Der Internationale Strafgerichtshof und der Schein der Gerechtigkeit
Erstmals werden vom ICC Kriegsverbrechen der USA aufgeführt, aber die bislang praktizierte Einseitigkeit droht ihn und damit die internationale Gerichtsbarkeit zu zerbrechen
Laut einem aktuellen Bericht des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag haben US-amerikanische Soldaten "wahrscheinlich" in mehreren Staaten Kriegsverbrechen begangen. Nach den Strafverfolgern existiert eine "vernünftige Basis", um zu glauben, dass Gefangene sowohl innerhalb Afghanistans als auch in CIA-Gefängnissen in Polen, Litauen und Rumänien zwischen 2003 und 2004 gefoltert wurden. Der Bericht hebt hervor, dass sowohl physische als auch psychische Folter zum Einsatz kam, unter anderem etwa das berühmt-berüchtigte Waterboarding sowie das Schlagen und Vergewaltigen von Gefangenen.
Des Weiteren kommt der Bericht zum Schluss, dass es sich bei den beschriebenen Fällen keineswegs um "Einzelfälle" gehandelt habe. Vielmehr wurden die Folterpraktiken gezielt en masse angewendet. Man ging systematisch vor. Die Befehle kamen von höchster Führungsebene. Das Resümee ist dennoch mehr als ernüchternd. Gegenüber der "New York Times" meinte etwa einer der führenden Strafverfolger Den Haags, dass man die Fälle weiterhin untersuchen werde. Gleichzeitig betonte er jedoch, dass man nicht davon ausgehe, dass die Vereinigten Staaten kooperieren würden.
Dies ist nicht verwunderlich. Die Vereinigten Staaten sind kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs. Der sogenannte American Service-Members Protection Act, ein im Jahr 2002 erlassenes US-Gesetz, sorgt dafür, dass Mitglieder der amerikanischen Regierung sowie des Militärs vor einer Strafverfolgung Den Haags geschützt werden (US-Bürger und Alliierte sollen auch mit Gewalt vor dem Zugriff des Internationalen Gerichtshofs geschützt werden). Als Reaktion auf den jüngsten Bericht hieß es seitens der US-Regierung, dass eine Untersuchung weder angemessen noch berechtigt sei. Man respektiere das internationale Recht.
Dass US-Streitkräfte in Afghanistan zahlreiche Kriegsverbrechen begangen haben, ist im Grunde genommen nichts Neues. Den jüngsten Bericht aus Den Haag kann man höchstens wie folgt kommentieren: besser spät als nie. Auch wenn Wörter wie "wahrscheinlich" weiterhin teils störend und befremdlich wirken. Die Kriegsverbrechen anderer Akteure wurden nämlich so gut wie nie derart vorsichtig und unsicher thematisiert.
Bereits im Jahr 2014 machte der umfassende CIA-Folterbericht, von dem Tausende von Seiten zensiert und weiterhin unter Verschluss gehalten werden, das Ausmaß von Folterfällen in Afghanistan deutlich. In Afghanistan wurde allerdings nicht "nur" gefoltert. Die zahlreichen Bombardements der NATO, bei denen unzählige Zivilisten in den letzten fünfzehn Jahren getötet wurden, fanden niemals Beachtung.
Das gilt auch nicht für jene, die von der Öffentlichkeit ganz klar als Kriegsverbrechen bewertet wurden, etwa das Bombardement von Kunduz im Jahr 2009 oder der Angriff auf das Krankenhaus von "Ärzte ohne Grenzen" im Jahr 2015. De facto ist Kunduz in den letzten Jahren zum Hauptschauplatz von US-amerikanischen Kriegsverbrechen geworden. Vor wenigen Wochen wurden abermals mindestens 36 Zivilisten Opfer eines Luftangriffs.
Zeitgleich hat die Haltung Den Haags immer wieder deutlich gemacht, dass nicht nach Recht, sondern nach Interessen gehandelt wird - vor allem nach den politischen Interessen Washingtons. Während man in den letzten Jahren nahezu ausschließlich Jagd auf afrikanische Diktatoren und Warlords machte, blieb die US-Kriegspolitik unangetastet. Weder die Interventionen im Irak sowie in Afghanistan noch der Drohnen-Krieg im Jemen, in Pakistan oder in Somalia wurden juristisch in Angriff genommen. Die Liste lässt sich beliebig erweitern.
Mittlerweile ist sich die Öffentlichkeit auch bewusst, dass in all den genannten Fällen de facto Kriegsverbrechen begangen wurden. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben diesbezüglich immer wieder klar betont, dass man von Kriegsverbrechen sprechen muss. Die Vorwürfe waren stets laut, verhallten allerdings auch schnell.
Versagen des Institutionalismus
Dies hat vor allem damit zu tun, dass der Internationale Strafgerichtshof keine unabhängige Institution ist, auch wenn er von Anfang an als solche auftreten wollte. Viel mehr ist Den Haag zu einem Instrument westlicher Machtpolitik geworden, welches in neokolonialer Manier auftritt. Die zu behandelnden Fälle wurden immer sehr bewusst gewählt. Aussortierung, Wegsehen und Ignoranz wurden zum Alltag.
Besonders schnell spürten das etwa afrikanische Staaten. Afrikanische Diktatoren und Kriegsherrn wurden zum bevorzugten Ziel Den Haags. Zwei afrikanische Staaten - Südafrika und Burundi - haben dem Strafgerichtshof mittlerweile den Rücken gekehrt und ihre Zusammenarbeit aufgekündigt. In einem Schreiben an die Vereinten Nationen hieß es von südafrikanischer Seite, dass man eine "Ungleichheit" und eine "unfaire Praxis" wahrnehme.
Vor kurzem hat auch Russland den Internationalen Strafgerichtshof verlassen. Moskau begründet seinen Schritt mit einer "vorherrschenden Ineffizienz" und "Einseitigkeit" des Gerichtshofs. Ein Grund für die Entscheidung könnte auch die jüngste Einschätzung Den Haags des Ukraine-Konflikts sein. Diese widerspricht manchen Narrativen der russischen Regierung - und stützt eher jene des Westens, obgleich beide Seiten beschuldigt werden und die Formulierungen recht vorsichtig sind.
Um zu einem angemessenen und nüchternen Schluss zu kommen, dürfen gewisse Tatsachen allerdings nicht verdrängt werden. Dass jene Kriegsherren, die in Den Haag auf der Anklagebank saßen und verurteilt wurden, schwerste Menschenrechtsverbrechen begangen haben, steht wahrscheinlich auch für die meisten kritischen Beobachter außer Frage. Genauso ist es berechtigt, die Politik der russischen Regierung in der Ukraine oder anderswo zu kritisieren oder zu verurteilen.
Es ist allerdings die Einseitigkeit, an der der Internationale Strafgerichtshof zu zerbrechen droht. Diese Einseitigkeit macht deutlich, dass es nicht um Recht, Gesetz oder internationale Standards geht, sondern um politische Interessen, die die Gerichtssäle Den Haags schon seit dem Tag seiner Gründung dominieren. Diese haben letztendlich dazu geführt, dass nicht alle politischen Akteure als gleichwertig betrachtet werden. Manche sind eben wortwörtlich gleicher.