Der Faschismus und wir: "Alles bewältigt und nichts begriffen"

Seite 2: Der alte Feind ist der neue

Dass es in der Hinsicht stets einen lockeren Umgang mit dem NS-Gedenken gab, dass von einer Last deutscher Schuld keine Rede sein kann, war übrigens 2021 vom Bundespräsidenten selber zu erfahren, woran jetzt eine neue Streitschrift zur Kritik der deutschen Erinnerungskultur erinnert ("Ein nationaler Aufreger").

Der Autor, Johannes Schillo, der auch für Telepolis schreibt, verweist dazu auf die feierliche Rede, die Steinmeier 2021 zum 80. Gedenken an das "Unternehmen Barbarossa", den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Sowjetrussland am 22. Juli 1941, hielt.

Bei diesem offiziellen Gedenkakt, der auch zum ersten Mal in besonderer Weise an das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen erinnerte, stellte Steinmeier fest: "Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen Sowjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid – und unsere Verantwortung – es fordern." (Rede Frank-Walter Steinmeiers vom 18.6.2021)

In der Tat, das bundes-, d.h. westdeutsche Gedächtnis hat sich mit diesen Millionen Toten nie belastet, das hat jüngst ein Kommentar zur aktuellen antirussischen Feindbildpflege des Westens noch einmal hervorgehoben. Dabei kam auch der bemerkenswerte Umstand zur Sprache, dass sich gerade der oberste Organisator des bundesdeutschen Erinnerungsbetriebs, der die Verantwortung für die Ausgestaltung der Geschichtspolitik trägt, en passant zu einem solchen Defizit bekennt. Bemerkenswert zudem, dass aus der wachsamen Öffentlichkeit hier keine Nachfragen kamen und dass sich keiner für den offenkundigen Widerspruch interessierte.

Die neue Streitschrift zum "nationalen Aufreger" der Vergangenheitsbewältigung verweist darauf, wie Steinmeier 2021 die fällige Verneigung vor den sowjetischen Opfern ganz im Geist einer imperialen Selbstgerechtigkeit über die Bühne brachte. In einem Interview stellte er bereits vor der offiziellen Gedenkveranstaltung, und in Verbindung mit möglichen Sanktionen bei Nord Stream 2, klar, dass das deutsche Schuldeingeständnis in keiner Weise ein Zugeständnis an Putin einschließt. Deutschland habe damals moralisch schwer gefehlt, aber "das rechtfertigt kein Fehlverhalten der russischen Politik" (Rheinische Post, 6.2.2021).