Der Neuen Mitte fehlt es an Neuem
Die Vordenker der neuen Regierung zwischen Aufbruch, Balance, Wiedergeburt und Scheitern
Nach dem Austausch der Politiker werden nun in Bonn fieberhaft Ansätze zu einer neuen Politik jenseits von Marktliberalismus und Staatsdirigismus gesucht. Weisen die in Buchform verewigten Ideen der "Think Tanks" die Richtung?
Das gesellschaftliche Modell des Sozialismus ist tot, doch die Idee der sozialen Gerechtigkeit erhält momentan wieder Aufschwung - zumindest zierte sie die Fahnen, mit denen die Blairs und Schröders ihre Wahlen gewonnen haben. "Turbokapitalismus" und Neoliberalismus haben dagegen durch die von der Asienkrise ausgelösten Erschütterungen Federn lassen müssen und sind wieder ins Gerede gekommen: Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann etwa erklärt die Wende diesmal nicht mit der "Schweigespirale", sondern mit der Wahrnehmung einer sich ausweitenden "Gerechtigkeitslücke", die viele Bundesbürger ihrer alten Regierung angelastet hätten. Eine Mehrheit der Wähler entschied sich daher für den angekündigten "Aufbruch", für den "Politikwechsel", für ein "Umdenken" und für eine "neue Politik".
Die Menschen wollen wieder zusammengeführt werden unter einer Idee, einer Vision, die wir morgen leben wollen.
Bodo Hombach
Die politische Linke, die nach Selbstbeschreibung nicht mehr links, sondern eben "Mitte" sein will, hat zur rechten Zeit die Stimmung im Volk - die letztlich vielleicht nichts anderes als eine gewisse "Kohlmüdigkeit" war - erkannt und mit Hilfe ihrer Marketingstrategen die richtigen Begriffe publicity-orientiert verstreut. So gesehen hat die "Neue Mitte" ihre jetzt errungene Macht nicht erkämpfen müssen, sie ist ihr zugefallen.
Die Sprachherrschaft in der unmittelbaren aktuellen Politik erwirbt, wer die Wortfelder besetzen kann, in denen die tagesfälligen Konflikte ausgetragen werden. Wer hier den anderen die Worte vorschreiben oder vorreden kann, hat schon gesiegt
Helmut Schelsky
Doch die eigentliche Arbeit und die tatsächliche "Besetzung" und inhaltliche Auffüllung der Begriffe fängt damit erst an. Noch ist Gerhard Schröders "Neue Mitte" eine Leerformel, die vor allem im Wirtschaftsbereich durch Steuersenkungen auf der einen Seite, Wegfall von Steuerbegünstigungen auf der anderen, einer der ausgemachten Zielgruppen, dem Mittelstand, den Angstschweiß auf die Stirn treibt. Eine klare Linie ist nach den ersten Wochen der neuen Regierung jedenfalls nicht zu erkennen: "Es fehlt die Politik, die zur Rhetorik paßt" konstatiert Die Zeit (47/98). Viel Neues, das über die "Keine Angst vor der Globalisierung"-Parolen Oskar Lafontaines und die entsprechenden Versuche, den Markt und die globale Wirtschaft "in den Griff zu bekommen", hinausgeht, läßt sich nicht erkennen. Aus britischer Perspektive sieht das Programm Schröders, so der Kolumnist Stephan Pollard in der Zeit (45/98), sogar "entschieden nach Old Labour aus".
Der Dritte Weg biegt nach rechts ab
Als Vorreiter einer wie auch immer gearteten, den "Dritten Weg" beschreitenden neuen Mitte-Linken hatte Tony Blair bereits anderthalb Jahre Zeit, das Neue an New-Labour zu definieren und damit Modelle auch für eine europäische Politik der "linken" Kräfte zu setzen. Dabei hat er für Überraschungen gesorgt. Blair habe bewiesen, daß er tatsächlich für etwas "ganz anderes" stehe, meint Pollard: "In gewisser Hinsicht hat er sich rechts von vielen britischen Konservativen plaziert - auf jeden Fall rechts von seinem Vorgänger, John Major." Härte gegenüber der Kriminalität, Kürzungen bei der Sozialhilfe und den Ausgaben für das Gesundheitssystem, Offenheit gegenüber den Bedürfnissen der Geschäftswelt - Strategien, die Margaret Thatcher alle Ehre machten. Und alles im Glauben "an die Macht der Regierung, Gutes zu tun." Ein Modell für Schröder? Vielleicht. Allerdings sicher kein Vorbild für Oskar Lafontaine.
Auch im restlichen Europa finden sich wenig Ansätze für einen gemeinsamen und beflügelnden Begriff oder gar eine soziale Vision, die einer möglicherweise anlaufenden "Links-in-der-Mitte-Ära" ein eigenständiges und unverkennbares Profil geben könnten. "Die Messieurs Blair, Jospin und Schröder hatten niemals originelle Ideen. Diese Männer haben keine Weltanschauung, sie können nur die Administration pflegen", urteilte jüngst das Time-Magazine (42/98). Jenseits des Atlantiks möchte man also nicht einmal den "Dritten Weg" des britischen Premiers als "neu" gelten lassen und übt dadurch (un-)bewußt auch Kritik am eigenen Präsidenten, denn Bill Clinton war zumindest anfangs in vieler Hinsicht Vorbild für Blair - die privaten Affären ausgenommen. Ob in England, Frankreich, Schweden oder Deutschland - überall ist die Essenz der "neuen" Politik letztlich ein Heranpirschen an den Markt, ein vorsichtiges Verkünden der Notwendigkeit von mehr Eigenverantwortung der Bürger im sozialen und mehr Selbständigkeit im wirtschaftlichen Bereich.
Die Renaissance der Politik aus bürgerlichem Geiste?
Aber vielleicht ist das schon das ganze "Neue"? Die Staatsverantwortung zurückzudrehen galt schließlich lange als vollkommen "unlinks". Doch nun ist die Entdeckung der "überlegenen Kraft des Marktes als dem effizienten Mechanismus zur Herstellung und Verteilung von Gütern" das Gebot der Stunde, schreiben Hubert Kleinert und Siegmar Mosdorf in ihrem Buch über die Renaissance der Politik, auch wenn das "manchem aus der Linken Überwindung" abverlange. Der Staat könne nicht mehr als "Rundumfürsorger" und "allzuständig" angesehen werden.
Leitbild einer neuen Politik sei die "Teilhabegesellschaft", die neue "Möglichkeitsräume" für bürgerliches Engagement im "kommunalen Nahbereich" schaffe. Die "Kräfte gesellschaftlicher Selbstorganisation" würden dabei zugleich als "Begrenzung der Herrschaft des ökonomischen Systems" dienen. Dazu müsse diese "Bürgergesellschaft" allerdings in "transnationale Ordnungsrahmen" und "netzwerkförmige Verhandlungssysteme" eingebettet sein. Europa sei auf diesem Weg bereits am weitesten fortgeschritten und könne daher "auch im globalen Rahmen zum Motor einer Renaissance der Politik" werden.
Wenn Staat, Markt und Gesellschaft gleichermaßen das Zusammenleben von Gesellschaften strukturieren, kann es im Staatsverständnis einer modernen Linken nicht mehr um die einfache Entgegensetzung von Markt und Staat gehen, sondern um Mischung und Synergie der drei Ordnungselemente Markt, Staat und Gesellschaft... Die Perspektive ist der Bürgerstaat.
Hubert Kleinert und Siegmar Mosdorf
Doch was ist an der Wiederentdeckung der bürgerlichen Marktgesellschaft in neuem, globalisierungsfähigem Gewand noch in irgendeiner Form "links"? Und ist die von allen Seiten geforderte Rückschraubung der Zuständigkeiten des Staats wirklich mit dem Aufblühen einer neuen Politik gleichzusetzen, wie es der Begriff der Renaissance nahelegt? Kleinert und Mosdorf sprechen zwar von "neuer Politik für Deutschland", sie versuchen, das "Wesen des Neuen auszumachen": Globalisierung, mehr Wirtschaft, weniger Staat, Nachhaltigkeit und etwas digitale Revolution. Doch die 40 "Thesen zur Reform der deutschen Politik" wirken wie von der Stange, kaum ein bekanntes Stichwort fehlt.
Der Idealtyp des Menschen der neuen Mitte orientiert sich am Durchschnitt der menschlichen Lebensgestaltung, der staatsbürgerlichen Gewohnheiten und Verhaltensweisen... Steht dieser Menschentyp am Ende durchschnittlich begütert da, so die Logik dieser Ideologie, war die Politik gut und richtig - aber im Grunde eben selbst nur Durchschnitt.
Martin Hecht in der Süddeutschen Zeitung vom 23.10.98
Wie mit Forderungen wie "vorhandene Rückstände bei Spitzentechnologien abbauen", "Innovationsschwächen der Wirtschaft überwinden", dem Ruf nach einem "Selbstständigengesetz", "aktivem Klimaschutz" oder "kommunaler Eigenverantwortung" und weiteren 35 Ladenhütern dieses Kalibers eine "Wiedergeburt der Politik" möglich werden kann, bleibt das Geheimnis der Autoren. Sicherlich sind diese Vorschläge alle sinnvoll und wertvoll zur weiteren Verfeinerung und Novellierung. Doch sie fordern letztlich nur Überfälliges ein, ohne echte Modelle und Leitbilder für die gesellschaftliche Zukunft zu formulieren. Mit Metaphern, die ihre Zukunft schon hinter sich haben, wie die der technischen, sozial kalt bleibenden "Informationsgesellschaft", läßt sich schließlich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr "viel Staat" machen.
Zumal, wenn gleichzeitig wichtige Aspekte des Menschseins in einer vernetzten Gesellschaft - wie etwa der Schutz der Privatsphäre und damit auch das Recht auf Verschlüsselung der Kommunikation - von Kleinert und Mosdorf genauso wenig wie von der "offiziellen Politik" beachtet, sondern nur von einer Gruppe von "Bürgerrechtlern" - der Begriff korrespondiert hier nur zum Teil mit der gerade beschriebenen "Bürgergesellschaft" - und den Datenschutzfürsten der Länder zwischen Düsseldorf und Berlin eingeklagt werden. Ein "Eckwert-Papier" für einen "modernen Datenschutz" haben Ute Vogt und Jörg Tauss zwar für die SPD-Fraktion erstellt und damit parlamentarische Grundlagenarbeit geleistet. Doch im Bonner Alltagsbetrieb und während der Vorbereitung der Europäischen Kommission auf die Einrichtung übergreifender Abhörsysteme (ENFOPOL-Special) ist der Entwurf schnell wieder in der Schublade gelandet.
Aufbruch in die PR-Politik
Andere "Vordenker" aus Schröders neuer Regierung suchen die Modelle für die "Neue Mitte" bei traditionellen Wirtschaftspolitikern: Bodo Hombach baut vor allem auf Ludwig Erhard. Der Kanzleramtsminister läßt in seinem Buch Aufbruch. Die Politik der Neuen Mitte erkennen, daß es ihm vor allem um Aufbruch, aber auch um nicht viel mehr geht. Doch ohne Zielvorgabe läßt sich der eigene Anspruch zur Erneuerung kaum erfüllen und wird spätestens dann einknicken, wenn es nach dem allgemeinen Stürmen und Drängen darum geht, tatsächlich "die Gesellschaft zusammenzuführen, die gedanklich-kulturelle Spaltung zu überwinden, in die unser Land geraten ist", wozu Schröder in seiner Regierungserklärung sich selbst und sein Kabinett ermahnt hat.
Sich auf Problemlösungen zu konzentrieren, dabei alle Beschlußlagen zu vergessen und alles auf den Prüfstand zu stellen, was uns in der blockierten Gesellschaft zusammenhält - allein das ist wirklich moralisch.
Bodo Hombach
Doch der Minister bleibt in seinem Buch eine Antwort nach dem "Neuen" schuldig. Er schreibt viel davon, aber letztlich arbeitet er doch nur seinen Zettelkasten ab. Er faßt - geschickt und für einen Sozialdemokraten gewagt - zahlreiche aktuelle Studien der letzten Zeit zusammen, genug, um ein lesenswertes und faktenreiches Buch zu füllen, das dann pünktlich zur Endphase des Wahlkampfes geschickt plaziert wurde. Hombach ordnet Gewohntes um und benennt es neu. Er setzt auf eine neue Ordnung, eine intelligente Zuordnung von Strukturen, Regeln, Politikthemen und "Leuten". Deutlich präferiert er dabei ein rein rationales Handeln und erkennt letztlich nur das wissenschaftlich Generierte als neu an, wobei es zur Aufgabe der Politik wird - so der Wunsch von Hombach - die gesellschaftlichen Fragen und Objekte kooperativ und aktivierend zu disponieren. Aber was das Neue eigentlich ist - wenn es denn mehr sein soll als gut getimte PR - bleibt auch hier unklar.
Das Neue als das Andere an sich
"Der Ursprung des Neuen kann nur das Vergessen der kulturellen Traditionen und der Verzicht auf die Summe der Vorurteile, toten Konventionen und überlebten Formen sein sowie die Verkündigung des Anderen an sich", schreibt Boris Groys in seinem Buch Über das Neue.
Das wäre zunächst ein radikaler Maßstab des Neuen, der das geschickte "Herumhantieren" mit vertrauten Themen, das auf der Stufe von "Neu-Arrangements" stehen bleibt, nicht akzeptiert. Das Neue zielt nach Groys auf das Werdende, nicht auf das schon Gewordene, und es hat den oder die Handelnden mit einzuschließen. Das aber hätte Konsequenzen, zumindest erst einmal in der Erkenntnis, daß die "Neue Mitte" zwar ihre Absichten als "Neues" verkündet, aber damit offenbar nur das intelligente Festhalten an der Tradition meint, also wissentlich oder ungewollt nur Neues vortäuscht. Wird die "Neue Mitte" so zum Gefangenen ihrer eigenen hohlen Rhetorik? Dreht sie sich nur im Zirkel ihres eigenen Anspruchs ohne zu erkennen, daß das Neue vielleicht gar nicht aus den geschlossenen Arenen des politischen Alltags, aus den bereits gegrabenen und bekannten Kanälen, also des Vertrauten, kommen kann?
Neues tritt nur dort auf, wo es zu seinem Bruch mit den bestehenden Routinen kommt
Ekkehard Kappler und Thomas Knoblauch in dem von ihnen herausgegebenen Buch Innovationen - wie kommt das neue in die Unternehmung. Gütersloh (Bertelsmann Stiftung 1996)
Doch nicht jeder will die Bonner Politiker, denen zumindest zum Teil durch den Umzug nach Berlin bald eine andere Luft um die Nase wehen wird, im eigenen Saft schmoren lassen. Wolf Michael Catenhusen scheint die Problematik erkannt zu haben: "Offenbar ist es so, daß neue Anstöße nicht aus dem politischen Alltag kommen können, sondern von außen kommen müssen", gab der neue Bildungs-Staatssekretär während der Vorstellung eines Insider-Romans über die Bonner Republik von Otto Ulrich zu Bedenken. Der Staatsbesuch kann tatsächlich als eine Art Gegenentwurf zur auseinanderfallenden Gesellschaft gelesen werden, als literarische Begleitung des "Neuen", in der die Grenzen zwischen Dichtung, Traum und Wirklichkeit verwischen.
Sozialprinzip der Verständigung
Der äußere Rahmen dieses Plädoyers für eine Wiederentdeckung einer "Kultur der Höflichkeit" und einer neuen gesprächsbereiten Gesellschaft ist auf der Handlungsebene relativ eng gesteckt; die Zeitschiene ist dagegen offen gehalten, dem Leser bleibt es überlassen, ob er die Rahmenhandlung als Zukunftsvision oder metaphorische Gegenwartsbeschreibung entziffert: An einem überaus heißen und dürren Tag - der Rhein ist ausgetrocknet - bewegen sich ungeheure Menschenmassen unterschiedlicher sozialer Schichten in Bussen auf das Bonner Kanzleramt zu. Der trockene Rhein steht dabei für die gesamte Politik, die stagniert, weil ihre Ideenquellen verstopft sind: "Die Nation ist ein Pflegefall".
Die Bannmeile haben die Massen schnell durchbrochen. Doch dann werden die Maschinenpistolen auf der anderen Seite in Anschlag gebracht. Ein politischer GAU ist Wirklichkeit geworden, der noch an Schärfe gewinnt, da ein hoher Staatsgast erwartet wird: Der rote Teppich ist ausgerollt, die Kapelle der Bundeswehr aufmarschiert. Das Szenario erinnert an das Becketsche Warten auf Godot: Keiner weiß, welcher "Staatsbesuch" sich angemeldet hat, deutlich wird nur, daß es kein Gast aus Fleisch und Blut ist, eher eine Idee, eine Utopie: Letztlich, so wird beim Weiterlesen deutlich, ist es die ästhetische Ebene, die (Rede-) Kunst und Gesprächskultur, von der sich Ulrich eine Belebung des ausgetrockneten politischen Bunkers verspricht.
Der Autor wendet für die Ausgestaltung seiner These selbst eine in Vergessenheit geratene Kunst an: die des philosophisch-politischen Dialogs. Ulrich, der in seinem "Nebenberuf" beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Technikfolgen-Abschätzung betreibt und seit Jahren das Bonner Parkett beobachtet hat, läßt "Zukunftsminister", Polizeipräsidenten und frustrierte Arbeiter ins Gespräch kommen und gewährt Einblicke in ihre Gedankenwelten. Heraus kristallisiert sich eine Art Sozialprinzip der Verständigung, eine (Wieder-) Entdeckung der Gesprächskultur.
Ein Wink mit dem Zaunpfahl für Schröder und Co, denn gerade in der Ära der neuen Bundesregierung wird es darauf ankommen, Verständigungen über Grenzen von Interessen, Erfahrungen und Weltbildern hinweg zu "kultivieren". Beispiele sind mit großen Erwartungen belastete "Bündnis für Arbeit", der versprochene neue bildungspolitische Dialog, die "Moderation des neuen politischen Paktes", die sich die Erreichung der "beherzt voranzutreibenden inneren Einheit Deutschlands", so Schröder, zum Ziel gesetzt hat. Man könnte die Aufgaben der "Neuen Mitte" auch noch weiter fassen: Dereinst wird sich die europäische Linke wohl daran messen lassen müssen, ob es ihr gelungen ist, den Westen mit dem Osten und den Norden mit dem Süden in ein versöhnendes, universell verbindendes wie verbindliches Gespräch gebracht zu haben.
Die "4-Augen-Gesellschaft", die "Demokratie hinter verschlossenen Türen" die Hombach in seinem Buch so beklagt und nun - selbst an der Macht - wieder einführt, könnte durch die "neue Politik" im Sinne des Sozialprinzips der Verständigung eine kulturelle Dimension erhalten: Ulrich dringt darauf, Kultur und Kunst nicht länger als verzierenden Überbau, sondern als eigentliche Ressource des Wandels wie der Erneuerung zu begreifen. Wenn es im Roman heißt, "es ist die Kunst als Therapie, die uns davor schützt, nicht steckenzubleiben", dann zielt das auf eine politische Ästhetik, auf einen anderen "Aggregatzustand" der Wahrnehmung von Gesellschaft, die eine Wiederaneignung der sozialen Kompetenz zur Öffnung für gemeinschaftsbildende Gespräche möglich machen könnte. Will Politik dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit entsprechen, braucht sie nach Ulrichs Meinung ein ästhetisch aufbereitetes, also für Ungerechtigkeiten empfindsames Umfeld.
Ein solches Terrain zu schaffen, so die Andeutung des "Staatsbesuchs", könnte die eigentliche Chance und Herausforderung für die "Neue Mitte" sein. Vorsicht ist aber auch hier geboten, denn die von Ulrich geforderte "Kunstpflicht für jedermann" könnte genauso schnell in eine "Staatskunst" sozialistischen Ausmaßes zurückfallen. Und das wäre schließlich auch nicht das Neue.
Hombach, Bodo (1998): Aufbruch. Die Politik der Neuen Mitte. München (Econ Verlag)
Kleinert, Hubert/Siegmar Mosdorf (1998): Die Renaissance der Politik. Wege ins 21. Jahrhundert. Berlin (Siedler Verlag).
Ulrich, Otto (1998): Der Staatsbesuch. Oktaven einer neuen Politik. Egelsbach (Fouque Literaturverlag). 6