Der Blick aus fremden Augen: verpönt, aber nötig
Seite 3: Diplomatie unter Beschuss
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Es scheint, als sei die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, nicht nur im Rückgang, sondern sogar geradezu verpönt. Die Identitätstheorie behauptet nicht nur, dass jeder Mensch durch seine sexuelle, ethnische, rassische, sonstige "Identität" so stark geprägt sei, dass er Menschen anderer Identitäten gar nicht verstehen könne – sie leitet aus dieser Behauptung überdies das Verbot ab, sich in eine fremde Identität hineinzuversetzen.
Wenn ein Weißer sich schwarz schminkt, ist das "blackfacing" und rassistisch, wenn eine Europäerin Dreadlocks trägt, ist das "cultural appropriation" und verwerflich. Denn beide verfügten nicht über die Diskriminierungserfahrungen, die mit diesen äußeren Merkmalen verbunden sind, und – so die Unterstellung – könnten diese auch nicht nachvollziehen. So verleugnet diese Ideologie die gemeinsame Grundlage des Menschseins und entzieht jeglicher Verständigung und Solidarität den Boden.
Wahrhaft erschreckend zeigen sich die Folgen dieser Ideologie, wenn sie das Schauspiel erreichen. Tom Hanks entschuldigte sich kürzlich dafür, dass er als Heterosexueller im Film "Philadelphia" einen Schwulen gespielt hatte. Das würde er heute nicht mehr tun, sagte er, denn "die Leute würden die fehlende Authentizität nicht mehr akzeptieren". Er verdammt damit die gesamte Kunst des Schauspiels, für die er immerhin damals einen Oscar bekommen hat.
Denn Schauspiel ist ja gerade die Fähigkeit, etwas darzustellen, das man nicht ist. Hanks zufolge dürfte hingegen nur ein Aids-Kranker einen Aids-Kranken spielen, nur ein Vater einen Vater, nur ein Kinderschänder einen Kinderschänder, nur ein Massenmörder einen Massenmörder. Denkt man Hanks‘ Aussage zu Ende, dann dürfte jeder nur noch sich selbst spielen, denn nur das wäre authentisch. Und das Ende des Schauspiels.
Vollends gefährlich aber ist der Verlust der Fähigkeit zu Perspektivwechsel dort, wo sie zentral ist: In der Diplomatie. Den Verhandlungspartner ernst zu nehmen, ihm zu erlauben, sein Gesicht zu wahren, seine Sicht zuzulassen – das ist das integrale Kerngeschäft der Diplomatie. Sie ist das, was Egon Bahr in berühmt gewordenen Äußerungen von aller Politik konstatiert hat: das Benennen und Aushandeln von Interessen – und nicht das Schwadronieren über "Werte".
Im Urlaub lernte ich auf der Hotelterrasse den neuen griechischen Botschafter in unserem Urlaubsland kennen. Als echter alter Diplomat ließ er im Gespräch keinerlei politische Vorlieben erkennen. Aber darüber, dass Annelena Baerbock wenige Tage zuvor ihren türkischen Kollegen Mevlüt Çavuşoǧlu öffentlich brüskiert hatte, zeigte er sich fassungslos.
Baerbock hat mit diesem Auftritt – wie schon Anthony Blinken vor anderthalb Jahren gegenüber China in Anchorage – gezeigt, dass die bewährten Methoden der Diplomatie in den westlichen Staaten offenkundig nicht mehr beherrscht werden. Mission hat Diplomatie ersetzt. Auch die Art von Gesprächen, die einen Krieg verhindern können, scheint heute verpönt zu sein, weil sie voraussetzt, die Gegenperspektive zuzulassen.
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