Der Blick aus fremden Augen: verpönt, aber nötig
Seite 2: My head is my castle
Während die Rolle von Theory of Mind im Alltagsleben möglicherweise überschätzt wird, ist diese Fähigkeit fundamental wichtig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Wir denken alle verschieden, wir nehmen alle die Welt unterschiedlich wahr. Niemand kennt "die Wahrheit" (Wissen, Glauben, Zweifeln, Hoffen). Jeder von uns bewohnt seine eigene Blase. Gemeinschaft ist nur möglich, wenn wir immer und immer wieder bereit sind, die Gültigkeit anderer Blasen zuzulassen.
Das aber ist ein Wagnis. Denn wenn ich die Perspektive des Anderen einnehme, und sei es vorübergehend und testweise, dann verlasse ich meine sichere Basis. Dann betrachte ich mich selbst von außen, dann lasse ich den Gedanken zu, dass es außerhalb des meinen auch andere Standpunkte geben könnte.
Dass also meine Weltsicht nicht gesichert sein könnte. Dass ich mich zumindest ein klein wenig irren und der Andere zumindest ein klein wenig recht haben könnte. Ich verlasse die sichere Burg meines Weltbildes und liefere mich aus. Das verlangt Mut.
Das dürfte der Grund sein, weshalb diese geistige Übung offenkundig so vielen Menschen so furchtbar schwerfällt. Die Medien sind voller Beispiele; jeder Leser wird sofort nach seiner Neigung Dutzende Beispiele kennen – meist bei den Anderen. Sei es die Coronaimpfung oder der Ukrainekrieg, sei es der Klimawandel oder Einwanderung: Eine Debatte findet nicht statt, denn der Andere ist nicht bloß andersdenkend, sondern böse.
Die Wissenschaft bestätigt, dass Ängste die Theory of Mind stören. Wer sozial ängstlich ist, erkennt zwar noch die Gefühle Anderer, nicht aber ihre Absichten. Insbesondere freundlichen Signalen misstraut er. Ganz allgemein sinkt die Fähigkeit, das Denken von Anderen zu verstehen, mit steigender Angst.
Das spiegelt sich im Gehirn: Unter der Drohung eines Stromschocks sinkt die Aktivität des Ruhezustandsnetzwerks. Gerade die hinteren Anteile des Ruhezustandsnetzwerks in der Nähe der TPJ sind bei ängstlichen Menschen runtergeregelt. Angststörungen und eine ängstliche Persönlichkeit sind gekennzeichnet durch ein aktives Aufmerksamkeits-Netzwerk und ein deaktiviertes Ruhezustandsnetzwerk.
Was ja nur eine neurobiologische Übersetzung ist von: Ängstliche Menschen können sich nicht entspannen, sondern beobachten ständig nervös ihre Umgebung. Und da die die vermeintliche Bösartigkeit der Andersdenkenden ihrerseits bedrohlich ist, steigert sich die Reizbarkeit in einer unheilvollen Rückkopplungsspirale.
Leider greift diese innere Anspannung auch nach außen. Wenn man Menschen verunsichert, dann schließen sie sich bevorzugt mit Ihresgleichen zusammen, und Fremde aus. Das ist erstaunlicherweise unabhängig von der Art der Bedrohung ebenso wie von den eigenen politischen Einstellungen: Sobald man Menschen Angst macht, verfallen sie in das, was Immo Fritsche von der Universität Leipzig im Interview "autoritäres Denken" nennt:
Damit bezeichnen wir ein kollektives Denken, das drei Komponenten umfasst: erstens die Überzeugung, dass richtig ist, was im eigenen Umfeld als Norm gilt. Zweitens die Unterwerfung unter soziale Autoritäten sowie drittens autoritäre Aggression – etwa die Bereitschaft, Leute zu bestrafen, die vom Gruppenkonsens abweichen.
Auch hier überlasse ich es dem Leser, die offensichtlichen Beispiele zu ergänzen. Es ist offensichtlich, wie dieser psychosoziale Mechanismus zur vielfach beklagten Spaltung der Gesellschaft führt (Die Seuche Unsicherheit).
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