"Der Künstler ist der Volksfeind Nummer eins"
Der Künstler und Ausstellungsmacher Rob Moonen über die Niederlande, wo die Regierung dem Konzept des "intelligenten Lockdown" und der "1,5-Meter-Wirtschaft" folgt
In der heutigen Folge meiner Serie über Folgen von Corona für den Alltag stelle ich eine Stimme aus den Niederlanden vor. "Holland" ist für mich als Niedersachse immer beides zugleich gewesen: genau "nebenan" - und doch völlig verschieden von der biederen BRD. Egal ob es um das Thema Verwaltung, Bürgerrechte, Abtreibung oder Drogen ging: immer war im westlichen "Drüben" alles ganz anders, viel freizügiger als bei uns.
Seit Anfang der 1990er Jahre bin ich mit dem Künstler und Ausstellungsmacher Rob Moonen befreundet. Wir haben gemeinsam den ersten Winter der Wiedervereinigung, das östliche "Drüben" erlebt. Trotz Schnee und Eis bereisten wir täglich von Kreuzberg aus das Berliner Umland, um in den sich auflösenden LPGs mit den Arbeitern und Bauern zu sprechen - und sie hinterher zu bitten, unseren "Bulli" mit anzuschieben. Damals erlebten wir beide hautnah unseren ersten Systemkollaps. Mit dem typischen Treppenhausgeruch der DDR-Zeit in der Nase, fühlte sich alles, was wir taten, verboten an. Ein wenig, wie heute.
Rob Moonen schreibt:
Es war der 27. Februar 2020. Ockergelber Nebel steigt aus dem Saharasand auf, den ein steifer Wind über die Bucht von Playa Blanca bläst. Die Sonne ist auf einen Nadelstich reduziert. Wir haben auf unserem Smartphone gelesen, dass ein Hotel mit 1000 Gästen auf Teneriffa wegen einer Covid-19-Infektion unter Quarantäne gestellt werden musste. Dann lesen wir, dass das erste niederländische Opfer in unserer Heimatstadt Tilburg ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Mann war in der Lombardei im Urlaub gewesen und hatte in den letzten Tagen den Karneval in Tilburg mitgefeiert.
Nachdem sich der Sahara-Nebel geklärt hatte, gab es auf Lanzarote keine Hinweise auf Covid-Angst. Wir haben Nachrichten von Freunden erhalten, in denen wir gefragt wurden, ob wir von den Kanarischen Inseln zurückkehren könnten, vorausgesetzt, wir wären auf Teneriffa. Aber keine Sorge, unser Flug am 28. Februar nach Düsseldorf ging ohne Beschränkung durch. Keine Masken, kein Abstand von 1,5 m, kein Desinfektionsgel.
Wieder zu Hause, stellen wir fest, dass Tilburg wegen des Karnevals zum "Epizentrum des niederländischen Covid-19-Ausbruchs" geworden ist. In der Stadt selbst merkt man kaum etwas. Das öffentliche Leben geht weiter. Alle Geschäfte sind geöffnet und die ersten Berichte über Klopapier tauchen auf.
Unser Ministerpräsident Mark Rutte kündigte am 9. März an, dass wir mit der "sozialen Distanzierung" beginnen sollten, indem wir uns beim Begrüßen nicht mehr die Hand geben. Im unmittelbaren Anschluss drückt er dem Direktor des RIVM ( Nationales Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt ) Jaap van Dissel im nationalen Fernsehen die Hand. Die Bewohner von Nordbrabant - der Provinz, in der wir leben - werden gebeten, zu Hause zu bleiben und von dort aus zu arbeiten.
Drei Tage später, am 12. März, kündigt Rutte an, dass alle öffentlichen Veranstaltungen abgesagt werden. Große Schlangen bilden sich bei den Coffee-shops, die alle um 18 Uhr schließen. Innerhalb von anderthalb Stunden nach dieser Erklärung wird der Koninklijke Horeca (der Verband der Hotel- und Restaurantbesitzer) der niederländischen Regierung einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 5,2 Milliarden Euro vorlegen.
Die ersten Berichte über Schließungen und Absagen des Programms stammen aus der Kunst- und Kulturwelt. Wirtschaftsminister Wiebes erklärt, dass Unternehmen und Unternehmer auf staatliche Unterstützung zählen können. Selbstständige haben sich für die Freiheit entschieden und müssen selbst sehen, wie sie über die Runden kommen.
Er holt sich damit Zorn auf den Hals. Einige Tage später kündigt der Staatssekretär für Wirtschaft an, dass auch Selbstständige auf Unterstützung rechnen können. Künstler scheinen außerhalb des Programms zu liegen, da sie alle unter der Kategorie "andere kreative Kunst" in der Handelskammer fallen und nicht an Museen oder Galerien gebunden sind, deren verordnete Schließung nachvollziehbar wirtschaftlichen Schaden erzeugt.
Am 14. März eröffnete PARK - eine von mir geleitete Kunstinitiative - die Ausstellung "Blokbuster", eine Ausstellung von Tom Claassen und Roland Sohier. Die letzten Wochen waren harte Arbeit, um dieses Projekt zu realisieren. Die Eröffnungen im PARK sind normalerweise gut besucht. Wir erwarten rund 200 Personen, aber zum Schutz der Gemeinde haben wir die Eröffnung abgesagt. Die Ausstellung war nur an zwei Wochenenden zu besichtigen. Wir haben jetzt seit 4 Wochen geschlossen. Das aktuelle Programm ist zum Stillstand gekommen und alle Ausstellungen werden verschoben, bis Publikum wieder kommen darf.
In der Zwischenzeit findet im Regierungsgebäude der Provinz eine stille Revolution statt, die einer Landesregierung unter Beteiligung der extremen Rechten die Tür öffnet.
Schon in der Zeit vor Corona waren die Landwirte in Nordbrabant heftige Gegner der neuen Klimapolitik zur Reduzierung der Stickstoffemissionen. Die niederländische Landwirtschaft ist laut RIVM- Berichterstattung ("Die Sorge für morgen beginnt heute") für 60% der Stickstoffemissionen des Landes verantwortlich. Die Bauern bestreiten dies, blockieren die Autobahnen mit ihren Traktoren, schließen den Flughafen Eindhoven und rammen die Tür des Provinzhauses ein.
Der Führer der Bauernbewegung "Farmers Defense Front" hält es für angebracht, sich als Holocaust-Opfer darzustellen, und sagt voraus, dass die Regierung bald das bekannte deutsche Alibi "Wir haben es nicht gewusst" verwenden wird.
Die regierende CDA-Partei hat sich als schwach erwiesen und tritt unter dem Druck der militanten Bauern aus der Koalition aus.
Das CDA sucht nun nach neuen Regierungspartnern und erwartet, diese im rechtsextremen "Forum für Demokratie" zu finden. Dies ist die einzige Partei in den Niederlanden, die den Klimawandel bestreitet.
Ihr Anführer hat viele Ansichten, die auf Gefühlen beruhen, nicht auf Tatsachen. Er sieht sich als großer Intellektueller, Historiker und Schriftsteller und sagt, dass er die Bauern in ihrem Kampf gegen die Hinterzimmerpolitik und "das Parteienkartell" unterstützen wird. Er befürwortet ein "überwiegend weißes Niederlande", ist ein heftiger Gegner der EU, die übrigens die Mehrheit der nordbrabantischen Landwirte subventioniert.
Er will die Grenzen für alle Ausländer schließen. "Die EU ist eine Verschwörung, die eine homöopathische Verdünnung der niederländischen Identität bewirkt." Wenn es um Musik geht, bevorzugt er Richard Wagner. Danach kommt nichts mehr. Er ist gegen moderne Kunst und zeitgenössische Architektur: "Wir müssen das Kunstkartell brechen und den Terror der Kulturmarxisten stoppen. Der Künstler ist der Volksfeind Nummer eins." Am 15. März erklärt er: "Wir wissen, dass wenn das Wetter besser wird, unser Meereswind das Corona-Virus wegbläst, es tötet".
Die Angst des Kultursektors vor den Auswirkungen einer neuen Provinzregierung, an der die extreme Rechte beteiligt ist, verblasst jedoch angesichts der Folgen des Corona-Virus. Seit der ehemalige VVD-Staatssekretär und spätere Außenminister Halbe Zijlstra im Jahr 2010 mit der stumpfen Axt den Kunstsektor "aufgeräumt" und Kürzungen von 200 Millionen pro Jahr eingeführt hat, müssen sich Künstler nach neoliberalen Ansichten brav als "Kulturunternehmer" profilieren.
Aktuelle, groß angelegte Rettungsaktionen für Unternehmen schließen jedoch die Unterstützung von Kulturunternehmern aus. Die VVD/CDA-Regierung hat nicht nur die Kultur saniert, sondern auch den Pflegesektor, das Schulsystem, die Kinderbetreuung. Alles wurde mit Stichtag 2010 an die Marktkräfte übergeben. Diese Sektoren klagen seit Jahren über Kapazitätsengpässe. Die Leistungen werden verkürzt, das Rentenalter erhöht. Krankenhäuser gehen bankrott. Die Empfehlung lautet: Ältere Menschen sollen sich an ihre Kinder halten. Die Krankenkassenprämien steigen, während der Versicherungsschutz abnimmt. Das Sicherheitsnetz des Wohlfahrtsstaates wird abgebaut.
Unser König führt in seiner jährlichen Rede den Begriff "Partizipationsgesellschaft" ein. Mit seiner königlichen Subvention vom Staat kennt er keine Geldsorgen. Die anderen Niederländer sollen sich bitte gegenseitig ansprechen, statt den Staat um Hilfe zu fragen.
Meine Kinder haben vor vier Wochen ihre Wohnungen in Amsterdam verlassen und sind bei uns eingezogen. Sie arbeiten online. Sowohl die Küche, als auch verschiedene andere Zimmer sind als Videokonferenzräume eingerichtet und nacheinander hallen laut Anrufe durch das Haus. Meine Frau ist Lehrerin und muss zuhause nun lernen, sich mit ihren Kollegen in "Teams" zu treffen. Normalerweise bin ich der einzige im Haus, der an seinem PC arbeitet. Aber mein Platz wurde von den Kindern übernommen.
Mein Studio bietet eine Lösung. Ich kann in zwei Minuten mit dem Fahrrad dort sein. Endlich kann ich das angesammelte Chaos und die überfällige Wartung der letzten 30 Jahre angehen. Zuerst erschien es eine Sisyphus-Arbeit. Wenn die Corona-Maßnahmen allerdings bis zum Sommer anhalten, dann ist mein Studio wieder sauber und geordnet.
Jetzt, da überall Kerzen brennen und man laut applaudiert für das hart arbeitende und Überstunden schiebende Gesundheitspersonal, ist klar, dass der Neoliberalismus kein Segen, sondern ein Fluch für die Solidarität in der Gesellschaft geworden ist. Die Kapazität der Krankenhäuser in Corona-Zeit ist zu niedrig, holländische Intensiv-Patienten werden in deutsche Krankenhäuser verlegt, weil die Kapazität pro Einwohner dort erheblich höher ist.
Unser Premierminister nutzt die Situation zu seinem politischen Vorteil: Er führt das Konzept der "intelligenten Lockdown" und der "1,5-Meter-Wirtschaft" ein.
Virologen werden die neuen TV-Stars. Jede Talkshow ist mit ihnen gefüllt. Die Niederländer gehen massenhaft einkaufen bei Baumärkten und Gartencentern. Online-business is booming. Dachböden werden aufgeräumt, Facebook wird mit Kettenbriefen, alten Fotos, Nominierungen und Spielen überflutet. Verzweifelte Künstler lassen ihre Stimme hören. Aber sie weinen in der Wüste.
Der gesamte Kunst- und Kultursektor geht quasi-kreativ online. Performances und Konzerte ohne Publikum werden über Social Media veröffentlicht. Museumsdirektoren senden Podcasts aus. Alle profilieren sich jetzt, damit sie später nicht wegsaniert werden. Freie Kunst für alle. Das wollen die Niederländer, sparsam und geizig zugleich.
Wir haben Ozeane bezwungen, andere Länder geknechtet und fast mit allen ganz zweckmäßig Handel getrieben, wodurch unser kulturelles Bewusstsein geprägt wurde und sich in kitschigen Sammlung von Trophäen manifestiert, die in früheren Jahrhunderten in anderen Kulturen erbeutet worden.
Es sieht so aus, dass Kultusminister Van Engelshoven leider keinen Euro zusätzlich für Kunst und Kultur freimachen kann. Wieder werden wahrscheinlich viele kleine Institutionen geopfert werden, um die großen Häuser überleben zu lassen. Corona-Knappheit wird in der Kultur zum neuen Standard.
In schrillem Kontrast dazu sagte die niederländische Regierung gerade KLM/Airfrance bedingungslose Unterstützung zu: € 6,5 Milliarden an staatlichen Beihilfen, um durch die Krise zu kommen.
Ab jetzt halten wir 1,5 Meter Abstand und begrüßen uns mit einem japanischen Nicken. Körperlicher Kontakt wird nur noch unter registrierten Partnern toleriert. Bald sollen wir alle Corona-Apps bekommen, mit denen wir Bonuspunkte verdienen können, indem wir unsere Bekannten spielerisch mit #Corona taggen können.
Der FVD-(Forum für Democratie)-Vorsitzende Thierry Baudet wird, geholfen durch unser Meereswind, der neue Ministerpräsident. Die Niederlande verlassen mit einem "Nexit" die EU - und obwohl keiner sich mehr einen Flug leisten kann, brauchen wir uns nicht mehr zu schämen für unsere "Flugschande". Denn laut Baudet sind CO2 und Stickstoff gerade gut für die Umwelt.
Letztendlich spiegelt ein alter belgischer Witz die aktuelle niederländischen Kultur am besten wider: "Wer hat den Kupferdraht erfunden? Die zwei letzten niederländischen Künstler, die um einen Cent kämpfen!"