Der Mann, der Jack Carter erfand: Ted Lewis, Meister des Brit Noir

Get Carter

Ein Aufsatz in drei Teilen und mit einer Coda für Frau Monssen-Engberding - Teil 1

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Die klassische Kriminalgeschichte zelebriert die Stabilität von Recht und Gesetz. Am Anfang wird jemand umgebracht, der Detektiv oder der Inspektor ermittelt, am Ende wird der Schuldige identifiziert und seiner Strafe überantwortet. Daneben gibt es die dunklere Variante, die wir im Kino aus dem Film noir kennen und in der Literatur aus den Büchern von Dashiell Hammett, Raymond Chandler, Ross Macdonald, Jim Thompson und David Goodis. Es geht da nicht mehr so sehr um Recht und Gesetz, als vielmehr - als Ausdruck des Unbehagens an der Gesellschaft und ihrer Institutionen - um den Versuch, wenigstens vorübergehend so etwas wie Gerechtigkeit herzustellen. Das ist eine nicht undramatische Akzentverschiebung, mit der man sich besonders im Vereinigten Königreich, der Heimat des gepflegten Landhauskrimis, sehr schwer tat. Britische Vertreter des Noir-Romans, zumal solche mit literarischem Niveau, waren lange Zeit sehr selten bis nicht vorhanden. Derek Raymond brachte es mit seinen existentialistisch angehauchten "Factory Novels" zu einiger Berühmtheit, und nach ihm David Peace mit seinem "Red-Riding Quartet" genauso. Der Mann jedoch, den Peace und viele andere Autoren seiner Generation als eines ihrer wichtigsten Vorbilder nennen ist weitgehend unbekannt geblieben oder in Vergessenheit geraten. Eine Erinnerung.

Wer hätte das nicht schon mal erlebt. Man begegnet jemandem, der einem irgendwie bekannt vorkommt. Dann stellt sich heraus, dass es ein alter Schulfreund ist, den man seit 15 Jahren nicht mehr gesehen hat. Mit etwas Glück fand man den Menschen damals sympathisch und muss sich jetzt nicht fragen, wie das sein konnte. Mit weniger Glück konnte man den alten Freund noch nie leiden und will nur schnell weg, ohne dass es allzu peinlich wird. Vielleicht kommen unbestimmte Schuldgefühle in einem hoch, weil man früher, als Kind, ein paar Dinge gemacht hat, die einem später leid getan hätten, wenn man sie nicht verdrängt oder schlicht vergessen hätte - bis dieser alte Schulfreund auftauchen musste. So ähnlich ergeht es dem Photographen Peter Knott. Schwierig wird die Sache dadurch, dass Brian Plender, der alte Schulfreund, Knott in einen Autounfall verwickelt hat und im Kofferraum von Knotts Luxuslimousine eine Frauenleiche liegt.

Der von Plender absichtlich herbeigeführte Zusammenstoß eines brandneuen Mercedes und eines nicht mehr so neuen Opel Cortina spielt sich im Nordosten Englands ab. Das ist der Schauplatz von sechs der neun Romane, die Ted Lewis zwischen 1965 und 1980 veröffentlichte. Als Referenzpunkt ist immer London mitzudenken, wo Lewis’ bekannteste Figur - in Jack Carter’s Law (1974) - in einen Krieg der Unterwelt verstrickt wird. Die beiden anderen Romane sind nur deshalb nicht in Nordengland angesiedelt, weil Lewis die Handlung in Gegenden außerhalb des Vereinigten Königreichs verlegt hat: nach Mallorca in Jack Carter and the Mafia Pigeon (1977) und in das fiktive Amerika von Hank Janson und James Hadley Chase in Boldt (1976). Carter hat in London als Villain Karriere gemacht, als er für ein fatales Wochenende in seine Heimatstadt fährt (Jack’s Return Home, 1970). In GBH (1980) versteckt sich der Boss einer Londoner Gangsterbande in einem Haus am Strand im Norden Englands, wo er seinen inneren Dämonen begegnet, und auch Peter Knott hat eine Weile lang in London gelebt, ehe er nach Nordengland zurückkehrt, um da mit einer Vergangenheit konfrontiert zu werden, die seine Zukunft zerstören wird. Der reiche Süden und der arme Norden, soviel lässt sich schon aus der Konstruktion von Lewis’ Romanen ableiten, vertragen sich nicht gut miteinander.

Den Sturm zeichnen

Ted Lewis’ Kriminalromane sind, wie alle guten Krimis, Gesellschaftsromane. Die strukturelle Gewalt, die sich in einem auf sozialer Ungleichheit basierenden System äußert und von den Benachteiligten als solche erfahren wird, auch wenn kein Blut fließt, wird in eine explizite Form der Gewalt übersetzt, in Prügeleien, Einschüchterung und Mord. Lewis’ Gangsterbanden sind Wirtschaftsunternehmen mit Spezialisierung auf Geschäftsbereiche wie Glücksspiel, Prostitution und Pornographie, wo der Konkurrenzkampf besonders brutal (oder auch nur: brachialer als bei anderen, im Wettbewerb stehenden Unternehmen) ausgetragen wird. Die gesellschaftlichen Gegensätze in Lewis’ England, dem Mutterland des Manchester-Kapitalismus, finden ihre Entsprechung in der Geographie, im Großen wie im Kleinen. Der industriell geprägte Norden ist dem Süden gegenüber benachteiligt. Unten, im Schatten der Stahlwerke, liegen die Wohnquartiere der Arbeiter; oben, in der Heide, stehen die Häuser der Reichen. Wer den Aufstieg geschafft hat blickt hinüber auf die andere Seite des Flusses, wo er nicht wieder hin will, ohne sich doch ganz losmachen zu können. Regelmäßig führt der Weg zur Fähre, weil sich die Frage stellt, wer da wie vom einen Ufer zum anderen fährt.

Die letzte konkrete Ortsangabe, die wir auf Jack Carters Reise in den Norden erhalten, ist das seit der industriellen Revolution mit London durch eine Eisenbahnlinie verbundene Doncaster. Jack muss da umsteigen, um in seine Heimatstadt zu gelangen. Es ist leicht zu erraten, wohin er fährt: nach Scunthorpe im Nordosten (in der Grafschaft Lincolnshire), einem Zentrum der Stahlproduktion. Die Hinweise sind zahlreich. Eine der Figuren in Jack’s Return Home heißt Thorpe, Carter mischt sich auf der Flucht vor der Polizei unter die Fans des örtlichen Fußballvereins (Scunthorpe) United und so weiter. Lewis’ bevorzugter Schauplatz ist Humberside, die Gegend um das Mündungsgebiet des Flusses Humber, wo er sich gut auskannte. Mit den Eckpunkten Barton-upon-Humber sowie den weiter südlich gelegenen Orten Scunthorpe und dem im Roman erwähnten Grimsby lässt sich ein gedachtes Dreieck bilden, innerhalb dessen viele von Lewis’ Protagonisten unterwegs sind. Seine Bücher sind stark autobiographisch gefärbt.

Edward "Ted" Lewis war ein Einzelkind. Geboren wurde er am 15. Januar 1940 in Manchester. Sein Vater, ein Veteran des Zweiten Weltkriegs, wurde erst zur spürbaren Präsenz im Leben des Sohnes, als dieser sechs war. Wer die entwicklungspsychologische, sich auf die prägende Wirkung der frühen Kindheit konzentrierende Betrachtungsweise mag, wird hier schnell fündig werden. Das Selbstzerstörerische im Wesen des Ted Lewis könnte damit zu tun haben, dass der Vater bis 1946 abwesend und danach nicht so war, wie der Sohn ihn sich erträumt hatte. Die Beziehung war problematisch. Einige, die Ted gut kannten, sprechen von einem Vaterkomplex. Mit vierzehn Jahren fing er mit dem Trinken an, danach hörte er nicht mehr damit auf. Jo White, Teds Ex-Frau, gab nach seinem Tod ein Interview, in dem sie sich den Alkoholismus, der auch ihre Ehe zerstört hatte, als Ausdruck der Rebellion gegen den Vater erklärte, dessen Anerkennung der Sohn scheinbar dringend benötigt hätte, ohne sie je zu bekommen. Fest steht, dass in seinen Büchern immer und überall getrunken wird.

1947 zog die Familie nach Barton-upon-Humber, wo Teds Mutter einen Süßwarenladen betrieb. Sein Vater war in der Geschäftsleitung eines Steinbruchs in Melton Ross tätig, auf halber Strecke zwischen Scunthorpe und Grimsby - so wie der Vater von Victor Graves, dem Helden von The Rabbit (1975). Victor besucht eine Kunsthochschule, in den Sommerferien arbeitet er im Steinbruch. Man kann in ihm ein Selbstportrait des Autors als wütender, vom Elternhaus unverstandener junger Mann erkennen. Teds Eltern waren offenbar sehr streng und an kleinbürgerlichen Wertvorstellungen orientiert. Ihr Verständnis für die künstlerischen Ambitionen des Sohnes war begrenzt. Vielleicht wäre Ted Buchhalter im Steinbruch geworden oder etwas in der Art, und er hätte sich dann womöglich noch früher tot gesoffen, wenn da nicht Henry Treece gewesen wäre, sein Englischlehrer an der Barton Grammar School. Treece schrieb Gedichte und historische Romane über Wikinger und Kelten, die so erfolgreich waren, dass er es sich 1959 leisten konnte, aus dem Schuldienst auszuscheiden. Beide, der Lehrer und sein Schüler, werden heute in Barton mit Gedenkplaketten geehrt.

Ted (damals noch Edward) Lewis hatte immer seinen Block dabei, in dem er Beobachtungen notierte oder in Bildern festhielt. Brian Greene, der eine ganze Reihe von Texten über Lewis im Internet platziert hat und nach jetzigem Stand einer der beiden Autoren ist, von denen einer das erste Buch über ihn veröffentlichen wird, erzählt die Anekdote, in welcher der junge Edward bei einem Familientreffen plötzlich verschwunden ist. Sein Cousin Alf entdeckt ihn schließlich auf dem Dachboden, wo er hinaus auf den strömenden Regen blickt. Auf die Frage, was er da mache, erhält er die Antwort: "Drawing the storm". Den Sturm zeichnen, meint Greene durchaus zu recht, sei auch das gewesen, dem sich Lewis später, in seiner Kunst, gewidmet habe. Der Sturm, dem er sich da aussetzte, scheint ihn erst zerzaust und dann umgebracht zu haben. Ob die Kunst, die visuelle wie die mit den Buchstaben auf einem Blatt Papier, ihm dabei half, länger durchzuhalten oder ob er sich erst durch sie Dingen annäherte, die ihn kaputt machten, wird eine offene Frage bleiben.

Der Regen regnete

Henry Treece überzeugte Teds Eltern, dass das künstlerische Talent ihres Sohnes gefördert werden musste. Die Eltern gaben ihre Zustimmung eher widerwillig, und auch danach wuchs ihr Verständnis nicht, wie in The Rabbit nachzulesen ist. Ted besuchte vier Jahre lang die Hull School of Art and Design, spielte zu der Zeit Klavier in einer Jazzband und ging nach abgeschlossener Ausbildung nach London, wo er als Zeichner für Werbefirmen und Kinderprogramme der BBC und als Buchillustrator arbeitete. Daneben schrieb er seinen ersten Roman. All the Way Home and All The Night Through, erschienen 1965 bei Hutchinson, ist heute ein ebenso seltenes wie begehrtes Sammlerobjekt. Weil auch auf dem Markt für vergriffene Bücher Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, kann man sich Lewis’ Erstling kaufen oder aber eine Klassiker-Gesamtausgabe.

Lewis’ Debütroman habe ich vor ein paar Jahren mal gelesen, und wenn die Erinnerung nicht trügt, lohnt sich die Investition nur für Vollständigkeitsfanatiker. All the Way Home ist ein Erstling von der Sorte, den manch ein arrivierter Autor später lieber ungeschehen machen würde. Martin Compart zitiert Lewis’ Lektor mit den Worten: "Ted war einer der unmöglichsten und arrogantesten Menschen, die mir je begegnet sind. Er war vollkommen davon überzeugt, er sei der beste Schriftsteller, der je auf Erden gewandelt ist." Mag sein, dass er seine schwülstige Romanze tatsächlich gut fand. Vielleicht verbarg er hinter der zur Schau gestellten Arroganz seine Unsicherheit und Verletzlichkeit. Ich weiß es nicht. Sein Held heißt Victor Graves wie der Protagonist von The Rabbit, ist aber eine ungleich plattere Figur. Victor Nummer 1 besucht die Kunsthochschule, spielt in einer Band und verliebt sich in eine Frau, was Lewis zu Szenen und Dialogen inspiriert, auf die man gern verzichtet hätte. Diese meine Erinnerung deckt sich mit der Lektüreerfahrung derer, die das Buch ebenfalls gelesen haben. Im Feuilleton ist das der Punkt, an dem man konstatiert, dass da ein junger Autor seine Stimme sucht, diese aber noch nicht gefunden hat.

All the Way Home war literarisch wie kommerziell eine Enttäuschung. Lewis heiratete, wurde Vater, zog aufs Land (nach Essex), verdiente weiter Geld als Zeichner und Illustrator (beim Beatles-Animationsfilm Yellow Submarine überwachte er die Nachbearbeitung der Filmkader), hatte aber den Traum vom Schriftstellerberuf noch nicht aufgegeben. Wahrscheinlich waren es auch finanzielle Überlegungen (das gekaufte Haus war mit Hypotheken belastet), die ihn dazu brachten, es nach längerem Schweigen mit einem Krimi zu versuchen. Ein Schaden war das nicht, auch wenn er bei seinem bisherigen Verlag auf wenig Begeisterung stieß. Das von Hutchinson abgelehnte Manuskript landete schließlich beim Verlag Michael Joseph, wo ein Gutachter Lewis attestierte, dass er kein Englisch könne. Lewis’ Stil war an amerikanischen Hardboiled-Autoren wie Chandler und Hammett geschult, nicht an Agatha Christie. Das verstand nicht jeder. Am Ende nahm Michael Joseph das Buch trotzdem an, weil ein Lektor von dem Manuskript überzeugt war.

Jack’s Return Home ist um Klassen besser als die sehr bemühte Kunstschulromanze. Das Buch wirkt, als habe es ein ganz anderer Autor verfasst. Lewis soll ein Mensch gewesen sein, der elf Monate lang auf der faulen Haut lag, um dann, wenn er dringend Geld brauchte, in vier Wochen einen Roman zu schreiben (mit der Hand, in Schulhefte). Das war so oder es ist eine Legende. Überprüfen lässt sich, dass seine Bücher - auch die insgesamt weniger gelungenen - ab dem ersten Carter-Thriller sehr genau gearbeitet sind. Der lakonische Minimalismus ist das Produkt einer intensiven Schreibanstrengung. Schnell hingeschludert oder im Rausch des Schöpfungsakts zu Papier gebracht ist das nicht. Die romantische Vorstellung vom Künstler und seinem Werk war schon bei den Romantikern eine Illusion.

Leider hatte Lewis Pech mit der deutschen Übersetzung, die sich mir unverständliche Eingriffe erlaubt und selten den richtigen Ton trifft. Ich schreibe das hier trotz starker Beißhemmung. Mit solchen Urteilen trifft man oft Leute, die auch nur Opfer eines Kulturbetriebs mit unfairer Verteilung der dort zirkulierenden Gelder sind. Übersetzen ist ein schwieriges Geschäft und meistens miserabel entlohnt. Wer damit seinen Lebensunterhalt verdient, muss sich häufig zwischen Selbstausbeutung und dem kurzen Weg zur Abgabe des Manuskripts entscheiden. Literarische Feinheiten bleiben da häufig auf der Strecke. Andererseits wird eine Übersetzung nicht besser, wenn der Leser weiß, unter welch komplizierten Umständen sie angefertigt wurde. Der Käufer wird trotzdem mit einem Buch abgespeist, das nur einen sehr unzureichenden Eindruck vom Original vermittelt. Was mich stört, lässt sich an den ersten Absätzen ganz leicht zeigen. Das Original beginnt wie folgt:

The rain rained.
It hadn’t stopped since King’s Cross. Inside the train it was close, the kind of closeness that makes your fingernails dirty even when all you’re doing is sitting there looking out of the blurring windows. Watching the dirty backs of houses scudding along under the half-light clouds. Just sitting and looking and not even fidgeting.
I was the only one in the compartment. My slip-ons were off. My feet were up. Penthouse was dead. I’d killed the Standard twice. I had three nails left. Doncaster was forty minutes off.
I looked along the black mohair to my socks. I flexed a toe. The toenail made a sharp ridge in the wool. I’d have to cut them when I got in. I might be doing a lot of footwork over the weekend.

Die deutsche Übersetzung erschien 1971 in der eigentlich recht schönen, ansprechend ausgestatteten Thriller-Reihe des Fischer Verlags mit 70er-Jahre-Appeal:

Der Regen fiel und fiel.
Seit Euston hatte es nicht aufgehört zu regnen. Im Zug war es schwül - jene dumpfe Luft, die einem die Fingernägel schmutzig macht, auch wenn man bloß auf seinem Platz sitzt und durch die beschlagenen Fensterscheiben schaut. Man sieht die schmutzigen Hinterhöfe der Häuser unter den schwach erhellten Wolken vorüberhuschen. Man sitzt ganz still da und starrt aus dem Fenster.
Ich war allein im Abteil. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und die Füße auf die Sitzbank gelegt. Die Illustrierte kannte ich schon auswendig, und den ‚Standard’ hatte ich zweimal durchgepflügt. Ich besaß noch drei Glimmstengel, meine Station, Doncaster, war erst in vierzig Minuten fällig.
Ich schielte an meinem schwarzen Anzug runter auf meine Socken. Ich krümmte eine Zehe; der Zehennagel schnitt scharf in die Wolle. Ich würde mir die Nägel schneiden müssen, sobald ich in einer Bude gelandet war. Konnte leicht sein, daß ich über das Wochenende eine Menge Fußarbeit leistete.

Da stimmt nicht viel. "Der Regen regnete" ist nicht dasselbe wie "Der Regen fiel und fiel". Die Wortwiederholung ist eines von Lewis’ Stilmitteln (Achtung: Literatur!) und kein Fehler eines unbeholfenen Schülers im Erlebnisaufsatz, den der Deutschlehrer zu korrigieren hat. Bei Lewis konkretisiert der zweite Satz den ersten. In der Übersetzung erfährt man im ersten Satz, dass es Dauerregen gibt und im zweiten gleich noch einmal. Diese Art von Redundanz hätte Lewis sich nicht geleistet.

"In a thin glass please", I said.

Rätselhaft ist der Ort, an dem Carter den Zug besteigt. Euston ist nicht weit von King’s Cross entfernt (dazwischen liegt das Britische Museum). Zuerst dachte ich, der Übersetzer hat den einen Bahnhof mit dem anderen vertauscht, weil Übersetzer oft seltsame Dinge machen. Damit habe ich ihm Unrecht getan. Es gibt englischsprachige Ausgaben mit Euston und solche mit King’s Cross. Warum das so ist, entzieht sich derzeit meiner Kenntnis. In den meisten Thrillern, die man so liest, wenn man sich an den Bestsellerlisten orientiert, wäre es ganz egal, ob einer von Euston oder King’s Cross aufbricht, von Buxtehude oder von Timbuktu. Lewis’ erster Carter-Roman hat eine so dichte Struktur und ist so voller Anspielungen, dass es nicht egal ist. Ich zitiere hier aus der ersten Taschenbuchausgabe (Pan Books) von 1971, weil Jack da vom Bahnhof meiner Wahl losfährt. Die Hauptverbindungslinie zwischen London und dem Nordosten beginnt in King’s Cross, nicht in Euston. King’s Cross ist der Bahnhof von Alexander Mackendricks The Ladykillers (1955), was der Filmfan Ted Lewis sicher wusste (und Carter eine Warnung hätte sein können) und ein wichtiger Knotenpunkt im interplanetaren Verkehrssystem von Dr. Who, der später im Roman noch erwähnt werden wird (dass Harry Potter einmal von King’s Cross aus ins Internat fahren würde, konnte Lewis nicht ahnen). Dies alles mit der Einschränkung, dass es doch Euston sein könnte.

Aus dem Schneider ist der Übersetzer damit nicht. Zwischen beschlagenen und sich beschlagenden ("blurring") Scheiben besteht ein Unterschied, weil es da um die Vermittlung einer Stimmung geht wie bei den Wortwiederholungen, die der Übersetzer (oder sein Lektor?) so wenig mag wie allzu kurze Sätze (aus "close" und "closeness" wird "schwül" und "dumpfe Luft"). Bei sich beschlagenden Fenstern muss sich ein Autor auch nicht automatisch fragen lassen, wie sein Held da hinausschauen kann. Im Original sieht Carter die dreckigen Hinterseiten der vorbeiziehenden Häuser, keine schmutzigen Hinterhöfe. Das ist ein nicht unerheblicher Unterschied. Begleiterin der Industrialisierung und eines kaum gezügelten Wirtschaftsliberalismus war die Eisenbahn. Im England des 19. Jahrhunderts zogen Hunderte von Eisenbahngesellschaften ihre Schienennetze wie eiserne Adern durch das Land, um Menschen und Rohstoffe in die Wirtschaftszentren zu bringen. Dabei gab es auch Verlierer: Zum Beispiel Leute, die direkt an der Bahnlinie wohnen mussten, weil sie sich nichts anderes leisten konnten - schon gar nicht die Übernachtung in einem der Luxushotels, die an den Londoner Endbahnhöfen gebaut wurden.

Carter fährt nicht mehr mit der Dampflokomotive nach Doncaster, aber diese Zeit lag damals noch nicht so lang zurück (siehe die Eisenbahnbrücke in The Ladykillers). Mag sein, dass die Bewohner ihren Hinterhof sauberer halten sollten, falls sie einen haben. Lewis aber teilt uns mit, dass die Wände dieser Häuser schwarz sind, weil die Eisenbahn vorbeifährt. Das ist der Auftakt einer Reise in die englische Klassengesellschaft, in der die einen den Dreck abkriegen, dem die anderen ihren Reichtum verdanken (ein sehr gutes Buch über die Eisenbahn und das England des 19. Jahrhunderts ist Dombey and Son von Charles Dickens). Enden wird die Reise in einer Stadt der Hochöfen und auf dem Gelände einer jener alten Ziegeleien, deren hohe Schornsteine nichts Gutes für diejenigen verhießen, die in der falschen Richtung wohnten.

Der allein im Abteil sitzende Carter hat nicht seine Schuhe ausgezogen, sondern seine Slipper ("slip-ons" - in England traditionell mit der Oberschicht assoziiert, seit ein Schuster für King George VI. einen Schuh ohne Schnürsenkel angefertigt hatte). Er trägt auch nicht einfach einen schwarzen Anzug, sondern einen schwarzen Anzug aus Mohair, einer hochwertigen Naturfaser. Für einen wie ihn sind solche Details extrem wichtig. Man kennt das von Filmfiguren wie Tony Camonte (Paul Muni in Scarface) und von Tom Powers (James Cagney in The Public Enemy) oder von F. Scott Fitzgeralds Roman The Great Gatsby. Der Gangster, der es in seinem Wirtschaftszweig nach oben gebracht hat, demonstriert seinen Erfolg durch die Anschaffung teurer Anzüge und anderer Konsumgüter. Carter möchte ein Villain mit Stil sein und hat kulturell dazugelernt. Er würde niemals die zwei Dutzend identischen Maßhemden im Kleiderschrank vorführen wie seine amerikanischen Vorbilder, weil das ordinär wäre. Aber der dezente Hinweis auf die Slipper und den Mohair-Anzug, der will schon sein.

Get Carter

In Scunthorpe angekommen, wird Carter ins "George" gehen und an der Bar ein Bier bestellen, das er aus einem dünnwandigen Glas statt einem groben Krug trinken will, was einiges Stirnrunzeln hervorruft. So soll es sein. Jack Carter hat es in London zu etwas gebracht und trinkt nicht mehr aus dem gleichen Glas wie die Leute, die hiergeblieben sind und zu denen er einst gehörte. Im Zugabteil wird das vorbereitet. Wer die Slipper und die Naturfaser entfernt, beschädigt die Figur und die literarische Qualität des Textes. Beschädigt wurde in Deutschland auch die Verfilmung von Mike Hodges. Ein Banause (um es freundlich zu sagen) hat beim Erstellen der Synchronfassung die Bar-Szene herausgeschnitten. Damit wurden die Industriearbeiter entfernt, in deren Kreis Carter sein Bier trinkt und der Mann mit den sechs Fingern an einer Hand. Mutationen dieser Art waren in den Industrierevieren recht häufig. Solche Details erzählen ihre eigenen Geschichten - oder eben nicht, weil ein Ignorant sie amputiert hat.

Höllenfahrt

"Penthouse was dead", sagt der Ich-Erzähler Carter. "I’d killed the Standard twice." Die deutsche Übersetzung schickt sich an, uns das zu erklären wie bei vielen Stellen, die der womöglich ein bisschen dumme Leser sonst nicht verstehen könnte: "Die Illustrierte kannte ich schon auswendig, und den ‚Standard’ hatte ich zweimal durchgepflügt." Natürlich ist das gemeint. Carter ist mit seiner Reiselektüre durch, auch die mehrfach gesehenen Bilder geben nichts mehr her. Nur: So steht es da nicht, weil das nun mal ein Text mit literarischem Anspruch ist, der vorbeireiten will, was noch kommen wird. Der Tod sollte nicht aus dem Vokabular entfernt werden, auch wenn das Penthouse-Magazin und der Standard nicht gestorben sind. Die von Lewis gewählten Vokabeln "dead" und "killed" ergänzen den schwarzen Anzug. Carter fährt zur Beerdigung seines Bruders. Jack Carter ist außerdem ein Villain, also ein Berufsverbrecher, der im Auftrag seiner Bandenchefs Menschen einschüchtert, verprügelt, ihnen das Gesicht zerschneidet und auch nicht vor Mord zurückschreckt. In seiner Person fährt der Tod nach Doncaster und von da nach Scunthorpe, und das in doppelter Hinsicht.

Get Carter

Die drei Zigaretten ("nails"), die Jack noch übrig hat, sind Sargnägel, nicht die Glimmstengel der deutschen Übersetzung: die Nägel zum Sarg seines toten Bruders und auch zu seinem eigenen, dies allerdings nicht im Sinne der Warnhinweise auf der Zigarettenschachtel, die es damals nicht gab. Carter wird im Laufe seiner Reise in den Norden und in die Vergangenheit mehrere Menschen töten und dann selber an einer Stichwunde sterben. Wer sich jetzt ärgert, weil ich den Schluss verraten habe: Keiner von Lewis’ Krimis endet glücklich für die Hauptfigur. Das wird einem schon sehr früh klar. Lewis’ Welt ist zu düster für ein Happy Ending. Es ist auch unerheblich, wer der Mörder ist. Carter wird herausfinden, dass fast alle aus dem Umfeld seines Bruders Frank eine Schuld an dessen Tod trifft: seine Tochter, seine Geliebte, den Besitzer des Pubs, in dem Frank am Tresen gearbeitet hat, den Mann, mit dem Jack und Frank aufgewachsen sind, Jack selbst und sogar Franks Ehefrau, die vor Jahren mit pakistanischen Einwanderern durchgebrannt ist.

Get Carter

Die Kriminalhandlung ist das Vehikel, mit dessen Hilfe die Beschreibung deprimierender gesellschaftlicher Zustände transportiert wird. Das bedeutet nicht, dass man beim Lesen depressiv werden müsste. Angesichts eines englischen Kriminalromans, der jahrzehntelang den Mord im Landhaus durchexerzierte, damit alles so bleiben konnte wie es war, hat Jack’s Return Home etwas Befreiendes. Bei Agatha Christie sind die Mörder und/oder ihre Opfer in der Regel diejenigen, die nicht zu hundert Prozent "englisch" sind, um sie auf diese Weise aus dem fiktionalen Königreich hinauszuexpedieren, damit die pensionierten Offiziere, die Landadeligen und die sonstigen Stützen der sich abdichtenden Gesellschaft am Ende wieder unter sich sind. Wollte man in Jack Carters Welt alle Figuren eliminieren, die im klassischen Detektivroman schlecht gelitten sind (oder höchstens als Gesinde), ergäbe das ein furchtbares Gemetzel. "Obwohl in England angesiedelt und von einem Engländer geschrieben", sagt Mike Hodges, der Regisseur der kongenialen Verfilmung, in seinem Vorwort zur im Herbst erscheinenden Neuauflage des Romans, "war er (abgesehen vom Regen) das Gegenteil von ‚typisch englisch’. Wichtiger war, dass er die rosarote Brille herunterriss, durch die die meisten Leute unser gemeinsames Heimatland sahen." Wo immer Jack Carter in den Zug steigen mag: in Paddington ganz sicher nicht.

Für Christie-Fans: In The A.B.C. Murders behauptet eine der Figuren, von Paddington nach Cheltenham (westlich von London) fahren zu wollen und wird später einer Falschaussage überführt, weil der Mann in Euston Station gesehen wurde, von wo aus er nach Doncaster fuhr. Wenn man den ersten Carter-Roman als eine lebendige, nach außen (auch hin zu Agatha Christie) offene Form begreift und nicht als abgeschlossenes Konstrukt zwischen zwei Buchdeckeln, könnte man in Erwägung ziehen, Jack abwechselnd in King’s Cross und Euston aufbrechen zu lassen, von Ausgabe zu Ausgabe. Das würde gut zu Hodges’ Verfilmung passen, wo wir Michael Caine als Carter in der ersten Einstellung - nach einem Stück Schwarzfilm - hoch oben im Fenster einer Penthousewohnung in London sehen als würde er schweben. Danach verschwindet er hinter einem dunklen Vorhang, was sein weiteres Schicksal vorwegnimmt ("Curtains for Caine", sagt Hodges im Audiokommentar der DVD).

Wir sitzen jetzt jedenfalls nicht mit Mrs. McGillicuddy oder mit Miss Marple im Zug, sondern mit Jack Carter (vierzig Minuten vor Doncaster), und durch das Fenster sehen wir nicht den Mord an der Schwägerin von Emma Crackenthorpe aus Rutherford Hall, sondern rußgeschwärzte Wände. So ist das bei einer Höllenfahrt. Lewis baut erst die Fingernägel in seinen Text ein, dann die Sargnägel, schließlich die Zehennägel, die Jack schneiden will, weil sie zu lang geworden sind. Jeder Leser von Edgar Allan Poe weiß, dass die Nägel nach dem Tod weiter wachsen. Mit Jack Carter fährt nicht nur ein Killer in das Industrierevier im Norden, sondern eine Leiche. Als er in King’s Cross (oder Euston) in den Zug steigt, ist er schon so gut wie tot. Mike Hodges, der den Roman genau gelesen und sich für die Verfilmung ein modifiziertes Ende ausgedacht hat, setzt Jack den Auftragskiller ins Abteil, der ihn nach erfolgter Rache für Franks Tod erschießen wird.

Im Roman (und auch im Film) ist - neben dem Tod - das Klassensystem der Reisebegleiter. Draußen ziehen die geschwärzten Hauswände vorbei. Leute wie Jack Carter kommen traditionell aus den Slums, in denen das Recht des Stärkeren gilt. Mit dem Villain Carter sitzt das Produkt einer durch die wirtschaftlichen Verhältnisse erzeugten Parallelgesellschaft im Zug, einer Gesellschaft, die nach eigenen Regeln funktioniert und für die Polizisten Agenten zur Durchsetzung der Interessen der oberen Schichten sind - was, historisch betrachtet, nicht so falsch ist. Kein Wunder, dass es so stickig ist in diesem Abteil, das Jack Carter für sich allein zu haben glaubt.

Glühende Phantasien

Was sind das für "schwach erhellte Wolken", von denen in der Übersetzung die Rede ist? Wie hat man sich das vorzustellen? Wolken im Scheinwerferlicht des Zuges? Fällt Licht aus den Fenstern der Häuser auf die Wolken? Sind die Hinterhöfe illuminiert? Sucht die Luftabwehr den Himmel mit Scheinwerfern ab? Nichts davon. "Half-light clouds" sind Wolken in der Dämmerung. Beschrieben wird ein Sterbeprozess. Die Scheiben fangen an, sich zu beschlagen, es wird langsam dunkel, Jack Carter fährt in die Dämmerung seines Lebens. Lewis spielt gern und oft auf Filme an. Deshalb darf man hier an die Toten in The Ladykillers denken, die mit dem Zug nach Norden fahren. Die von Alec Guinness angeführten Räuber entsorgen die anfallenden Leichen (und damit sich selbst), indem sie diese von einer Eisenbahnbrücke beim Bahnhof King’s Cross in die Waggons der Güterzüge werfen, die Rohstoffe aus den Industrierevieren nach Süden gebracht haben und leer zurückfahren. Carter, durch seine Tätigkeit als Villain in London wohlhabend geworden, fährt erster Klasse, nicht im Güterzug. Ein Toter könnte er trotzdem sein.

Get Carter

Bei einer Reise, die an einem Donnerstag beginnt, in einem Bahnhof mit dem Kreuz im Namen, ist es auch nicht ganz abwegig, an das Christentum zu denken, an die Passionsgeschichte. Donnerstagabend trifft Carter in Scunthorpe ein (letztes Abendmahl; das Abendgebet am Gründonnerstag leitet die Feier der drei österlichen Tage ein), am Sonntag stirbt er. Eine Wiederauferstehung wie am Ostersonntag ist das natürlich nicht. Carter ist ein Mörder, kein Erlöser. Der Roman erzählt nicht von einer Apotheose, sondern von einer Fahrt in die Hölle. Die erleuchteten Wolken gibt es dann wirklich, dies aber nicht vierzig Minuten vor Doncaster wie in der Übersetzung, sondern nach dem Umsteigen und dem Hereinbrechen der Dunkelheit, bei der Anfahrt des Anschlusszuges auf Scunthorpe, Jack Carters Heimatstadt. Durch das Fenster sieht Jack ein Glühen am Himmel, als würde hinter einem Hügel ein Heuschober oder ein Öltanker brennen:

Und etwas später fährt der Zug durch eine Schneise zwischen den Hügeln und in einem Bogen auf die Stadt zu, ein kleines Lichtfeld konzentrierter Helligkeit, und hinter der Stadt und um sie herum kann man die Ursache des Glühens sehen, das halbe Dutzend sich bis zum Rand des halbkreisförmigen Talkessels erstreckender Stahlwerke, die nach oben schießenden Flammen - die zarten, an den Innenseiten der Schmelzöfen pulsierenden Rottöne, die Funken sprühende Weißglut in den Hochöfen - die schwarzen Umrisse der Werksgebäude vor dem Hintergrund des kollektiven Glühens, all das sieht aus wie eine Disney-Version vom Anbeginn der Schöpfung.

Das ist einer dieser Lewis-Sätze - hier lang und atemlos statt kurz und trocken (und bitte nicht in vier Einzelsätze aufzubrechen wie in den deutschen Buchausgaben) -, die im Kopf des Lesers sofort die zugehörigen Bilder entstehen lassen, wenn er die Anspielungen erkennt. White Heat (Weißglut - in Deutschland mit den blöden Verleihtiteln "Maschinenpistolen" und "Sprung in den Tod" geschlagen) ist einer der letzten klassischen Gangsterfilme (Raoul Walsh, 1949). James Cagney spielt Cody Jarrett, einen unter rasenden Kopfschmerzen leidenden Bandenchef mit Mutterkomplex, der am Ende auf einen riesigen Öltank flüchtet und die berühmt gewordenen Sätze "Made it, Ma! Top of the world!" hinausschreit, ehe er beim finalen Shootout mit dem Tank in die Luft fliegt. Einem Villain wie Carter, dem bei der Anfahrt auf die Stadt ein brennender Öltanker in den Sinn kommt, sollte das eine Warnung sein.

White Heat

Die Disney-Version von der Entstehung der Welt findet man am Anfang von Fantasia. Walts Versuch, das große Publikum mit seiner eigenen, mitunter seltsame Blüten treibenden Begeisterung für die klassische Musik zu erfüllen, indem er (bearbeitete) Kompositionen von Beethoven, Strawinski, Schubert usw. mit animierten Musikvideo-Phantasmagorien unterlegte, war 1940 grandios gescheitert und hatte Disney seinen schlimmsten Flop beschert. 1969, drei Jahre nach Walts Tod, trat das Werk doch noch seinen Siegeszug an. Fantasia lief nun in prall gefüllten Kinos, weil die kiffende Jugend etwas auf der Leinwand entdeckte, das so nicht beabsichtigt gewesen war: einen psychedelischen Film mit barbusigen Zentaurinnen, mit Seifenblasen und Krokodilen tanzenden Nilpferden im Tutu und Magic Mushrooms. Die Welt entsteht aus abstrakten Formen Oskar Fischingers, und das von Leopold Stokowski dirigierte Orchester spielt Bachs Toccata und Fuge in d-Moll dazu.

Fantasia

Aufgrund des erfolgreichen Neustarts von Fantasia im Jahr davor durfte Lewis 1970 also auf Leser spekulieren, die bei der Anfahrt auf Scunthorpe die Musik von Bach im Ohr haben würden. Es folgen dann allerdings keine die neu geschaffene Welt verzaubernden Elfen wie beim Meister der Verniedlichung, sondern Einblicke in eine Hölle auf Erden, angesiedelt im englischen Nordosten. Das Infernalische hat dabei nicht nur mit dem eher oberflächlichen Vergleich zwischen südenglischen Gartenlandschaften (oder, für ZDF-Zuschauer: dem Cornwall der Rosamunde Pilcher) und einem Industrierevier zu tun, der sich im Kopf des Lesers vielleicht einstellen mag. Erzählt wird vielmehr eine Geschichte der Ausbeutung auf allen Ebenen: des Nordens durch den Süden, der Frauen durch eine männlich dominierte Pornoindustrie, der Arbeiter durch ein Wirtschaftssystem, das neben den legalen Profiteuren auch die Gangster nach oben spült. Die Ausbeutung der Bodenschätze hat Geld in die Stadt gebracht, die sich immer weiter ausdehnen würde, wenn nicht ein Ring aus Stahlwerken ihr Wachstum begrenzen würde. Ein Teil des Geldes wird an die innerhalb des Rings in Sozialwohnungen lebenden Arbeiter abgegeben und von den "governors", den Chefs der in Bezirken und Einflusssphären organisierten Unterwelt, wieder abgeschöpft, weil diese die Kneipen und Vergnügungsetablissements, das Glücksspiel und die Prostitution kontrollieren. Auch dieser Kreislauf des Geldes hat etwas Teuflisches. Ted Lewis hat sich damit einen Platz auf der Liste mit den besten Krimis über die korrupte Stadt verdient, zusammen mit Dashiell Hammetts Red Harvest, Jonathan Latimers Solomon’s Vineyard, Ross Macdonalds Blue City und einigen anderen.

Penthouse war tot

Ich kann halbwegs nachvollziehen, warum Jack Carters Penthouse aus der Übersetzung von 1971 verschwunden ist (2002, in der bisher letzten und "überarbeiteten" Ausgabe, mit schönen Texten von Hans Gerhold und Martin Compart im Anhang, hätte man es aber schon ändern können). In Deutschland erschien das vom Amerikaner Bob Guccione gegründete "Magazin in dem alles steht" erstmals 1980. Vermutlich hätten die meisten deutschen Leser vorher nicht gewusst, worum es sich da handelt. Vielleicht spielte auch die Zensur eine Rolle. Verleger von harten Krimis mussten mit dem Eingreifen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften rechnen, wenn ein Lehrer ein Exemplar auf dem Schulhof konfiszierte. So oder so: Eine x-beliebige Illustrierte liest Carter definitiv nicht. Die Penthouse-Ausgabe im Zugabteil hat eine doppelte Funktion. 1965 brachte Guccione sein Magazin zuerst im Vereinigten Königreich heraus (in den USA ab 1969). Weil der Herausgeber ein geborener New Yorker war, wurde das als Beispiel für den schädlichen Einfluss der amerikanischen Kultur auf die britische gegeißelt. Der Einfluss der US-Kultur auf die seines Heimatlandes ist auch ein wiederkehrendes Thema bei Ted Lewis, nur ohne den erhobenen Zeigefinger der Moralapostel.

Die nackten Frauen in solchen Heften und im Film waren in den Sixties ein großer Aufreger. Die einen zeigten sie, und die anderen berichteten darüber - mit vielen Illustrationen, damit der Leser wusste, wovon die Rede war. Wie sehr alles im Fluss war lässt sich an Norman J. Warrens Her Private Hell (1967) sehen, der als der erste Sexfilm Großbritanniens mit Spielhandlung gilt (bis dahin gab es in erster Linie "Dokumentationen" über das Leben in der Nudistenkolonie oder über Ausschweifungen in schlimmen Lasterhöhlen). Bachoo Sen, zugewandert aus Kalkutta, hatte Arthouse-Filme wie Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad in den britischen Verleih gebracht, als er mit dem Kinobesitzer Richard Schulman eine Produktionsfirma gründete, die Piccadilly Pictures, um den Briten eine künstlerisch angehauchte Exploitation-Version von Blow-Up zu schenken (mit Jazz, leicht avantgardistischer Montage und Verweisen auf Michael Powells Peeping Tom - Warren hatte zuvor den immer noch sehr ansehnlichen Kurzfilm Fragment gedreht).

Her Private Hell

Sechs Monate nach Antonionis enigmatischer Geschichte rund um einen Londoner Modephotographen in die Kinos gekommen (Premiere war am 4. Januar 1968), erzählt Her Private Hell von den Tribulationen des italienischen Models Marisa (Lucia Modugno), das nach London geflogen wird, wo sie angeblich für Modephotos posieren soll und bei einem Photographen untergebracht wird, der sie zu Nacktaufnahmen und anderen Dingen verführt. Sehr explizit war das nicht, weil die Zensoren die meiste Nacktheit entfernt hatten. Trotzdem erfüllte der Film ein Bedürfnis und blieb über ein Jahr lang auf dem Spielplan von Londoner Kinos. Viel mehr nackte Busen brachte David Cohen in seiner halbstündigen Exploitation-Doku The Anatomy of a Pin-Up (1971) unter.

The Anatomy of a Pin-Up

Bei Cohen darf man Guccione dabei zusehen, wie er junge Damen zum Posing vor der Penthouse-Kamera animiert (eine ist Françoise Pascal aus La rose de fer, Jean Rollins Ode an die Nekrophilie). Die jungen Damen berichten von ihren Karriereplänen und erläutern, dass sie sich ausziehen, weil Gucciones Photos so schön ästhetisch sind und gar nicht schmuddelig (eine Angestellte findet alles besser, als weiter in der Bank zu arbeiten); Barbara Cartland, die Königin des rosaroten Kitschromans, warnt vor der drohenden Unmoral; Gucciones Assistentin zufolge befreit Penthouse die Frau; Feministinnen demonstrieren gegen die Verdinglichung des weiblichen Körpers; und irgendwelche Passanten geben auch noch ihren Senf dazu. Ausgewogenheit ist alles, als Girlande um die nackten Busen und die Models, die mit Guccione in den Park gehen, um nackt herumzutollen.

Cohen kriegte offenbar genau die richtige Balance hin, um Gnade in den Augen der Zensur zu finden. Sein Werk war darauf konzipiert, im Vorprogramm eines großen Spielfilms zu laufen (und an den Einnahmen teilzuhaben). Das gelang. Britische Zuschauer wurden mit Anatomy of a Pin-Up auf Hitchcocks Frenzy eingestimmt. Die nackte Haut à la Penthouse war 1971 mainstream-kompatibel geworden. Die Koppelung von Anatomy und Frenzy erbrachte auch ein Resultat, von dem weder Cohen noch Hitchcock etwas ahnen konnten, als sie ihre Filme drehten. "Lovely, lovely", sagt bei Cohen ein Photograph, als er eine junge Frau dazu bringt, die Brust freizumachen. Und "Lovely, lovely" stöhnt Hitchcocks Frauenmörder, als er Brenda Blaney vergewaltigt und erdrosselt, die Chefin des Heiratsbüros.

Guccione positionierte sein Magazin als die rüdere, gewagtere, skandalösere Alternative zum Plastiksex mit Gediegenheit kombinierenden Playboy von Hugh Hefner. Autoren, die danach zu Ikonen des investigativen Journalismus wurden, deckten Missstände auf und die Models wurden so weit entblößt, wie es für eine frei verkäufliche Zeitschrift nur möglich war. Er habe das Schamhaar legalisiert, sagt Guccione in Anatomy of a Pin-Up. Tatsächlich war er es, der durchsetzte, dass sein Heft nicht aus der Auslage der Kioske verschwinden musste, obwohl er aufgehört hatte, die Schamhaare wegzuretuschieren. Im Zeitalter der Intimrasur gewinnt diese Pionierleistung eine ganz andere Wertigkeit. Nicht nur die Klamotten, die jemand trägt (oder eben nicht), auch viele gesellschaftliche Tabus hängen stark von der Mode ab.

The Anatomy of a Pin-Up

Interessanterweise lässt Lewis seinen Helden allein im Zugabteil sitzen. Das Arbeiten mit solchen Leerstellen (hier ganz wörtlich zu nehmen) kann er gut. Das Fehlen von Mitreisenden wirft die Frage auf, ob Carter sein Penthouse-Heft nur ausgepackt hat, weil er das Abteil für sich allein hat oder ob die nackten Busen und das Schamhaar auf den "ästhetischen" Photos (in Anatomy wird Guccione mit den alten Meistern der Malerei verglichen) inzwischen so weit normalisiert sind, dass das keine Rolle mehr spielt. Man fragt sich unwillkürlich, wie andere Fahrgäste auf Carter und sein Penthouse reagieren würden. Da kündigt sich schon der Chronist einer zunehmend sexualisierten Gesellschaft an, als der Lewis sich in diesem und in den folgenden Büchern erweisen wird. Bei ihm spiegelt sich die legale Softcore-Pornographie in den verbotenen Rammelfilmchen, die damals im Umlauf waren und der Hardcore-Porno in den Modephotos im Versandhauskatalog.

Frenzy

Und "Penthouse was dead" heißt natürlich auch: vierzig Minuten vor Doncaster hat Carter die Nacktphotos in seiner Reiselektüre so oft gesehen, dass sie nicht mehr für eine Erektion taugen. Penthouse ist tot, weil sich in Carter beim Anblick der posierenden Damen nichts mehr regt. Für einen wie ihn, der sich so stark über seine Potenz definiert, hat das weit über das rein Sexuelle hinausreichende Konsequenzen. Penthouse ist tot, Carters Penis ist tot und Carter ist es auch. Darum sitzt er reglos im Zugabteil ("not even fidgeting") und schaut seinen Nägeln beim Wachsen zu. "Die Illustrierte kannte ich schon auswendig" (deutsche Übersetzung) ist davon doch sehr weit entfernt.

Strictly Harrison Marks

Die Pornographie spielt im Werk von Ted Lewis eine große Rolle. Seine Romane nehmen den Leser auf eine Reise mit, in deren Verlauf er die vom Ruß geschwärzten Rückseiten der Häuser zu Gesicht bekommt und die dunklen Ecken in der Welt der Mode- und Photoindustrie sowie des Ideals von der sexuellen Befreiung, der die Swinging Sixties viel von ihrer Strahlkraft verdanken. Zu den gelegentlich von Polizisten und Staatsanwälten monierten, aber legalen Softporno-Bildern in Penthouse gibt es die Hardcore-Entsprechung in der kriminellen Unterwelt Jack Carters. Seine Arbeitgeber, die Brüder Fletcher, sind im Geschäft mit pornographischen Photos und Filmen eine große Nummer. Die Fletchers könnten die Lieferanten des Albums mit den halbnackten Frauen sein, das der Kunde in Michael Powells Peeping Tom unter dem Ladentisch erwirbt. Cyril Kinnear, der Pate von Scunthorpe, ist ein Geschäftspartner der Fletchers. Er versorgt London mit Nachschub an pornographischem Material. Einmal kommt Carter in Kinnears Spielcasino. "Das Mädchen, das Cyril ‚Joy’ gerufen hatte, brachte mir ein Glas", steht in der deutschen Version. "Sie war eine richtige Beatmaus." Beatmaus? Auf Anhieb weiß ich auch nicht, wie man die Stelle für deutsche Leser übersetzen sollte. So jedenfalls nicht, und bestimmt ohne Relativsatz.

Peeping Tom

Hier das Original: "The girl called Joy brought me my drink. She was strictly Harrison Marks." Das ist wieder typisch Ted Lewis, der es immer schafft, in ein oder zwei Hauptsätzen eine Fülle von Informationen unterzubringen (die Frage, ob Kinnear oder sonst einer das Mädchen "Joy" gerufen hat, ist dabei völlig unerheblich). Harrison Marks war ein Photograph, der dieselbe Art von "Glamourbildern" verkaufte wie sie Karlheinz Böhm in Peeping Tom macht, und 8mm-Pornofilme. Die Aktphotos gab es einzeln, als Buch, im Portfolio und ab 1957 auch in Kamera, dem ersten Magazin für dieses Marktsegment, das in Großbritannien in einer Massenauflage produziert wurde. Lewis durfte also wieder mit Lesern rechnen, die bei "Harrison Marks" sofort ein Bild von Joy und der durch sie repräsentierten Form der Erotik im Kopf hatten.

1970 war Marks schon etwas antiquiert (und Kamera seit zwei Jahren eingestellt). Wir befinden uns in der Provinz, wo man der Entwicklung ein wenig hinterherhinkt. Swinging London und die Carnaby Street, falls das mit "Beatmaus" gemeint sein sollte, ist Scunthorpe ganz sicher nicht. Penthouse ist in diesem Zusammenhang nicht tot, sondern das, was auf Kamera folgte. Und ein Exemplar von Gucciones Magazin ist das Mitbringsel des jetzt in London lebenden Carter für seine Heimatstadt, in der sich die Herren im hochklassigsten Etablissement am Ort die Drinks noch von Damen mit Marks-Appeal servieren lassen. "Strictly Harrison Marks" verrät uns auch etwas über den Titelhelden. Durch kommentierende Beobachtungen wie diese nimmt Carter ständig Wertungen vor. Dadurch eignet er sich gut als Sprachrohr des Autors, und als Kritiker der von ihm vorgefundenen Gesellschaft. Bis dahin war das eher die Domäne von Detektiven wie Raymond Chandlers Philip Marlowe, nicht von Gangstern. Wenn jetzt der Schurke das - auf eine verquere Weise moralische - Urteil fällt, sagt das an sich schon etwas über das Gemeinwesen aus, mit dem er konfrontiert ist.

Wie starb Lee Marvin?

Der schwierige Umgang mit der Sexualität ist ein Thema, dem Lewis sich regelmäßig widmet. Meistens ist sie ein Mittel zum Zweck: zum Erwerb von Geld und Macht, zum Erlangen emotionaler Vorteile, zur Befriedigung von Bedürfnissen, die man versteckt, weil sie abseits bürgerlicher Normen verortet und bestenfalls peinlich sind. Am uninteressantesten wird die Sexualität in Lewis’ Erstling abgehandelt. Auch in dieser Hinsicht viel besser ist The Rabbit. Victor Graves, der Kunststudent mit dem Ferienjob im väterlichen Steinbruch, erlebt da ein tragikomisches Abenteuer mit Janet, die irgendwie viel mehr Klasse zu haben scheint als seine Freunde aus Kindertagen, mit denen man sich zwar darüber unterhalten kann, wie toll Lee Marvin auf der Leinwand stirbt (in Budd Boettichers Seven Men From Now), aber nicht darüber, was besser ist: die Hommage des Modern Jazz Quartet an Django Reinhardt, oder doch "Milano" (die B-Seite der "Django"-Platte). Victor ist innerlich zerrissen, steht in dieser Phase seines Lebens zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen dem Elternhaus und den vertrauten Mustern seiner Kindheit auf der einen und der Welt der Kunstschule auf der anderen Seite. Einmal ist er frustriert darüber, dass er von der einst vertrauten, ihm fremd werdenden Umgebung nicht verstanden wird, dann hat er Schuldgefühle denen gegenüber, die er bald hinter sich lassen wird. Wie oft bei Lewis wird das mit Hilfe von Räumen ausgedrückt. In The Rabbit ist es zum Beispiel das Zimmer von Veronica, mit der Victor geht und die am Schluss des Buches nicht mehr seine Freundin sein wird. Nach einem Jahr auf der Kunstschule, sagt Victor (wie alle Lewis-Helden ist er ein Ich-Erzähler), sieht Veronicas Zimmer plötzlich "klein und gewöhnlich aus, wie einige der Erinnerungen aus den vergangenen paar Jahren".

Seven Men From Now

Die Vergangenheit ist schal geworden, die Gegenwart ein Schwebezustand zwischen hier und dort, die Zukunft kaum mehr als ein vages Versprechen. Halt bietet ein Referenzsystem aus kulturellen Fixpunkten, auf die ein Autor wie Lewis in den 1970ern noch in der berechtigten Hoffnung anspielen konnte, dass die Leser sie verstehen würden. Heute, im Zeitalter der Partikularinteressen, wäre das ungleich schwieriger. Auch bei Lewis ist es schon trügerisch. Mit keinem aus der Clique in seinem Heimatort kann Victor über Cool Jazz reden. Das geht nur mit Janet. Aber "Django" und "Milano" sind zwar die Titel auf einer Platte des MJQ, zugleich verweisen sie jedoch auf Sergio Corbuccis Spaghetti-Western mit Franco Nero und auf Milano calibro 9, einen Gangsterfilm von Fernando Di Leo. Und solche italienischen Genrefilme mit ihren stilisierten Gewaltszenen gehören in seine alte Welt, wo man noch nachspielt, wie Randolph Scott Lee Marvin erschießt.

Bei den meisten von Lewis’ Büchern hat man das Gefühl, dass sie viel länger sein müssten als ihre üblicherweise etwas mehr als 200 Seiten, wenn man durch ist. Das kommt nicht daher, dass sie langweilig wären und man den Schluss herbeisehnt. Vielmehr bieten sie ein sehr dichtes Leseerlebnis, was damit zu tun hat, dass Lewis geschickt Assoziationen freisetzt und damit lange Erläuterungen einspart. Davor muss man keine Angst haben. Lewis bezieht sich überwiegend auf die Populärkultur. Es ist nicht so wie bei gewissen Autoren der Postmoderne, die mit Spezialwissen protzen und dem Leser seine Unwissenheit vor Augen führen. Wenn man die Anspielungen in Jack’s Return Home nicht erkennt, bleibt das Buch immer noch ein guter Krimi. Erkennt man sie, erschließen sich einem neue Bedeutungsebenen. Man hat dann einen Bonus.

Victor, der Held des autobiographischen The Rabbit, muss von Barton-upon-Humber mit der Fähre nach Hull übersetzen, wo er sein Rendezvous mit Janet hat. Janet, die Frau seiner Träume, holt ihn am Pier ab, von da gehen sie ins Kino. Auf dem Programm steht Fred Zinnemanns From Here to Eternity. Selbst wer den Film noch nie gesehen hat dürfte hier gleich die in Form unzähliger Photos verbreitete Strandszene vor Augen haben: Deborah Kerr und Burt Lancaster eng umschlungen, stürmisch liebkost von der Gischt der Brandung. Mehr visueller Orgasmus geht fast nicht. Victor darf seine Angebetete denn auch küssen. Der Traum zerplatzt vorerst, als er auf die präpotenten Schläger aufmerksam wird, mit denen er in Barton im Streit liegt und die mit im Kino sitzen. Dieser Konflikt wird später, zurück in Barton, in eine Prügelei münden, die ziemlich prosaisch ist und nicht so ästhetisch und stilisiert wie in italienischen Genrefilmen der 1960er und 1970er. Auch Lee Marvin, der Schurke mit den Manierismen eines Dandys, hätte das viel eleganter gelöst.

From Here to Eternity

Überhaupt Lee Marvin, dessen Walker in Point Blank (1967) ein naher Verwandter von Jack Carter ist (und eine wandelnde Leiche so wie er): Was hätte Marvin alias Bill Masters alias Liberty Valance wohl über das Barton-upon-Humber im Werk von Ted Lewis gesagt? Und hatten die Honoratioren des Ortes alle Bücher des Autors gelesen, als sie die Gedenkplakette am Haus seiner Eltern genehmigten? Im Barton von The Rabbit amüsiert man sich, indem man saufen geht oder dem letzten Erotik-Aufgebot, einer knapp vierzigjährigen, mehr mütterlich als lasziv wirkenden Stripperin mit dem Künstlernamen Miss Jackie Du Val dabei zusieht, wie sie sich aus einem scharlachroten Abendkleid und nicht dazu passenden Handschuhen schält. In einem Lewis-Roman kann dieser Striptease nur misslungen sein, weil die Künstlerin kein Stilbewusstsein hat. Bleibt als Zuflucht noch die fiktionale Welt auf der Leinwand.

Open-End-Party

Einmal steht Victor vor dem Kino, wo Seven Men from Now läuft und versenkt sich in die Aushangbilder. Dann sieht er die Reflektion seines Vaters im Glas des Schaukastens. Was für ein schöner Abend, meint der Vater. Wäre es nicht besser, ganz schnell heim zu gehen und Hausaufgaben zu machen (Zeichnungen für die Kunsthochschule). So ist das immer bei Ted Lewis. Das Verhältnis zwischen den Generationen ist bestenfalls gespannt - nicht nur, wenn aus dem Sohn ein Gangster geworden ist, da aber ganz besonders. Jack Carter hat vor der Übersiedelung nach London seinen Vater verprügelt, um dann nur zweimal nach Scunthorpe (ein paar Meilen von Barton entfernt) zurückzukommen: zur Beerdigung des Seniors und zu der seines Bruders Frank. In Franks Tod verwickelt ist Cliff Brumby, der mit Spielautomaten ein Vermögen verdient hat und ein Doppelleben führt. Als ehrbarer Bürger bewohnt Brumby ein Haus im Ranch-Stil in einem Vorort für Reiche.

Als Carter dort eintrifft, ist das Ehepaar Brumby noch auf dem Polizeiball. Die Tochter hat die Gelegenheit genützt und Freunde zu einer Party eingeladen. Sie sieht glücklich aus, bis ihr Vater früher als geplant nach Hause kommt, den wilden Mann markiert und die jungen Leute aus der Imitationsranch wirft. Brumby ist so in Fahrt, dass er sich gleich noch mit Carter anlegt. Das ist ein Fehler. Carter verpasst ihm mit der Coolness des Professionellen ein paar gezielte Schläge, dann ist Ruhe. Mike Hodges stellte später erstaunt und etwas ratlos fest, dass die Leute Carter im Kino zujubelten, obwohl er doch ein Monster ist. Natürlich ist er das. Aber er ist auch der Mann, mit dem man sich in einer durch und durch korrupten Gesellschaft wenigstens ab und an identifizieren kann, weil er den Heuchlern und Biedermännern die längst fällige Abreibung verpasst (der Mann mit dem schnellsten Colt im Italo-Western ist da nicht weit).

Get Carter

Den besten Spruch aus der Brumby-Szene (im Film besser als im Buch) kann man heute als Aufschrift auf einem T-Shirt kaufen: "You’re a big man. But you’re in bad shape. With me, it’s a full-time job. Now behave yourself." Du bist groß und mächtig, aber jetzt benimm dich, weil sonst gibt’s was auf die Mütze. Wer wäre nicht auch schon der einen oder anderen, ihm von einer als ungenügend empfundenen Gesellschaft als "Respektsperson" vorgesetzten Figur begegnet, vom blöden Lehrer bis zum cholerischen Chef, dem er das gern gesagt hätte, um dann mit Carter’scher Nonchalance zur Tat zu schreiten? Kein Wunder, wenn da im Saal geklatscht wird. Das war schon immer die große Stärke des Kinos: ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen. Das bedeutet nicht, dass danach alle Amok laufen würden. Von Unruhen nach der Lektüre des Romans oder dem Besuch einer Kinovorführung ist nichts bekannt.

In The Rabbit findet die Party im Haus von Janets Eltern statt, die tatsächlich wegbleiben wie versprochen, statt vorzeitig von einer Reise zurückzukehren. Man darf nicht vergessen, dass das - schätze ich - in den späten 1950ern spielt, und in der Provinz, als vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, erst noch erkämpft werden musste. Die Abwesenheit der Eltern, gepaart mit einem Open End, wird von allen wie das Abwerfen einer drückenden Last empfunden:

Jeder schien sich sehr schnell einen anzutrinken, und auf eine sehr glückliche Weise, und alle lagen entweder auf dem Boden oder quer über die Sitzmöbel, lachten und machten dumme Witze als würden sie irgendeinen großen Sieg feiern oder irgendeine Befreiung. Tatsächlich war es mir auch in den Sinn gekommen, dass es für alle Anwesenden das erste Mal war, dass sie auf einer Party waren, die nicht damit enden würde, dass die Eltern, denen das Haus gehört, heimkommen, und wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass alle so beschwingt und freudig erregt waren. Ich konnte mir gut vorstellen, dass keiner seinen eigenen Eltern gesagt hatte, wie es wirklich war, weshalb die Situation auch etwas Heimliches hatte, was die Hochstimmung durch etwas auf eine befriedigende Weise Verbotenes versüßte.

Wer demnächst wieder über die 68er herziehen möchte: Bei Lewis nachlesen, was das zuvor für eine dumpfe, erstickende Welt war, in der man aufwuchs (und das eventuell mit dem heutigen Komasaufen vergleichen, um Rückschlüsse auf die Gesellschaft zu ziehen, die solche Ventile nötig macht).

Bei der Party beginnen die ersten Paare, sich in andere Räume zurückzuziehen. Victors sexuelle Erfahrungen beschränken sich bisher darauf, dass er ab und zu die Hand in die Unterhose von Veronica stecken durfte, die davon nicht sonderlich erregt war. Janet, die Frau mit dem Faible für das Modern Jazz Quartet und Filme wie From Here to Eternity, spricht ihm von Seelenverwandtschaft und romantischer Liebe. Dann darf er mit in ihr Zimmer gehen. Auf drei Seiten wird sein Erlebnis mit der wahren, echten, tief empfundenen Leidenschaft zelebriert. Ich kenne wenige Bücher, in denen das so gut nachvollziehbar beschrieben wird wie hier. Victor vergeht fast, als er - nach der Überwindung von Hindernissen wie einem unverrückbaren Hüftknochen und zu kurzen Armen - Janets purpurfarbene Unterwäsche und ihr Schamhaar zu Gesicht kriegt. Das Herz schlägt ihm inzwischen bis zum Hals, und darum bemerkt er nicht, dass Janet viel mehr Erfahrung hat als er (und offenbar regelmäßig mit einem anderen schläft).

Janet wünscht sich, dass Victor - wegen der Seelenverwandtschaft und weil sie etwas ganz Besonderes verbindet, nicht wegen dem schnöden Sex - in sie eindringen möge. Darüber gerät er nun vollends in Panik und muss passen. Zu Schaumkronen auf den Wellen der Leidenschaft kommt es dann doch noch, nur eben ohne Penetration. Victor tröstet sich und Janet mit dem Gedanken, dass das erst der Beginn einer wunderbaren Liebe und der Verschmelzung zweier Seelen ist. Das böse Erwachen folgt auf dem Fuß. Victor kann sein Glück noch gar nicht richtig fassen, da klingelt es an der Tür. Der späte Gast heißt Steve, ist ein paar Jahre älter und gestylt wie James Dean. In London wäre das schon überholt, in Hull ist es vermutlich der letzte Schrei. Steve ist der Freund von Janet, die er immer schlecht behandelt, was Janets Liebe keinen Abbruch tut, sie vielleicht sogar noch steigert. Nach einem Streit hat sich das Paar getrennt. Victor wurde nur zur Party und in Janets Bett gebeten, um Steve eifersüchtig zu machen und so die Versöhnung einzuleiten.

Zurück in Barton, findet Victor ein wenig Trost darin, seinen auf die Wichsvorlagen in den einschlägigen Magazinen angewiesenen Freunden eine stark geschönte Version der langen Partynacht zu präsentieren, was diese äußerst neidisch macht. Einige Tage später erhält er einen Brief von Janet. Sie würde ihn gern um Verzeihung bitten, schreibt sie, wisse aber, dass er ihr nicht verzeihen könne, es tue ihr furchtbar leid und so weiter und so fort. So ist das oft bei den Charakteren von Ted Lewis. Sie machen etwas (häufig verbunden mit einer Spielart der Sexualität), wissen von vornherein, dass es nicht richtig ist, tun es trotzdem und ergehen sich dann in Entschuldigungen, um das eigene Gewissen zu beruhigen, was meistens nicht gelingt. Der angestaute Frust entlädt sich in einer direkten oder einer sublimierten Form von Gewalt. In The Rabbit gibt es eine lange hinausgezögerte Prügelei und die Tötung des titelgebenden Hasen. Am Schluss bleibt man mit der Frage zurück, wie viel von einem Hasen Victor Graves hat, das Alter Ego seines Autors.

Kauf dir deinen Traum

Etwas schiefgegangen ist auch im Leben von Peter Knott. Das ist der Mann mit der toten Frau im Kofferraum, der einleitend erwähnt wurde. Knott (ein älter gewordener Victor Graves?) ist der Absolvent einer Kunsthochschule, wo er sich auf Photographie spezialisiert hatte. Jetzt hat er alles, was man sich nur wünschen kann, wenn man in einer bürgerlichen, finanziell gut abgesicherten Existenz die Glückserfüllung sieht: Eine Frau, Kate, die ihn liebt. Zwei Kinder. Ein schönes neues Haus in einer Wohngegend für Besserverdiener. Ein teures Auto. Die Mitgliedschaft im Segelclub. Sein Schwiegervater betreibt einen Versandhandel, der ihn schwerreich gemacht hat. Knott schießt die Photos für den Katalog, auch solche für Unterwäsche. Das wird ihm zum Verhängnis. Im Studio lebt er seine sexuellen Phantasien aus, oder zumindest versucht er es. Am erregendsten ist die Planung, weil er sich da genau ausmalen kann, wie es sein wird. Die Wirklichkeit hinkt der Phantasie hinterher. Also versucht er es stets aufs Neue.

Eileen ist siebzehn, unschuldig, arbeitet im Empfang einer Werbeagentur. Knott macht ihr weis, dass sie "Model-Material" ist, er gern Probeaufnahmen von ihr machen würde, mit Mode für die junge Dame. Erst geht es auf einen Drink in Peggy’s Bar, von da zum Studio im Obergeschoss eines alten Fabrikgebäudes, über eine steile Treppe zu erreichen. Eileen wechselt mehrfach das Kostüm, um schließlich zu erfahren, dass der nette Peter in einer Zwangslage steckt. Das Unterwäschemodel hat abgesagt, und er muss dringend die Bilder machen. Nur Körper, von der Hüfte abwärts, kein Gesicht. Eileen will ihm behilflich sein. So kommt eins zum anderen. Das ist das Szenario, das Knott mit wechselnder Besetzung der Frauenrolle immer wieder durchspielt. Später, nach der Katastrophe, wird ihn seine Gattin mit Strapsen überraschen, weil sie glaubt, dass er sich das von ihr wünscht. Die sexuelle Vereinigung befördern die Strapse nicht. Peter mag Bondage, und Bilder von Leuten in Unterwerfungspose. Ganz besonders mag er Photos, auf denen er selbst die Unterwäsche trägt, gern auch mit Höschen um die Knie.

Auf eine verquere Weise ist das seine Art von Subversion. Mit Kate hat er Geld und den sozialen Aufstieg geheiratet. Nicht nur Magazine wie Penthouse oder Kamera, auch die Unterwäschephotos im Katalog seines Schwiegervaters haben eine masturbatorische Komponente. Diese legale, gesellschaftlich akzeptierte und massenhaft verbreitete Spielart der - sagen wir - erotischen Photographie unterläuft er, indem er die in solchen Bildern steckenden Phantasien anzapft und Verbotenes, von der Gesellschaft nicht mehr Toleriertes tut. Für Knotts statusbewusste Mutter ist die Ehe ihres Sohnes mit Kate die perfekte Familienplanung. Für ihn selbst, den früheren Kunststudenten, ist sie eine bürgerliche Form der Prostitution, weil er statt einer geliebten Frau das Geld des reichen Schwiegervaters geheiratet hat und jetzt Gebrauchsbilder für dessen Versandhauskatalog macht. Darum ekelt er sich vor sich selbst. Seine Antwort: Photos mit pornographischen Posen, aufgenommen im mit dem Geld seines Schwiegervaters finanzierten Studio, mit der von seinem Schwiegervater vertriebenen Unterwäsche und mit jungen Frauen aus der Vorstadt wie Eileen, den potentiellen Kundinnen des Schwiegervaters. Das hilft ihm dabei, sein nach außen hin privilegiertes Leben als sich prostituierender Schwiegersohn zu ertragen. Und es verschafft ihm den ganz besonderen Kick, weil er - zumindest in Gedanken - "das fade Unterbewusstsein des großen Katalogmarkts aufwühlt", wie er es nennt, "das Publikum, das ich mit den Verbrämungen meiner eigenen Hochglanzphotographien erreichte".

Ziemlich viel Brimborium, könnte man nun einwenden, um zu beschönigen, dass einer Minderjährige in sein Studio lockt, um sie sexuell zu missbrauchen. Lewis würde vermutlich nicht widersprechen. Das ändert nichts daran, dass das eine wichtige Motivation für das Handeln von Peter Knott ist: Ekel vor sich selbst und vor einer Gesellschaft, in deren Villenviertel er eingeheiratet hat, ausagiert durch Sexspiele, welche die Mehrheit als eklig empfinden würde, gespiegelt in der Warenwelt des Versandhauskatalogs. Anordnungen wie diese machen die Bücher von Ted Lewis so abgründig. Keine Angst, sagt Knott zu Eileen, als er sie in die Falle lockt. Auf den Photos für den Katalog sieht man nur die angepriesenen Unterhosen und deine Beine, kein Gesicht. Frauen auf ihre Körperteile zu reduzieren, das ist eine mögliche Definition von Pornographie. Gern würde ich einen Lewis-Krimi mit einem Protagonisten lesen, der für eine TV-Sendung wie Germany’s Next Topmodel arbeitet. Das könnte interessant werden.

Die Rolle der Medien beim Verarbeiten und Kommerzialisieren unserer Wünsche und Träume, beim Umformatieren in leicht konsumierbare Häppchen - Ted Lewis ist dem immer wieder nachgegangen, hat die Schattenseiten medial ausgelebter und verkaufter Phantasien erforscht, sich den Schnittstellen zwischen Fiktion und Wirklichkeit genähert und nie angehalten, wenn es unangenehm wurde. In Anatomy of a Pin-Up sagt Bob Guccione, der Penthouse-Gründer, die Photoserie in seinem Magazin sei der logische, fast unerlässliche erste Schritt in einer Karriere als Model oder Schauspielerin. Was aber, wenn nicht? Was, wenn es bei der ausklappbaren Wichsvorlage bleibt oder zu der Sorte von bewegten oder starren Bildern führt, die man eher nicht mit Audrey Hepburn assoziiert? Was für Leuten begegnet man, wenn die Reise - wie in Jack’s Return Home - da endet, wo bei Onkel Walt, im Disney-Reich, die schöne Leinwandwelt beginnt und man doch nur eine Version der Hölle findet?

2. Teil: 2+1=1: Die Welt als Filmrolle

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