Der Abgrund der Geschichte
Die westliche Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der letzten Jahrzehnte ist - gemessen an ihren eigenen Strategien und Zielvorgaben - gescheitert
Im Jemen ist ein neuer Krisenherd entstanden. Zusammen mit Saudi-Arabiens Alliierten, den reaktionären Golf-Monarchien Vereinige Arabische Emirate, Kuweit und Katar sowie dem von Saudi-Arabien okkupierten Bahrain, werden bislang überwiegend Luftangriffe auf Stellungen der Huthis geflogen. Gestern wies der Sprecher der Koalitionsstreitkräfte Meldungen zurück, dass man aus humanitären Gründen einen Waffenstillstand erwäge. Die Angriffe würden fortgesetzt. Währenddessen vergrößert al-Qaida sein Einflussgebiet und konnten die Huthi-Rebellen angeblich trotz der Luftangriffe bis zum Hafen von Aden vordringen.
Folgt man den amtlichen Verlautbarungen des Regimes in Riad, die von der westlichen Presse größtenteils und unkritisch übernommen werden, ist die saudisch geführte Intervention gegen die schiitischen Rebellen gerichtet, die seit dem Herbst letzten Jahres aus dem Nordjemen heraus die Hauptstadt Sanaa eroberten und danach weitere Gebiete des Landes im Süden eroberten.
Riad behauptet, mit diesem Eingreifen einem Hilfsgesuch des gestützten jemenitischen Präsidenten Abd Rabbo Mansur Hadi zu folgen. Hadi, der 2012 mit einem Ergebnis von 99,8% die Wahlen gewann, weshalb die saudische Presse ihn als "demokratisch gewählt" titulierte, hatte in der Tat um ein militärisches Eingreifen gebeten oder gebettelt. In Wirklichkeit geht es hier, wie auch bei der saudischen Besetzung von Bahrain, wo die schiitische Mehrheitsbevölkerung dabei war, das sunnitische Königshaus zu demontieren, um den Konflikt zwischen Schia und Sunni, zwischen Teheran und Riad um die Vorherrschaft in der Region.
Der Westen, der gegen Moskau alle möglichen Geschütze auffährt, als sich Russland nach dem Machtwechsel in Kiew in der Ukraine engagierte, schweigt wie üblich über die saudischen Einmischungen in die inneren Angelegenheiten souveräner Nachbarstaaten. Dass die politischen Umwälzungen im Jemen, wo die Lebensbedingungen immer unerträglicher geworden waren, sich nicht nur um einen Aufstand der schiitischen Minderheit handelt, den sogenannten Huthis, die dort nur knapp ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, lässt sich schon an den militärischen Erfolgen der Rebellen dort ablesen. In Wirklichkeit sind große Teile der jemenitischen Armee auf die Seite der Schiiten gewechselt, darunter die Luftwaffe und schlagkräftige Spezialeinheiten, weshalb die saudischen Luftangriffe sich ja auch überwiegend gegen Stützpunkte der jemenitischen Luftwaffe richteten.
Saudi-Arabien, welches in den vergangenen Jahren vom Westen massiv aufgerüstet wurde, riskiert durch dieses Eingreifen eine Menge. An seinen Grenzen, wie innerhalb des wahhabitischen Königreiches, lodern zahlreiche Brandherde, die durch dieses militärische Abenteuer entfacht werden könnten. Zum einen fühlt sich Riad von den IS-Kämpfern im benachbarten Irak bedroht, die es einst massiv aufrüstete und unterstützte. Viel mehr aber droht ein Aufstand der schiitischen Minderheit in Saudi-Arabien selbst und der schiitischen Mehrheit im besetzten Bahrain.
Der neue Konflikt im Jemen ist nur einer von unzähligen Krisen und Kriegen, von denen der Nahe Osten seit Jahren in der Folge der westlichen Interventionen von 2002 und 2003 heimgesucht wird. Niemand wagt es heute mehr von einem "Leuchtturm der Demokratie" zu schwafeln, wie der ehemalige Präsident Bush, auch der Krieg gegen den Terror, der ja schon länger anhält als der 1. und der 2. Weltkrieg zusammen, hat sich als bloße Worthülse entlarvt ("Die USA sind zu 90 Prozent für die aktuelle Situation im Irak verantwortlich"). Allerdings hat der Westen es geschafft, Iran zu einer Regionalmacht von beträchtlichem Einfluss zu machen, schon durch den Sturz der radikalsunnitischen Taliban in Kabul sowie des nationalarabischen Regimes in Bagdad, was aber den ursprünglichen strategischen Interessen widersprach.
Auf europäischem Boden spielt sich im Osten der Ukraine einer der absurdesten Territorialkonflikte ab, eine Konfrontation, die man bis vor kurzem noch für undenkbar hielt. Der Wunsch nach mehr Autonomie von Kiew, in der Ost-Ukraine, wäre nach dem Sturz des damaligen Präsidenten Janukowitsch möglicherweise diplomatisch zu regeln gewesen, wenn sich die NATO und Russland etwas zurückgehalten hätten. Die Spannungen, die sich dort schließlich entfachten, waren aber schon viel früher durch die Strategie der NATO-Osterweiterung bis in die unendlichen Ebenen Zentralasiens angelegt. Welche Erfolge man sich dadurch erhoffte oder erhofft, bleibt schleierhaft.
Es wird aber immer deutlicher, dass keine langfristigen außen-und verteidigungspolitischen Konzepte, welche man in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Brüssel, Washington oder wo auch immer erdacht hatte, auch nur einigermaßen zum Erfolg geführt hätten. Inzwischen tummeln sich schillernde und halbseidene Gestalten auf dem diplomatischen Parkett des Westens. Bernard-Henry Lévy, der französische Mode-Philosoph und Liebling der Pariser Bussi -Gesellschaft, hat ein neues Tätigkeitsfeld gefunden. BHL, wie er in Paris genannt wird, war einst eine Ikone der französischen 68er-Bewegung, nahm später die Pseudo-Fortschrittlichkeit der linken Intelligenz ins Visier und verdammte den marxistischen Totalitarismus.
Doch seine Menschenrechtsdoktrin erinnert in ihrer Rigorosität und Fortschrittsgläubigkeit an seine verblassten marxistischen Dogmen früherer Tage. Nachdem er einst dem damaligen französischen Präsidenten Sarkozy einflüsterte, sich am Sturz von Gaddafi in Libyen zu beteiligen, zum Schutz von Levis angeblichen Freunden in Bengasi, ist er heute im Osten Europas aktiv. Nach Bengasi scheint sich Lévy heute nicht mehr zu trauen, dafür ist er jetzt in Kiew anzutreffen, wo er die Ukraine als Berater fit für die Demokratie machen will, im Verbund mit abgehalfterten Politikern des Westens und ukrainischen Oligarchen.
Dieses Projekt wird genauso scheitern wie das Projekt Kosovo, welches der Westen einst als Protektorat auf dem Balkan etablierte und aus dem die Menschen heute in Massen flüchten. Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, welcher von einem ökonomischen, politischen, geostrategischen und moralischen Triumph der USA und ihrer westlichen Verbündeten flankiert war, kann von einem globalen amerikanischen, gar westlichen Herrschaftsmonopol nur noch sehr bedingt die Rede sein. Wie die multipolare Welt von morgen aussieht, deren Entstehungsprozess wir aktuell erleben und durchleben, weiß niemand zu sagen.
Was die momentane Ausgangslage angeht, erscheint aber ein Zitat des französischen Schriftstellers Paul Valéry von beklemmender Aktualität. "Et nous voyons maintenant que l'abîme de l'histoire est assez grand pour tout le monde" (Und wir sehen jetzt, dass der Abgrund der Geschichte Raum hat für alle).