Der Faschismus und wir: "Alles bewältigt und nichts begriffen"

Seite 3: Erinnerung als nationaler Besitzstand

Die einzelnen Methoden, das bundesdeutsche Erinnerungswesen je nach weltpolitischem Bedarf in Stellung zu bringen, werden in der Schrift der "Edition Endzeit" aufs Korn genommen. Auch wird der grundsätzliche Auftrag der Nationalbewusstseinsbildung kritisiert.

Die Erinnerungskultur, mit ihrem Zentrum, der Singularität von Auschwitz, und der unbedingten Israel-Solidarität als Folge, gilt ja als nationaler Besitzstand, den sich Deutschland nicht nehmen lassen will. Man weiß eben, was man daran hat. Das zeigte sich vor einigen Jahren, als der israelische Premierminister den Deutschen gewissermaßen das Angebot machte, sie aus ihrer Verantwortung für den Holocaust zu entlassen.

Hitler habe "zunächst nur eine Vertreibung und keinen Massenmord an den Juden geplant", sagte Netanjahu 2015 in einer viel beachteten Rede; der palästinensische Großmufti von Jerusalem habe Hitler aber zur systematischen Vernichtung der Juden gedrängt. Mit seinen Einlassungen wollte Netanjahu zeigen, "dass der Vater der palästinensischen Nation schon damals, ohne Staat und ohne sogenannte ‚Besatzung‘, mit systematischer Hetze zur Vernichtung der Juden aufrief". (Handelsblatt, 21.19.2015)

Das Dementi der Bundesregierung kam prompt, diesen Besitzstand lässt man sich nicht nehmen. "Wir wissen um die ureigene deutsche Verantwortung an diesem Menschheitsverbrechen. Ich sehe keinen Grund, dass wir unser Geschichtsbild in irgendeiner Weise ändern", sagte Regierungssprecher Seibert.

In der neuen Analyse des nationalen Aufregerthemas kommt auch die in der öffentlichen Diskussion anerkannte Notwendigkeit zur Sprache, im Hinblick auf die aktuell angesagte Feindbildpflege nachzujustieren. Die Forderung, die großartige Erinnerungskultur einer "Renovierung" zu unterziehen, gehört ja seit geraumer Zeit – von Harald Welzer bis Björn Höcke – zum Standardrepertoire der politischen Kultur.

Das geht bis dahin, dass bei Gelegenheit schon mal der Wert des Vergessens hervorgehoben wird. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (10.1.2022) ließ etwa jüngst einen Historiker daran erinnern, es sei langsam angebracht, "nach der Pflicht zum Erinnern auch an das Recht auf Vergessen zu erinnern".

Den Erinnerungsbetrieb ganz einstellen will natürlich keiner, auch die FAZ nicht. Sie hält zum Beispiel in einem Kommentar zu den "Lehren der Vergangenheit" (28.1.2022) fest: "Der Auschwitz-Imperativ ist nicht nur Leitlinie für die Gründung der Bundesrepublik gewesen, sondern auch zur Richtschnur außen- wie innenpolitischer Entscheidungen geworden", um ein paar Zeilen später die "Regierung Scholz" dafür zu kritisieren, dass sie in der Ukraine-Krise "die deutsche Vergangenheit als Grund für Zurückhaltung" anführt.

Man sieht, wie passend es ist, wenn Steinmeier in seinen Reden die damalige imperialistische Politik, die die Größe Deutschlands durch neuen "Lebensraum" herstellen wollte, auf nichts anderes als eine unbegreifliche, scheusalhafte Mördergesellschaft herunterbringt: auf das absolut Böse, das in seiner zweckfreien "mörderischen Barbarei" und mit seinen – von heute aus völlig unbegreiflichen – rassistischen Kriegszielen die "Unmenschlichkeit zum Prinzip" erhoben habe. Das heutige Deutschland dokumentiert damit eben, dass es zu den Guten gehört, und kann daher mit nationalem Selbstbewusstsein auftreten.

Wie auch schon zuvor bei Steinmeiers Auschwitz-Gedenkrede in Yad Vashem 2020 wird "das Böse" als eine Macht beschworen, die sich vor 80 Jahren in Deutschland breit machte. Mit diesem billigen Moralismus, das führt Ko-Autor Manfred Henle in der neuen Publikation aus, werden nicht nur die damaligen imperialistischen Kalkulationen, die der modernen Staatenwelt (die BRD inbegriffen) gar nicht fremd sind, zum Verschwinden gebracht; Sondern es wird automatisch die eigene Güte unter Beweis gestellt.

Wer sich so geläutert hat, kann sich dann ganz im Sinne der FAZ völlig unbelastet in alle möglichen Konfliktlagen auf dem Globus einmischen – gerade auch da, wo er in der Vergangenheit schweres Unrecht begangen hat. Steinmeier in seiner offiziellen Gedenkrede: "Wir erinnern nicht mit dem Rücken zur Zukunft, sondern wir erinnern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wieder ein solcher Krieg!" Nein, solche Kriege, bei denen man alleinsteht und auch noch verliert, hat das neue Deutschland nun wirklich nicht vor.

Henle schließt daher seinen Beitrag über das deutsche Gedenken an das "Unternehmen Barbarossa" mit einem Hinweis auf das überaus gute Gewissen, das der Westen hat, wenn er sich gegen das störende russische Regime aufstellt. Nach den neuesten Ansagen aus Nato oder EU soll die Welt ja keine Staatsmänner mehr nötig haben, die sich als "Killer" (Biden über Putin) aufführen, sondern etwa Frauen, die sich – wie die neue deutsche Außenministerin – im Völkerrecht auskennen. Baerbock im Vorwahlkampf:

"Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht." Das Fazit der neuen Streitschrift dazu: Ist das gewissenhaft geprüft, dann steht auch einer notfalls nuklearen Auseinandersetzung mit dem Aggressiven und Bösen nichts mehr im Wege!

Frank Bernhardt ist Pädagoge und schreibt für die Hamburger Lehrerzeitung (hlz) der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), LV Hamburg, sowie fürs GEW-Magazin Auswege.