Der Klang der Gesellschaft: Die Erosion von Gewissheiten
- Der Klang der Gesellschaft: Die Erosion von Gewissheiten
- Kunstwerke als Mittel gesellschaftlicher Analyse
- Auf einer Seite lesen
Wie tickt der Zeitgeist? Die Macht des Publikums und die Relevanz von Kommentaren. Über Hackordnungen bar jeden Zweifels. Eine soziologische Analyse des Films Tár.
Der kürzlich in deutschen Kinos angelaufene Film "Tár" von Todd Field hat auf diversen Filmfestivals reüssiert und ist für eine Vielzahl von Preisen nominiert. Grund genug, sich mit dem Kunstwerk soziologisch auseinanderzusetzen, sind dies doch Indizien, die auf gesellschaftliche Relevanz verweisen.
Lydia Tár ist [in dem Film] die erste weibliche Chefdirigentin der Berliner Philharmoniker und hat ein Live-Album von Mahlers Fünfter Symphonie sowie ein Buch namens "Tár on Tár" in Aussicht gestellt. Sie trifft sich mit Eliot Kaplan, einem Investor und Amateur-Dirigenten, um eine Position in Berlin und eine Nachfolgerin für ihren Assistenten Sebastian zu besprechen.
Bei einem Auftritt an der Juilliard School verteidigt sie die Werke von männlichen, weißen und cisgender Komponisten und fordert die Studenten auf, sich auf die Musik und nicht auf den Musiker zu konzentrieren. Während einer Blind Audition für eine Stelle im Orchester entdeckt Lydia Olga Metkina in der Toilette und gibt ihr den Job. Die Beziehungen zu ihrer persönlichen Assistentin Francesca und ihrer Frau Sharon werden angespannt, da sie sich zu Olga hingezogen fühlt.
Nachdem eine ehemalige Stipendiatin der von Lydia gegründeten Akkordeon-Stiftung Selbstmord begeht, lässt Lydia alle Korrespondenz löschen und engagiert einen Anwalt, da Kristas Eltern Klage einreichen wollen. Lydia wird beschuldigt, ihre Position auszunutzen und sich unangemessen gegenüber weiblichen Kolleginnen zu verhalten.
Aufgrund der Kontroverse wird sie als Dirigentin der Berliner Philharmoniker entlassen und verliert das Sorgerecht für ihre Tochter. Sie zieht sich zurück und bekommt einen Job als Dirigentin in den Philippinen.
Wir belassen es bei dieser kurzen – mittels des Chatbots ChatGPT erzeugten1 – Zusammenfassung des Films. Uns geht es um sein Potenzial, aktuellen Zeitgeist zu erfassen, darum, musikalisch ausgedrückt, seine Leitmotive offenzulegen.
Andere maßgebliche Aspekte des Films, nicht zuletzt die hervorragende Schauspielleistung der Protagonistin Cate Blanchett oder seine interessanten Einblicke in das Milieu künstlerischer Hochkultur, bleiben unterbelichtet.
Tár (24 Bilder)
Kontingenz gesellschaftlicher Positionen
Der Film beginnt mit einer Irritation – nämlich seinem Ende: Gezeigt wird gleich zu Beginn sein Abspann. In langatmiger Abfolge wird die Vielzahl von Namen eingeblendet, die üblicherweise bei großen Produktionen beteiligt sind. Es lässt sich im Sinne aktuellen Zeitgeists beobachten: Endlich bekommen diese Personen Anerkennung und Aufmerksamkeit; schließlich verfolgen die wenigsten den Abspann im Kinosaal.
Zwar wäre festzustellen, dass in der Flut projizierter Namen faktisch nur wenige zu lesen sind – dennoch: der gute (moralische) Wille des Regisseurs oder die Absicht des Films ist erkennbar. Die Letzten werden die Ersten sein; got the idea.
In der weiteren Betrachtung des Films wird sich herausstellen, dass der Regisseur bereits mit diesem Beginn, der einem charakteristischen Auftakt in einer Sinfonie gleicht, sein Thema präsentiert. Die Umkehrung von konventionellen, bislang üblichen (gesellschaftlichen) Verhältnissen ist das Leitmotiv des Films. Dieses wird gleich musikalischen Variationen wieder und wieder aufgenommen. Wobei der Film tunlichst vermeidet, diese Umkehrung vorweg (positiv) moralisch zu konnotieren, wie sein Auftakt nahelegen könnte.
Vielmehr wird die gesellschaftliche Erosion von Gewissheiten oder Positionen mehr oder minder neutral beleuchtet und damit gewissermaßen selbst im Kontrast zum Zeitgeist, der eine stetige moralische Stellungnahme bzw. Positionierung einfordert.
Die Umkehrung des Status‘ der Protagonistin Lydia Tár, als zunächst von der künstlerischen Hochkultur gefeierten, mit einer Vielzahl von renommierten Preisen ausgezeichneten Stardirigentin, zu einer "unsichtbaren" Dirigentin eines asiatischen Provinzorchesters bildet die Rahmenhandlung. Wobei der Name der Protagonistin Programm ist: "Tár" wird in umgekehrter Lesart zu "Rat" (Ratte), wie in einer Szene explizit gemacht wird.
Die Unsichtbarkeit der einst umschwärmten Dirigentin ist wörtlich zu nehmen. In der Schlussszene verschwindet die Dirigentin samt Orchester hinter einer Blende, während die Zuschauer in ihren martialischen Cosplayer Kostümen zu Protagonisten des Geschehens werden.
Wie in einer klassischen Sinfonie wird also der Auftakt des Stücks nochmals am Ende in Variation aufgegriffen: Die Zuschauer bzw. Komparsen werden zu Protagonisten, Unwichtiges zu Wichtigem, Gewissheiten werden ungewiss, Personen in ihrer Anonymität geraten ins Rampenlicht.
Die martialischen Kostüme in dieser Szene sind auch insofern instruktiv, als sie die Macht sozialer Medien symbolisieren, die es Zuschauern als in Shitstorms agierenden Mobs ermöglichen, bislang übliche Ordnungen und Positionen infrage zu stellen oder gar umzukehren.
Das Motiv der Umkehrung von Beobachter und Beobachtetem, von (irrelevanten) Zuschauern und (im Rampenlicht stehenden) Protagonisten wird in mehreren zentralen Szenen des Films vorgeführt. So wird Lydia Tár zunächst als glänzend rhetorisch versierte Protagonistin in der Auseinandersetzung mit einem Schüler an der Juilliard School gezeigt.
BiPoC und die Musik von weißen cis-Männer
Es geht dabei nicht zuletzt um die Frage, ob dem Schüler als BIPoC Person zuzumuten ist, sich mit Musik von weißen cis Männer wie J.S. Bach auseinanderzusetzen. Kontrastierend wird Tár später durch einen in den sozialen Medien kursierenden tendenziösen Videoclip des Vorfalls zur "nicht-woken" Zuschauerin ihrer selbst gebrandmarkt. Damit werden Zuschauer, als Teilnehmende des Shitstorms, zu Protagonisten des Geschehens.
Eine interessante Variation des Leitmotivs der Umkehrung bislang üblicher Verhältnisse findet sich gegen Ende des Films. Gezeigt wird ein sogenanntes "Aquarium", eine offenkundig in den Philippinen verbreitete Disposition der Prostitution, bei der Freier eine Auswahl aus einer Vielzahl von nummerierten Prostituierten treffen, die hinter einer Glasscheibe wie Zuschauer angeordnet sind.
Umkehrung
Auch hier findet sich das Thema der Umkehrung; üblicherweise steht nämlich eine (virtuelle) Vielzahl von Freiern einer Prostituierten gegenüber.
War zu Beginn des Films, bei dem der Abspann den Beginn markierte, die Umkehrung konventioneller Verhältnisse noch moralisch positiv konnotiert (als "Sichtbarmachung" der Vielzahl der Beteiligten einer Kinoproduktion), hat sich dieses Verhältnis der Umkehrung nun selbst umgekehrt. Das "Aquarium" wird als moralisch abstoßende und, wie die Protagonistin anschaulich vorführt, gewissermaßen zum Kotzen anregende Abscheulichkeit dargestellt.
Eine Mittlerrolle in ihrer moralischen Ambivalenz kommt der Szene zu, in der Lydia Tár gegen das Mobbing vorgeht, von der ihre Adoptivtochter Petra in der Schule betroffen ist. Hier sieht sich, wieder in Umkehrung der Verhältnisse, ein junges, unschuldig aussehenden Mädchen als Täterin plötzlich der bedrohlichen rhetorischen Gewalt einer "vernünftigen" Erwachsenen ausgesetzt.
Diese Szene bleibt moralisch ambivalent, da die Handlungsweise Társ einerseits verständlich ist, wissen wir doch um die allfällige Grausamkeit kindlichen Handelns. Andererseits ist moralisch zu verachten oder zumindest fragwürdig, die überlegene rhetorische, allenfalls traumatisierend wirkende Macht einer Erwachsenen gegen ein Kind einzusetzen.
Mit der Erörterung dieser Auswahl von Szenen sei mitnichten behauptet, dass alle wichtigen Aspekte des Films ausgeleuchtet wären. Eine interessanter "Anklang" des Films ist beispielsweise in seinen Bezügen zu Viscontis "Tod in Venedig" zu sehen, nicht nur was die Musik Gustav Mahlers betrifft.
Der Irrweg in Verzweiflung auf der Suche nach Tadzio in Venedig des Protagonisten Gustav Aschenbach bei Visconti entspricht bei Todd Field der verzweifelten und erfolglosen Suche von Lydia Tár nach Olga Metkina in einem Berliner Abbruchhaus. Keineswegs ist hier also "Visconti zu vergessen", wie demnach ironischerweise in einer Szene des Films gefordert.