Der Bürger im Abseits: Wie die Flüchtlingsdebatte brennende soziale Probleme verdrängt

Flüchtlingsdebatte und soziale Probleme in Deutschland

Soziale Herausforderungen im Schatten der Flüchtlingsdebatte

Streit um Flucht und Migration dominiert. Drängende soziale Probleme rücken so in den Hintergrund. Warum das Rechten wie Linken zupassekommt. Und was es mit Babylon Berlin zu tun hat.

Seit geraumer Zeit meint man aus allen politischen Ecken, auf allen Foren, Plattformen und Bühnen mehr oder weniger das Gleiche zu hören: "Unser" allergrößtes und dringlichstes Problem sei die hohe Zahl von Flüchtlingen; und sie müsse so schnell wie möglich begrenzt werden.

Wo bis in jüngster Vergangenheit Besonnenheit angesichts sehr komplizierter Fluchtursachen und -wege, europäisch-nachbarschaftlicher Verhältnisse und vielfach kooperationsunwilliger Herkunftsländer herrschte, besteht nun von links bis rechts Einigkeit, zumindest dem rhetorischen Anschein nach.

Vom rechten politischen Spektrum her hat es sich bis weit nach links durchgesetzt, nach einer Begrenzung der Zahl von Migranten zu verlangen. Anscheinend spielen auch viele in der Mitte dieses Spektrums sich verortende Politiker mit dem Gedanken, auf diesem abschüssigen Weg immer weiteres Abdriften Richtung AfD zu verhindern – der man allerdings dabei immer ähnlicher wird.

Es war offenbar keineswegs bloß süffisante Gehässigkeit, als ein führender AfD-Politiker kürzlich sogar Positionen ehemaliger Angehöriger der Linken bescheinigte, im Grunde lupenrein rechtem Denken anzuhängen.

Burkhard Liebsch ist Professor für Philosophie an der Universität Bochum.

Nicht zu bestreiten und in keiner Weise zu beschönigen, ist die eminente Herausforderung für lokale Sozialämter und Gemeinden, die teilweise nicht mehr wissen, wie sie angemessenen Wohnraum besorgen sollen, ganz abgesehen von weitergehender Förderung von Integration.

Deshalb greifen manche zu Notbehelfen wie Turnhallen, aber auch Containerwohnungen, die teilweise für mehrere hundert Insassen ausreichen sollen und sich schon wie exterritoriale Exklaven ausnehmen, am Ortsrand gelegen oder noch weiter weg in einer grünen Pampa…

Dabei kommt es zweifellos manchmal zu bedenklichen quantitativen Missverhältnissen: Gemeinden mit relativ wenigen Einwohnern sollen fast ebenso viele fremde Neuankömmlinge aufnehmen.

Selbst wenn alle allseits besten Willens wären, wären die absehbaren lebenspraktischen Probleme nur schwer zu bewältigen, die aus einem solchen Missverhältnis erwachsen müssen, schon allein aufgrund großer sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten, von kulturellen und anderen Differenzen ganz zu schweigen.

Mehrheit sieht kein Flüchtlingsproblem

Niemand wird erwarten können, dass sich jede(r) Ortsansässige nachhaltig um einen Neuankömmling oder gar um mehr Fremde kümmert. Die aus vieltausendfacher Zuwanderung und Flucht resultierenden praktischen Probleme spielen sich in der Regel ohnehin an Fronten ab, von denen die allermeisten Ansässigen kaum etwas mitbekommen.

Es sind die Sozialämter vor Ort und deren Angestellte, die Bürgermeister:innen und – nach wie vor – viele freiwillige Helfer, die die anstehenden Probleme zu bewältigen versuchen, so gut es eben geht.

Für die "normale Bevölkerung" dagegen existiert ein dringliches Flüchtlingsproblem nach wie vor überhaupt nicht. Es sei denn, man hat sich um die erforderliche nachbarschaftliche Einbeziehung aller Beteiligten nicht gekümmert. Jedenfalls kommt diesem Problem keinesfalls absoluter Vorrang vor allem anderem zu. Genau dazu stilisiert man es jetzt vielerorts jedoch hoch.

Dabei sind es regelmäßig gerade die Unbeteiligten, die sich wortreich und polemisch darüber auslassen, dass das wichtigste und dringlichste unserer Probleme die Begrenzung von Flucht und Migration sei.

Kürzlich will man durch die üblichen Umfragen den empirischen Beweis dafür erbracht haben: Flucht und Migration von Fremden (die so gut wie niemand kennen kann) seien in der Meinung des Wahlvolkes das vorrangige Problem, um das sich nun jede Partei kümmern soll, die nicht Gefahr laufen will, völlig marginalisiert zu werden.

Dabei darf man getrost unterstellen, dass die Spitzen der Politik, die sich vom doppelten Gerücht von öffentlicher Meinung und Volkswillen nicht nur beeindrucken lassen, sondern sich ihm auch noch freiwillig unterwerfen, im Grunde genau wissen, dass wir in Wahrheit ganz andere Probleme haben.

Oder meinen sie im Ernst, bei der seit 2008 weiter schwelenden Finanzkrise, bei der massiven Überschuldung des Staates, die gegenwärtig durch den gegen die Ukraine und gegen Europa, also auch gegen uns geführten Krieg verschärft wird, oder bei der Inflation handle es sich vergleichsweise um Nebensachen bzw. zweitrangige Schwierigkeiten?

Oder glaubt man, die immer weiter zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit und der eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum könnte durch eine Brutalisierung der gängigen Abschiebepraxis behoben oder auch nur gemindert werden? Das ist kaum zu vermuten.

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