Der Bürger im Abseits: Wie die Flüchtlingsdebatte brennende soziale Probleme verdrängt

Seite 3: Die Fehler aller bisherigen Regierungen

Diese Aufgaben hat jede Regierung, ganz gleich von welchen Parteien sie geführt wird. Und alle bisherigen Regierungen haben sie eklatant vernachlässigt und damit das Anwachsen eines rechtsradikalen Potenzials zu verantworten, das sich Demagogen von rechts nun zunutze machen können, die außer aufwiegelnder Rhetorik nichts zu bieten haben. Jedenfalls ist bislang nichts bekannt geworden, was das Land weiterbringen könnte.

Teile ihrer Anhängerschaft sind jedoch offenbar derart von allen etablierten Parteien frustriert, dass sie auch eine linke Variante von Populismus wählen würden (wie man wiederum jüngst empirisch ermittelt haben will), Hauptsache, es ist endlich Schluss mit einer Politik, die die wirklichen gesellschaftlichen Probleme immerzu beschönigt.

Statt davon nun aber abzulassen und sich diesem Drängen auf politische Wahrheit zu stellen, greift man wieder zu den Schwächsten, Flüchtlingen und Migranten, an deren Schicksal man sich schadlos hält. Als ob sie etwas dafür könnten, was man hier seit Langem selbst versäumt hat.

Dabei könnte man dafür, dass Fremde überhaupt noch einen Weg hierher finden, dankbar sein – wenn schon nicht aus freiwilligem Entgegenkommen, Interesse und im Rahmen kultureller Gastlichkeit, dann doch wenigstens angesichts einer ebenfalls seit vielen Jahren absehbaren demografischen Entwicklung, die längst dazu hätte führen müssen, die Renten ebenso wie die Kranken- und Pflegeversicherung auf ein solidarisches System umzustellen, in das alle einzahlen.

Stattdessen laufen die Kosten auch hier aus dem Ruder; und immer weniger Personal findet sich, das dazu bereit ist, schlecht bezahlte Jobs in Bereichen wie der Pflege von Alten und Gebrechlichen anzunehmen.

Zeigt sich daran, welche Geringschätzung man in Wahrheit jenem viel zitierten "Sozialen" entgegenbringt, das man unserem Staat und unserer Wirtschaft so gerne als Attribut anheftet, ohne je bedacht zu haben, dass beide von ihm getragen werden und untergehen müssen, wenn man das vergisst?

Nachdem sich ein ehemaliger Chef des Bundesministeriums des Innern und für Heimat jahrelang ungestört über die absehbare demografische Entwicklung in aversivem Reden gegen Fremde hervortun durfte, kommt man jetzt auf die Idee, man könnte doch wieder welche importieren, um schlecht bezahlte Stellen im sozialen Bereich und Fachkräftepositionen zu besetzen – wozu man aus eigener Kraft nicht annähernd ausreichend in der Lage ist.

Dabei hätte man doch längst wissen können, dass dieses Land auf die ständige Aufnahme Fremder angewiesen ist, wenigstens im eigenen ökonomischen Interesse, wenn schon nicht deshalb, weil man nach 1933–1945 endlich begriffen hätte, dass soziale Gastlichkeit die Kultur selbst (und kein Bereich unter beliebigen anderen) ist, wie es ein bekannter französischer Philosoph einmal (sehr vereinfacht) formuliert hat.

Das ständige Driften nach rechts im Zeichen der Unfähigkeit, sich endlich dem eigenen Versagen in den elementarsten sozialstaatlichen Aufgaben zu stellen, vernebelt diese Zusammenhänge immer mehr – bis schließlich alle glauben, vor Fremden, die niemand kennt, hätten wir uns in Acht zu nehmen, um besser "unter uns" zu bleiben.1

Angst vor dem kommenden Wahlergebnis

Es steht zu befürchten, dass man auf diesem fatalen Weg zunehmenden politischen Niveauverlusts immer weiter machen wird, aus Angst nur vor den nächsten Wahlergebnissen. Davon werden sich die wirklichen Probleme allerdings nicht beeindrucken lassen. Und das Drängen auf deren schonungslose Bestandsaufnahme lässt sich nicht einfach pauschal als populistisch irregeführtes abtun.

Ist es nicht ein Armutszeugnis für dieses Land, wenn diese Probleme am schärfsten nicht im Parlament, sondern weit mehr – und dankenswerterweise – in politischem Kabarett angesprochen werden, das dabei allerdings seinen satirischen Witz gänzlich einzubüßen droht?

So griff Sarah Bosetti, Trägerin u.a. des Dieter-Hildebrandt-Preises 2021, kürzlich mit leicht verzweifelt wirkendem Unterton zum Mittel monotoner Redundanz, um dem neu-alten Gerede über Fremde als unser angeblich allergrößtes Problem überhaupt noch etwas entgegensetzen zu können:

Wir haben 20 Prozent Kinderarmut in Deutschland. Wir haben 20 Prozent Kinderarmut in Deutschland. Wir haben 20 Prozent Kinderarmut in Deutschland. Wir haben 20 Prozent Kinderarmut in Deutschland. Wir haben 20 Prozent Kinderarmut in Deutschland…

Davon lassen allerdings jene Umfragen gar nichts ahnen, die nunmehr den zweifelhaften Erfolg einer öffentlichen politischen Rhetorik widerspiegeln, welche mit der Beschwörung von überhandnehmender Flucht und Migration ihr eigenes sozialstaatliches Versagen kaschiert.

Zu befürchten ist, dass wir dafür infolge immer weiterer Verschärfung der sozialen Verwerfungen in diesem Land eine brutale Rechnung präsentiert bekommen werden, wenn man in diesen Dingen nicht endlich umdenkt. Geht derzeit vielen die Serie Babylon Berlin deshalb so sehr unter die Haut?

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