Die Informationsgesellschaft steht und fällt mit dem korrekten Denken - eine Fähigkeit, über die Computer nicht verfügen!

Deshalb ein Appell an die Politik: Stopft die Schulen nicht kopflos mit Computern voll, sondern sorgt zuerst mit entsprechend ausgebildeten Lehrern dafür, dass Schüler und Schülerinnen folgerichtiges Denken lernen! Dafür bedarf es keiner zusätzlichen Milliarden, sondern nur der klassischen Hilfsmittel "Kreide und Tafel". Erst danach sind die Computer dran - und dann auch willkommen. Nur so kann die sich bereits abzeichnende und computertechnisch verursachte unselige Allianz aus Datenflut und Denkebbe verhindert werden.

Außerdem: Die Zeit drängt viel weniger als Ihr uns glauben machen wollt, denn Deutschland befindet sich im internationalen Vergleich der KI-Forschung keineswegs im Hintertreffen. So sehen es Viele, auch Jürgen Schmidhuber, einer der international führenden KI-Forscher, der zusammen mit Sepp Hofreiter einen KI-Algorithmus entwickelt hat, der in Hunderten Millionen von Smartphones, in der Übersetzungsmaschine von Google und auch von Facebook verwendet wird.

In der FAZ stellt er gegen die Angstmache der Politiker fest, Deutschland sei für die Zukunft der KI besonders gut geeignet, nicht zuletzt deshalb, weil KI-Produkte auf dem international höchsten Stand der deutschen Industrie im Allgemeinen und des deutschen Maschinenbaus im Besonderen aufsetzen können. Auch der nicht zu bestreitende Vorsprung anderer Länder und Unternehmen bei der pekuniären Anwendung der KI, also mit Blick auf den Markt, sei nicht bedrohlich.

In Schmidhubers Worten:

"Die derzeit erzielten größten Gewinne mit Hilfe schlauer Computerprogramme erzielen Konzerne im Bereich Marketing und Werbung…bei Google, Facebook und Amazon…Marketing und Werbung steht aber nur für einen wirklich kleinen Teil der Weltwirtschaft."

Fazit: Die Computertechnik hierzulande steht für zentrale Wirtschaftsbereiche in den Startlöchern, mit hervorragenden Instituten und Wissenschaftlern. Nachholbedarf gibt es hier nicht. Was vorrangig fehlt, ist ein Übergang vom gesellschaftlich rasend grassierenden Bodybuilding zum Mindbuilding, d.h. eine groß angelegte politische Offensive für die breite gesellschaftliche Qualifizierung des Denkens, mit der eine Informationsgesellschaft steht und fällt.

Prof. em. Winfried D’Avis forschte und lehrte an verschiedenen Universitäten (Frankfurt, Klagenfurt, Perugia, Changsha) zu den Themen Logik der Forschung, Cognitive Science und Informationsgesellschaft. 2019 erschien bei sein Buch Geisteswissenschaftliche Grundlagen der Naturwissenschaften - Eine Kritik des Szientismus.