Der Klang der Gesellschaft: Die Erosion von Gewissheiten
Seite 2: Kunstwerke als Mittel gesellschaftlicher Analyse
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Uns geht es darum, zu zeigen, dass der Film mit künstlerischen Mitteln gesellschaftliche Entwicklungen aufgreift, die nicht zuletzt in der Idee seines Leitmotivs über die bloße Handlung des Films hinausweisen.
Die Umkehrung der gesellschaftlichen Positionierung von Akteuren und Zuschauern, von Beobachtetem und Beobachtern kann auch als ein aktuelles gesellschaftliches Leitmotiv verstanden werden. Es werden gesellschaftliche Entwicklungen thematisiert, die durch das Aufkommen von digitalen Formen von Kommunikation in der Gesellschaft bedingt und ermöglicht werden.
Abstrakt gesehen erleichtert Digitalität die kybernetische Zirkularität von Kommunikation ("Kommunikation kommuniziert"), wodurch bislang stabile, Ordnung gebende gesellschaftliche Positionierungen fluide werden. Etwa, wie im Film thematisiert, individuelle Berühmtheit versus Unsichtbarkeit des Massenpublikums.
Digitale Kommunikation erleichtert gesellschaftliche Positionen infrage zu stellen bzw. allenfalls gar umzukehren. Etwa die zwischen Autor und Leser. So mag der geneigte Leser von Artikeln des Telepolis Onlinemagazins bereits die Erfahrung gemacht haben, dass nicht ein Artikel eines Autors von Interesse ist, sondern die Kommentare zu demselben.
Leser werden so zu Autoren, die im Mittelpunkt des Interesses stehen, während der Artikel eines Autors in die Position eines lediglich Anstoß stiftenden "Publikums" gerät.
Deutlich wird der durch Digitalität erleichterte kybernetische Zirkel der Kommunikation auch anhand der Funktionsweise des Chatbots ChatGPT. Digital vorliegende Texte in ihrer Massenhaftigkeit sind als Input sowohl als Produkte zu verstehen, welche ein künstliches neuronales Netzwerk "trainieren", wie sie im Funktionieren eben jenes neuronalen Netzwerks auch als Output der Produktion von Texten dienen.
Geradezu symbolisch deutlich wird die Auflösung vormals üblicher, Ordnung gebender Positionen bzw. Instanzen auch durch die Innovation des Smartphones. In konventionellen Telefonen war die kontrollierende bzw. steuernde Instanz der Tastatur, gewissermaßen die Ebene des Akteurs, klar, nämlich hardwaremäßig, vom Display als zu steuernder, gewissermaßen die Ebene des Zuschauers repräsentierenden Instanz getrennt.
Gesellschaftliche Positionierungen
Mit der Entwicklung von Smartphones wurden diese Instanzen in der Form eines kybernetischen Zirkels aufgelöst. Das berührungsempfindliche Display dient nunmehr sowohl der Steuerung und Kontrolle wie es auch als Instanz fungiert, die zu kontrollieren und zu steuern ist. Die Selbstreferenzunterbrechung dieses Zirkels erfolgt nicht mehr durch hardwaremäßige Trennung, sondern auf gleicher Ebene (des Displays) in Abhängigkeit von Zeit und Kontext.2
In ähnlicher Weise, und durch digitale Formen der Kommunikation erleichtert, ist dies auch für gesellschaftliche Positionierungen der Fall. Eine – damit stets fragile – Positionierung erfolgt gegenwärtig ebenso zeit- und allenfalls sachbezogen (etwa durch hervorragende Leistungen), aber kaum mehr durch stabile soziale Verankerung bzw. Halt gebenden sozialen Hintergrund.
Im Film werden diese modernen Verhältnisse dadurch veranschaulicht, dass weder Lydia Társ noch Olga Metkinas Karriere durch Sozialisation in einem klassischen bildungsbürgerlichen Milieu bedingt sind. Im Gegenteil, der Film kontrastiert ihre brillanten Leistungen im Feld der Musik mit ihrer proletarischen Herkunft.
Nicht auszuschließen ist, dass es mithin die durch digitale Formen der Kommunikation virulent werdende Fragilität gesellschaftlicher Positionen ist, die die moralische Rigidität bzw. Vehemenz erklärt, mit der heutzutage Rollen, Meinungen und Haltungen als Hackordnungen bar jeden Zweifels verteidigt werden.
Dies jedenfalls als ein gesellschaftlicher "Megatrend", wie er während der Corona Pandemie und aktuell mit Blick auf den Ukraine Krieg zu beobachten ist. Moral dient mittlerweile als grobschlächtiger Anker für offenkundig durch die Digitalisierung fluid oder instabil gewordene gesellschaftliche Positionierungen.
Es ist nicht davon auszugehen, dass der Regisseur mit dem Film unmittelbar die Interpretation in unserem Sinne beabsichtigte. Wahrhaft innovative Kunstwerke vermögen jedoch ihre oberflächliche Erscheinung zu transzendieren; sie können latent Entwicklungen und Zeitströmungen deutlich machen, die sich einer unmittelbaren Beobachtung entziehen. Todd Fields "Lydia Tár" gehört sicher zu dieser Kategorie von Kunstwerken.