Der Aachener Vertrag: Der Wille zum Pomp und Desillusionierung

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Reaktionen auf den neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag: Konkrete Fortschritte immerhin bei den Regelungen zu den Grenzregionen?

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Armin Laschet sprach vom Enthusiasmus für die deutsch-französische Freundschaft, den es bei der Unterzeichnung des deutsch-französischen Vertrags im Jahr 1963 gegeben hatte. Er wünscht sich diesen Enthusiasmus zurück, war seinen Worten zu entnehmen.

Der CDU-Politiker hielt heute, am 22. Dezember 2019, in Aachen, wo man den neuen Vertrag mit Pomp feiert (der in manchen Medienberichten euphorisch widergespiegelt wird), eine Rede im Vorfeld der Unterzeichnung des neuen Freundschaftsvertrags durch Macron und Merkel. Der Vertrag soll erneuern, was Adenauer und de Gaulle vor 56 Jahren begonnen haben.

"Europa soll unter der Führung Frankreichs entstehen"

In den Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat sich einiges grundlegend verändert. Das ist unmittelbar an einem Satz abzulesen, den Adenauer in einer Unterredung im März 1966 an de Gaulle richtete: "Ich möchte Ihnen gegenüber einen Wunsch ausdrücken: Europa soll unter der Führung Frankreichs entstehen. Dies ist mein innigster Wunsch (…) Sie müssen der Chef Europas bleiben, und ich sage dies nicht, um Ihnen zu schmeicheln: Dies ist meine tiefste Überzeugung."

Heute würde man eher Merkel als Chefin Europas sehen - mit beträchtlichen Einschränkungen, die sich seit dem Herbst 2015 stark ausgewachsen haben. Es gibt seither ein Anti-Merkel-Europa. Und es gibt ein Anti-Macron-Europa, zu dem man auch Deutschland zählen könnte. Sämtliche Vorschläge Macrons zum Neuanfang der EU hatten wenig Chancen auf Verwirklichung, weil von Anfang an klar war, dass sich die deutsche Regierung nicht wirklich hinter ein größeres EU-Budget stellen würde, das Ängste einer Umverteilung deutscher Wirtschaftsleitung bedient.

Auch die Zustimmung zu anderen EU-Reform-Vorschlägen des Europaenthusiasten Macron blieb aus, Berlin hatte kein Interesse daran, dass mehr Kompetenzen an Brüssel abgegeben werden, dass es einen eigenen Finanzminister für die EU geben werde und ein Parlament mit beachtlichen Haushaltskompetenzen.

Eine eigenständige Macht

De Gaulle verknüpfte 1963 mit dem Freundschaftsvertrag eine interessante Ambition, nämlich die Eigenständigkeit Europas gegenüber den USA und der damaligen Sowjetunion. Frankreich sollte die Führungsrolle haben. Das Land hatte gerade eine wichtige Phase der Entkolonialisierung hinter sich, hatte aber als Atommacht noch den Abglanz einer Weltmacht. Was sich auch darin zeigte, dass es neben den USA, Russland, China und der anderen früheren Kolonialmacht Großbritannien Veto-Macht im UN-Sicherheitsrat besitzt.

1963 machte Adenauer dieser Ambition einen Strick durch die Rechnung. Der Bonner Kanzler bestand darauf, dass dem seinerzeitigen Elysée-Vertrag eine Präambel vorangestellt wurde, in der die Nato-Einbindung Deutschlands betont wurde. Zudem sprach sich Adenauer für eine Aufnahme Großbritanniens in den EU-Vorläufer EWG aus. Wie Wolf Lepenies in seinem Buch "Die Macht am Mittelmeer" zitiert, reagierte de Gaulle verbittert: "Le mariage n'a pas été consommé. " (Frei übersetzt: Es gab keine Hochzeitsnacht.)

"Militarismus à la carte"

2019 skizziert der Frankreich-Korrespondent des österreichischen Standard, Stefan Brändle, die Lage so:

Auch außen- und sicherheitspolitisch ist man nicht immer auf der gleichen Wellenlänge. Den Brexit sehen die Franzosen weniger dramatisch als die Deutschen. Fast froh über den EU-Rückzug der "liberalen" Briten, glaubt man in Paris, mit London die Militärkooperation nahtlos fortsetzen zu können. Deshalb treibt Macron eine "Europäische Interventions-Initiative" voran, bei der die Franzosen und die Briten dank ihrer Armeestärke das Sagen hätten. Weniger wichtig ist ihm, dass Merkel verteidigungspolitisch auf die "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" (Pesco) setzt, das heißt die Gegenorganisation mit möglichst allen EU-Partnern.

Standard

Nach Brändles Einschätzung ist der Gemeinschaftsgeist in Rüstungs- und Sicherheitsfragen nicht sonderlich groß. Er ist skeptisch, ob beide Länder bei den Waffenexporten etwa nach Saudi-Arabien tatsächlich ihre bisherigen Unterschiede überbrücken würden, wie es an dieser Stelle die Abgeordnete der Linken, Sevim Dagdelen, befürchtet, die gestern ein ganz deutliches Nein zum Aachener Aufrüstungsvertrag formulierte.

Doch der Vertrag hat es in sich. Anders als der Vorläufer, der Élysée-Vertrag von 1963, ist der Vertrag von Aachen im Wesentlichen ein binationaler Aufrüstungsvertrag. Denn das Kernstück des Vertragswerks sind die Aufrüstung im Rahmen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und eine Stärkung der jeweiligen Rüstungsindustrie, insbesondere durch noch schwammigere Rüstungsexportrichtlinien als die bisher geltenden. Und so liest sich denn der Vertragstext wie ein gemeinsamer Militarismus à la carte. (…) Der Aachener Vertrag bedeutet also nichts weniger als einen Generalangriff auf die Rüstungsexportrichtlinien, so dass man künftig beispielsweise ein gemeinsames Kampfflugzeug auch an kriegsführende Staaten wie Saudi-Arabien rechtssicher exportieren können wird.

Sevim Dagdelen

Für den Frankreich-Korrespondenten Brändle gibt es auch keinen Zweifel daran, dass Frankreich erstens seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat weder mit der EU noch mit Deutschland teilen werde und dass zweitens der Einsatz Frankreichs für einen permanenten deutschen Sitz "gleich null" Realisierungschancen hat.

Aufgepluderte Ängste

Die teilweise Weitergabe dieses verbliebenen französischen Weltmacht-Schalthebels an Deutschland gehört zu den beiden großen Ängsten, die in den vergangenen Tagen in rechts-nationalistischen Kreisen in Frankreich, gefördert von Marine Le Pen und führenden Vertretern ihres früheren Bündnispartners Partei Debout la France, für Wirbel und Aufregung sorgten.

Den Ängsten, die von einem Ausliefern des Alsace/Elsass an Deutschland durch den deutsch-französischen rumorten und dem Vertrag damit große Bedeutung verliehen, stehen Einschätzungen gegenüber, die im neuen Vertragstext wenig konkret Relevantes entdecken.

Bezeichnend dafür ist ein Beitrag des Wirtschaftsmagazins Makroskop, der das neue Übereinkommen damit zusammenfasst, dass die "deutsch-französische Achse eiert".

Der neue Vertrag ist Ausdruck für das, was heute in den deutsch-französischen Beziehungen noch geht - nämlich sehr, sehr wenig

Makroskop

Einzig die Absicht, einen deutsch-französischen Wirtschaftsraum zu entwickeln, wird bei Makroskop als "weitreichend" eingestuft - mit der Einschränkung, dass hier das Konzept von Kerneuropa und das Europa verschiedener Geschwindigkeiten durchscheint, was letztlich darauf hinauslaufen könnte, "die zentrifugalen Tendenzen in der Gesamt-EU weiter zu verstärken".

Ansonsten würden selbst "bei eher harmlosen Themen, wie der Förderung des Schulunterrichts in der jeweils anderen Sprache" Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.

Der Alltag der Pendler und Besucher wird erleichtert

Die Frankreich-Korrespondentin der FAZ, Michaela Wiegel, sieht das Ziel der Zweisprachigkeit, das im Vertrag im Artikel 15 verankert ist, im Rahmen eines pragmatischen Ansatzes, der durchaus im Vertrag zu finden ist. In ihrer Einschätzung verweist sie auf "die regionale und grenzüberschreitende Zusammenarbeit", die durch den Vertrag befördert wird. Es werden also schon kleine Ziele erreicht (wie auch die Tagesschau hervorhebt):

Im zentralistisch organisierten Staatsgebilde war es bislang nicht vorgesehen, dass Grenzregionen pragmatische Regelungen finden, um den Alltag der Pendler und Besucher zu erleichtern. Der Aachener Vertrag wird künftig erlauben, dass Eisenbahn- und Straßenverbindungen, aber auch digitale Netzwerke "grenzenlos" funktionieren. Eine Ausnahmeklausel erlaubt "angepasste Rechts- und Verwaltungsvorschriften". Faz

Wäre das Gespräch ein Maßstab, das im französischen "Alternativmedium" Atlantico zum Aachener Vertrag geführt wird, so gibt es auf französischer Seite nicht so viel Enthusiasmus für die deutsche Lebensart, sondern eher umgekehrt.

Statt freundschaftlicher Gefühle würden eher Befürchtungen dominieren. Ähnlich wie sie in früheren Konzepten eines "lateinischen Reiches" aufscheinen, das dem strengen Norden entgegengesetzt wurde. Eine große Debatte dazu - "Ein 'lateinisches Reich' gegen die deutsche Übermacht" - gab es allerdings zuletzt 2013. Seither verstummte die Rede davon.