Der Club der Ungeliebten

Über deutschnationale Brandstifter, populistische "Volkspartei"-Männer und Gegenstrategien

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In der Weimarer Republik waren einige bürgerliche Politiker von Format weithin wehrlos der tödlichen Hetze des deutschnationalen Komplexes ausgeliefert. Die Rechtsterroristen ermordeten am 26. August 1921 den katholischen Politiker Matthias Erzberger und am 24. Juni 1922 den liberalen Außenminister Walter Rathenau. Im Parlament zeigte Reichskanzler Josef Wirth, Mitglied der bedeutsamsten CDU-Vorläuferpartei Zentrum, am 25. Juni 1922 auf die Abgeordnetensitze der Deutschnationalen:

Da steht der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. Da steht der Feind - und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!

Die obersten Drahtzieher der deutschnationalen Menschenfeindlichkeit waren keine kleinbürgerlichen Spießer, sondern die Spitzen des Kapitals und hohe Militärs. Indessen zielten die über eine machtvolle Medienlogistik verbreiteten Hetzparolen und Heilsversprechen der Deutschnationalen auf ein riesiges Heer der Ungeliebten.

Walther Rathenau (Bild: Public Domain), Matthias Erzberger (Bild: Diethart Kerbs, Deutsches Bundesarchiv, Bild 146-1989-072-16, Lizenz: CC-BY-SA-3.0)

Mehreren Generationen von Männern hatte man im Kaiserreich beigebracht, dass ein männlicher Mensch nur als Soldat etwas wert und in phallischer Hinsicht ausreichend ausgestattet ist. Das von sozialen Abstiegsängsten verunsicherte Kleinbürgertum war über einen allgegenwärtigen Kult des Nationalen, längst durchsetzt mit rassistischem Germanenwahn, bei der Stange gehalten worden.

Mit dem Zusammenbruch der National- und Militärreligion blieben nun Millionen Männlein zurück, die sich kastriert, leer und innerlich wertlos vorkamen. Sie konnten ihr nie entwickeltes und also nicht vorhandenes Selbstwertgefühl nicht mehr durch ein Plagiat - nämlich die Zugehörigkeit zu einem glorreichen, auserwählten Großkollektiv - substituieren. Hinter den Fahnen-Fetischen: nur leere Luft und Fürze. Aus dem Dunstkreis dieser üblen Winde wurden die Ausführenden des Gewaltterrors rekrutiert.

Die analytische Kategorie des Ungeliebtseins

Der Allgemeinplatz, dass Weimarer Republik und Bundesrepublik nicht dasselbe sind, hilft uns angesichts der deutschnationalen Renaissance und der erst im Ansatz sichtbar werdenden Herausforderungen der Gegenwart nicht viel weiter. Seit der Regierungszeit des nachmaligen Staatskonzern-Nutznießers Gerhard Schröder haben wir Institutionen, die - je nach Persönlichkeit der Mitarbeiter - das Selbstwertgefühl von kleinen Leuten (z.B. Grundbedarfs-"Kunden") ganz nach Dienstvorschrift systematisch beschädigen.

Rechtsextremistische Drahtzieher und bis weit ins Bürgertum hineinreichende neue Deutschnationale wissen längst, dass es für rechte Parolen bei Verlierern, "Zukurzgekommenen" und Verlustgeängstigten wieder einen nennenswerten Resonanzboden gibt. Solange den jahrzehntelangen, tiefgreifenden Beschädigungen der Gesellschaft durch die ideologische Agenda des Neoliberalismus nicht etwas Neues entgegengestellt wird, ist diesbezüglich mit einer Aufhellung nicht zu rechnen.

Nur ökonomische, politische, soziale und kulturelle Verhältnisse, die der Entwicklung von wirklichem Selbstwertgefühl förderlich sind, werden an der Wurzel Abhilfe schaffen. Allein in Richtung einer "Gesellschaft der Geliebten" lässt sich die Würde jedes Menschen - statt bloß eine Worthülse zu sein - lebendig erfahren und bewahrheiten.

Die von mir hier ins Spiel gebrachte "Kategorie des Ungeliebtseins" zielt auf höchst bedeutsame Unterscheidungen. Zuvorderst fällt der Blick auf die politischen und agitatorischen Netzwerke, die auf den "Strukturen des Ungeliebtseins" basieren und diese für ihre Zwecke instrumentalisieren. Beim Umgang mit diesen organisierten Formen der Menschenverachtung und Angstpropaganda kann es im Zuge einer "Ersten Hilfe" nur um strikte Trennlinien (Ausgrenzung!), nicht um tiefere Ursachenbekämpfung gehen.

Aus sozialpsychologischen Erkenntnissen, wie sie etwa die Schriften von Erich Fromm oder Arno Gruen vermitteln, können wir wissen: Die potentielle Anhängerschaft der Populisten und Rechtsextremisten ist bei allem Kampfgeschrei zutiefst autoritätshörig und folgt im Fall des Falles gerade denjenigen, die sie in Wirklichkeit verachten. Wer die Brandstifter über bürgerliche Gesprächsangebote, verständnisvolle Medienkommentare oder Querfront-Strategien hofiert, hilft mit beim Autoritäts-Aufbau der "falschen Götter"!

Nichts wäre also fataler, als wenn staatliche bzw. politische Funktionsträger den Organisationsformen, Repräsentanten oder Deklarationen der sich formierenden Rechten irgendwo auch nur mit einem Fingerbreit "Dialog" entgegenkommen. Dies schien Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) noch nicht kapiert zu haben, als er sich im Frühjahr demonstrativ für ein "Recht, deutschnational zu sein" aussprach und medienwirksam einen pseudo-privaten Pegida-Dialog versuchte.

Verkappte Ermutigungen in Richtung rechts? Dümmer gehtʼs nicht! Wenn nicht namentlich die zumeist jungen Antifa-Szenen durch abschreckende Störmanöver gegengesteuert hätten, wären auch in den Großstädten der westlichen Bundesländer erheblich mehr "Kleinbürger" zu den Aufmärschen der Pegida-Hetzer und Nazi-Aktivisten gestoßen. Im Übrigen wird es Zeit für eine Klarstellung durch den Gesetzgeber, dass es kein "Bürgerrecht" gibt zur Hetze vor Wohnungen und Unterkünften von Menschen, die einem nicht passen und zwar aus "Gründen", deren Propagierung einem Angriff auf "Artikel 1" unserer Verfassung gleichkommt.

Wer auch nur ansatzweise weiß, was wir den Deutschnationalen in der Geschichte dieses Landes "verdanken", wird künftig auch nicht mehr von einem "Recht, deutschnational zu sein" faseln. Es gab nicht nur die Nazis: Rassistisch, antisemitisch, militant-antidemokratisch und terrorbereit war man auch in den Reihen der DNVP. Überdies sollten wir uns beim Blick auf Historie und Gegenwart nicht nur an die einschlägig verdächtigen Parteibücher halten. Auch ein Pseudo- bzw. National-Sozialdemokrat wie Gustav Noske, Befürworter des Imperialismus, ist auf seine Weise deutsch-national und äußerst gewaltbereit gewesen.

Das Heer der Ungeliebten als "Pack" zu beschimpfen, ist zu billig ...

Von den Politkomplexen und Akteuren, die sich die "Strukturen des Ungeliebtseins" zunutze machen, ist nun aber die von diesen anvisierte Zielgruppe der Ungeliebten unbedingt zu unterscheiden. Als das populistisch aufgeheizte "Volk" auf einmal sehr ungemütlich und gar gewalttätig wurde, sprach auch Siegmar Gabriel vom "Pack". Manch einer möchte diese Feindüberschrift gleich über den ganzen Club der Verführbaren setzen.

Das ist zu billig und sogar außerordentlich kontraproduktiv. Denn in diesem Fall hören die Ungeliebten (Ich bin Pack) , die eben zum Großteil doch auf einer Verliererseite (Ostdeutschland erwache) stehen, wieder das, was sie ja aufgrund ihrer leibhaftigen Lebenserfahrungen immer schon zu hören meinten: "Ihr seid Abschaum, überflüssig und unerwünscht!"

Ich denke hier z.B. an eine nächtliche Begegnung mit zwei Neonazis auf einem sauerländischen Kleinstadtbahnhof (unpassender Weise nach einem Vortrag über jüdische Fußballpioniere der 1920er Jahre). Beide hatten die Sonderschule abgebrochen, um mit harter Maloche alsbald Geld ins Haus zu bekommen und abends Bier trinken zu können. Meinen Ausführungen über ihren "Dünnschiss von einem stolzen Ariertum" vermochten sie außer Achselzucken nichts entgegenhalten.

Im Einzelgespräch ergab es sich dann, dass "man" als ehemaliger Sonderschüler in der braunen Kameradschaft eigentlich auch nur verarscht wird. (Diese Erfahrung hatte zum Ausstieg geführt.) Ich versuche - auch im Gespräch mit Antifa-Aktivisten - die Problematik zu vermitteln, solche jungen Männer ohne Erfahrungen von Selbstwert und Respekt kurzerhand als persönliche Feinde abzustempeln - und basta. Sicher, man kann sie mit den eigenen Bildungsressourcen totreden, in moralischer Selbstgewissheit verspotten oder demolieren. Nichts wäre gewonnen!

Es ist nicht leicht, hier in der Betrachtungsweise die klare Freund-Feind-Oberfläche zu verlassen. Meine beiden nächtlichen Gesprächspartner könnten ja wirklich einmal Brandsätze legen. Ich meine, dass wir an dieser Stelle gemeinsame Beratschlagungen von klugen und lebenskundigen Leuten brauchen, welche Botschaften und Strategien im Umgang mit den "verführbaren Ungeliebten" wirklich weiterhelfen.

Wir können ja nicht warten, bis nach einem zukünftigen Ende der aggressiven Ökonomie samt all ihrer Hilfseinrichtungen zur Zurichtung von Menschen irgendwann das Wachstum von Selbstwertgefühl und zwischenmenschlicher Solidarität endlich als größter gesellschaftlicher Reichtum begriffen wird.

Eine öffentliche "Kultur des Geliebtseins" muss aus naheliegenden Gründen schon jetzt vorweggenommen werden. Es gibt Anzeichen dafür, dass dies möglich ist. Wo antifaschistisches und humanistisches Engagement jedoch in den Kategorien des Siegens über Feinde steckenbleibt, werden die Aussichten erheblich getrübt. Der Kult der Gewinner ist an der Wurzel auszutrocknen; das betrifft auch den Bereich "moralischer" Überlegenheitsgefühle.

World in Union. Bild: Peter Bürger

Viel wäre in einer ersten Phase schon gewonnen, wenn alle Zusammenhänge, in denen man den eigenen "Selbstwert" auf Kosten anderer Menschen zu konstruieren gedenkt, in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Welt des verdeckten Selbsthasses und der Langeweile entlarvt werden. Wer würde dann noch gerne zu diesem Komplex zählen und damit Mitleid oder Gelächter ernten wollen?

Mit den Flüchtlingen zieht der entgrenzte Globus des dritten Jahrtausends (Zwischen Humanität und wirtschaftlichem Kalkül) nunmehr viel schneller als gedacht in unserer direkten Nachbarschaft ein. Noch vor allem anderen, das notwendig ist, haben Menschen an vielen Orten diesen Vorgang spontan unter das Vorzeichen des Festes gestellt. Hier ereignete sich etwas Neues, Spannendes, eben ein aufregendes Fest. Die Zeitkommentatoren sollten sich dieser Tage hüten, das Fest schon wieder abzusagen, bevor es überhaupt richtig begonnen hat.

Meine Vermutung ins plakative Bild gesetzt: Die Einladung zu einem attraktiven Fest, bei dem niemand gerne "außen vor stehen" möchte, ist auf jeden Fall wirkungsvoller als jede Moralpredigt. In vielen Fällen ist es auf die Dauer vermutlich auch effektiver, die traurigen Aufmärsche der Pegida-Sektierer mit festlichem Lachen, Tanzen oder künstlerischen Mitleids-Chören und nicht mit anstrengender Schreierei zu beantworten.

Humanistische Polemik gegen rechte und populistische Waschlappen

Es bleibt jedoch dabei, dass die rechten Instrumentalisierer und Drahtzieher verlästert werden müssen! Unlängst gab es sonntags auf Telepolis hierzu Beispiele, die ich für löblich halte. Franz Alt sprach (Herr Seehofer, wo bleibt das "Hohe C"?) von den "braungefärbten Sprüchen" des Horst Seehofer. So muss man Klartext reden, um verstanden zu werden. Rüdiger Suchsland schrieb am gleichen Tag von den "Musketieren Botho Strauß, Rüdiger Safranski, Martin Mosebach und Jan Fleischhauer", die "seit Jahren die schwarzbraune Flagge" hissen und sich vor allem durch Klagen oder Jammern profilieren (Wie rechts ist Deutschland?). Falls Suchsland mit seinen Ausführungen zur "existentialistischen" Kehrtwende der Kanzlerin richtig liegt, darf man vielleicht auch hoffen, dass die Regierungschefin den Waschlappen von rechts, die sich in verbalen Kraftmeiereien ergehen, bald auch vorhält, dass sie Waschlappen sind.

1946 wären in unserem Land zigtausend Schlesier und andere Vertriebene verhungert, wenn ihr Schicksal in den Händen von rechten Schwätzern und Waschlappen gelegen hätte. Am Bahnhof der sauerländischen Kreisstadt Meschede kamen Tag für Tag überfüllte Züge mit Flüchtlingen an. Die katholische Pazifistin und Stadträtin Irmgard Rode, die damals noch auf ihren kriegsgefangenen Mann wartete und kleine Kinder zuhause hatte, sorgte dafür, dass wenigstens Matratzen in die Notbarracken gelangten, und initiierte alsbald ein umfangreiches Solidarnetz - mit nennenswerten Selbsthilfe-Anteilen.

Zu jener Zeit hatten viele Familien, die Flüchtlinge aufnahmen, selbst wenig Wohnraum, und es herrschte auch allgemein noch große Nahrungsmittelknappheit. Irmgard Rode musste sich zudem mit Männern herumschlagen, die argwöhnten, die Leute aus dem Osten seien vielleicht nicht alle "arisch"! Ich sehe sie noch, wie sie sich in den 1980er Jahren als alte Frau mit hochgradiger Sehbehinderung auf den Weg machte zum "Internationalen Kinderhaus", das sie ohne behördliche Genehmigung eigenmächtig in einer alten Berufsschule gegründet hatte. Sie wollte zeigen, dass man anders Mensch sein kann als jene, die in kürzester Zeitspanne mit deutscher Organisationsgründlichkeit Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ins Land zu "holen" vermocht hatten, um sie auszubeuten, zu quälen oder später auch zu ermorden.

Schämen sollen sich alle, die sich dieser Tage im Kontext der Flüchtlingsfrage an der Verbreitung von dunklen Angstbotschaften, Futterneid und Ressentiments beteiligen - selbst aber materiell gut versorgt, gesättigt und gesichert sind. "Arme Länder" haben in jüngster Vergangenheit Millionen Flüchtlingen aufgenommen und sind bei der Versorgung dieser Mitmenschen über ihre Möglichkeiten hinausgegangen.

Wir selbst leben - wenn auch unter einer aberwitzigen Ungleichverteilung der Vermögen - in einem der reichsten Länder auf dem Globus. In der Tat, es ist auch eine Frage des "Stolzes, ein Mensch zu sein", wenn die Kanzlerin der Bundesrepublik angesichts des Massenelends banger Menschengeschwister sagt: "Wir schaffen das, wie anstrengend und schwierig es auch immer wird!"

Die Unionsparteien müssen klären, welcher Tradition sie folgen wollen

Mit Blick auf die Überschrift dieses Beitrages liegt die Versuchung nahe, auch die CSU dem "Club der Ungeliebten" zuzuordnen und darüber zu sinnieren, ob man ihr nicht vielleicht doch besser ein paar mehr Streicheleinheiten in der Vergangenheit hätte zukommen lassen sollen. Eine Reihe kurioser Vorschläge, aufgeblasen zu Angelegenheiten von höchster nationaler Bedeutung, hat die bayerische Christen-Union in den letzten Legislaturperioden eingebracht - aber weithin erfolglos. Möglicherweise ist diese ewige Monopolpartei unter allen Volksparteien schon am meisten ausgetrocknet: ideenlos, langweilig, bar jeder Vision, nur noch um den Machterhalt kreisend.

Die Geschichte ist aber gar nicht lustig. CSU-Leuchte Markus Söder würde, wenn man ihn ließe, das "Grundrecht auf Asyl", ein Identitätsmerkmal unserer Republik, gerne zur Disposition stellen und gibt damit allen Verfassungsfeinden Futter. Der bayerische Ministerpräsident droht der Kanzlerin in Sachen Flüchtlingspolitik mit einer Verfassungsklage und wirft ihr wortgewaltig eine "Kapitulation des Rechtsstaats" vor. Mitnichten geht es bei seinen Einsprüchen etwa nur um einen - berechtigten - Appell an den Bund, den Kommunen beizustehen, oder um die - ebenfalls berechtigte - Forderung, im Zusammenspiel aller Beteiligten einen soliden Überblick über das ganze Ausmaß der anstehenden Herausforderungen zu erarbeiten.

Bild Horst Seehofer: Ralf Roletschek, Bild Pickelhaube: Engelberger, Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Horst Seehofer hat die rote Linie überschritten und der rechtsradikalen Hatz auf Angela Merkel Munition geliefert. Wer auch nur halbwegs wach wahrnimmt, was im Land los ist, muss seine Entgleisungen als staatspolitische Verantwortungslosigkeit der allerschlimmsten Art einordnen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Dieser Politiker hat entweder einfach nicht begriffen, dass es bei der Flüchtlingspolitik nicht um den Ausgang der nächsten Wahlen in Bayern und individuelle Karriereformate geht, sondern um Hilfe für sehr viele Menschen in Not und um eine das ganze Land betreffende Weichenstellung ("Aufbruch zur Menschenwürde oder Gewalt") für das kommende Jahrzehnt. Oder: Die bayerischen Union will einen neuen Rechtskurs und ist bereit, dieses Ansinnen ohne Rücksicht auf Verluste durchzuziehen ...

Wenn das Letzte zutrifft, müssen wir auf jeden Fall zurück nach Weimar blicken: Im zweiten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl 1925 siegte Generalfeldmarschall und Kriegsverbrecher Paul von Hindenburg auch deshalb, weil die katholische Bayerische Volkspartei (BVP) im Gegensatz zu ihrer Schwesterpartei Zentrum für den nationalistischen Protestanten und nicht für den katholischen Kandidaten der republiktreuen Parteien geworben hatte. Entscheidend war schließlich ein Plus von gut 900.000 Stimmen, und das entsprach etwa den von BVP-Wählern abgegebenen Stimmen.

Man kann durchaus vertreten, dass die BVP als Zünglein an der Waage den Mann auf den Präsidentenstuhl gebracht hat, der dann im Januar 1933 Adolf Hitler zum Kanzler machte. So oder so, die BVP verband sich aufgrund ihrer eingefleischten Feindschaft gegen die Sozialdemokratie mit den bayerischen Deutschnationalen, also mit den antidemokratischen Hetzern, und wies ein beträchtliches rechtskatholisches Potential auf. Bisweilen beschleicht einen bei hässlichen Funden zu bayerischen "Eigenheiten" der Verdacht, dieses Gespann könne auch die Geschichte der CSU ziemlich zu gleichen Teilen geprägt haben.

Sollte sich die CSU endgültig für einen antisolidarischen und rechtspopulistischen Kurs in der Flüchtlingspolitik entscheiden, wie immer sie dies auch durch scheinheilige Bedenkenträgerei verpacken mag, so steht diese Partei gegen beide Kirchenleitungen im Land, gegen den Ökumenischen Weltrat der Kirchen und gegen die Aufrufe des Bischofs von Rom wider eine "Globalisierung der Gleichgültigkeit". Im Klartext: Horst Seehofer muss sich entscheiden, ob er die CSU als christliche Partei versteht oder auf ein deutschnationales Glatteis führen will. Die Frommen in der CSU sollten den Flügelkampf nicht scheuen! Die Einheit der globalen Menschenfamilie steht im Katechismus. Nationalgrenzen sind hingegen kein Gegenstand des Glaubensbekenntnisses!

Es würde zu weit führen, hier das ganze Spektrum der Spekulationen, Deutungen und Unterstellungen (!) im Zusammenhang mit Angela Merkels "flüchtlingspolitischer Wende" in Augenschein zu nehmen. Das couragierte, mit einer öffentlichen "Verführung zur Menschlichkeit" einhergehende Grundsatzvotum der Kanzlerin ist mit dem Risiko verbunden, dass es nur "funktioniert", wenn alle parlamentarischen Kräfte sich ohne Ausnahme für einen humanistischen Verfassungspatriotismus entscheiden.

Mit Sicherheit darf man natürlich davon ausgehen, dass sich die Teams im Kanzleramt auf der Grundlage von Expertisen vom offenen Kurs handfeste Vorteile für die weitere Entwicklung Deutschlands versprechen. Indessen halte ich persönlich doch auch an der Möglichkeit fest, dass die aus einer DDR-Pfarrersfamilie stammende Regierungschefin von der Botschaft des Jesus von Nazareth einfach mehr verstanden hat als manch strammer Folklorekatholik in bayerischen Unionsgefilden.

Warum wir einen Matthias-Erzberger-Preis brauchen

Zum Schluss dieses Beitrages soll hier noch einmal der von Deutschnationalen zum Freiwild erklärte und dann von Rechtsterroristen ermordete Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1875-1921) genannt werden. Er war ein frommer Kleinbürger, Vertreter von Arbeiterinteressen und zum Zeitpunkt seiner Ermordung eine Leitgestalt des Friedensbundes deutscher Katholiken (FdK).

Nach den unter Bischof Franziskus von Rom in diesem Jahr erfolgten Klarstellungen zur "Blutzeugenschaft" spricht einiges dafür, diesen wandlungsbereiten und mutigen Christen auch in kirchlicher Hinsicht als Märtyrer zu bezeichnen. Laut Google-Recherche sind nach Erzberger nur zwei, nicht sehr bedeutsame Preise der Steuerberaterkammer Nordbaden benannt. Gewiss, es gibt noch Straßenbenennungen und einen Erzberger-Saal im Bundesfinanzministerium. Bezogen auf diesen Vorkämpfer könnte die Republik aber doch einer weniger geizigen, ja kräftigen Erinnerungskultur den Weg bahnen.

Ich schlage vor, mit Blick auf die sich abzeichnenden politischen Entwicklungen im Land einen renommierten Matthias-Erzberger-Preis für Verdienste um die Demokratie ins Leben zu rufen. Auszuzeichnen wären Politikerinnen und Politiker, die jenseits parteipolitischer Profilierungen ein neues demokratisches Selbstbewusstsein fördern und dieses jeder populistischen Hetzpolitik von rechts entgegenstellen.

Wann je hätte die an sich bedenkliche Konstellation "Große Koalition" mehr Plausibilität als in diesen Tagen? Welche hoffnungsvollen Überraschungen wären denkbar, wenn die Unionsparteien sich doch wieder ausdrücklich als christliche Parteien verstehen und die SPD wieder sozialdemokratisch wird?

Man kann die Messlatte natürlich auch etwas bescheidener ansetzen: Wer beim Thema Flüchtlingspolitik ein parteipolitisches Süppchen zu kochen gedenkt und tagespolitisches Geschwätz vor Kameras zum Besten gibt, ist öffentlich bloßzustellen. Wer darauf verzichtet, zeigt das, was man erwarten darf: eine verantwortliche politische Haltung. Gleichwohl ist Lob für das an sich Selbstverständliche auch nicht von Schaden.

Angela Merkel ist Kanzlerin eines Landes mit Spitzenplatz unter den Mordwaffenexporteuren dieser Erde und war zumindest früher sehr jenem Hegemon zugeneigt, der durch seine Kriegspolitik das Flüchtlingselend dieser Tage maßgeblich mit verursacht hat. Sie kann selbstredend ohne einen durchgreifenden Wandel der militärpolitischen Agenda nicht für den Friedensnobelpreis nominiert werden. Bei aller Liebe gilt darüber hinaus auch bezogen auf die neue Grundsatzorientierung bei der Flüchtlingspolitik noch ein Vorbehalt: "An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen ..." (Matthäus 7,20).

Indessen wäre Angela Merkel schon jetzt auf jeden Fall eine würdige Kandidatin für den soeben vorgeschlagenen Matthias-Erzberger-Preis. Ich persönlich zähle (noch) nicht zu ihrer Anhängerschaft, messe ihr jedoch seit Jahren ein historisches Verdienst besonderer Art zu: Unter ihrem Parteivorsitz haben Nachfahren der Deutschnationalen und Braunen in der Christlich-Demokratischen Union keine Schnitte. Einer meiner linken Freunde kommentiert das ganz trocken mit folgendem Kompliment:

Da fehlt ihr einfach der Stallgeruch!