Der Philosoph, der "Kuckuck" ruft

Seite 2: Die entspannte Angst

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Žižek versäumte in seinem Vortrag auszuführen, wie sich das Potential an unbestimmter Wut mit nur einem Minimum an Organisation zu einer Geschlossenheit formiert, die sich rückwirkend durch die ausgeschwitzten Feindbilder definiert. Die Parteiführer, die auf diesen Zug der Wut aufspringen und ihn organisieren, stehen vor ungeahnten Aufgaben, wenn die Rebellion erfolgreich war. Im Programmzettel beschreibt Žižek das anekdotisch für die kommunistische Partei:

Lenin und Trotzki unterhalten sich am Vorabend der Oktoberrevolution. Lenin: "Was passiert mit uns, wenn wir scheitern?" Darauf Trotzki. "Und was passiert mit uns, wenn wir erfolgreich sind?"

Žižek

Es hört sich fast beruhigend an: Parteien egal welcher Couleur, die aus sozialen Strömungen oder Stimmungen entstehen, machen einen Prozess der Bürokratisierung und der Autokratisierung durch, wenn sie an die Macht gekommen sind. Aber Verlass ist auf dieses parteiensoziologische Gesetz nicht. Die anderen Varianten: Entweder die Partei versetzt nach der Machtübernahme das Volk in einen Zustand permanenter Mobilisierung, oder es entsteht, sofern die etablierte Parteiorganisation von der Bürokratisierung zur Pfründenakquisition übergegangen ist, aufs Neue eine kollektive Wut. Denn die Befreiung mündete in neue Herrschaft.

Die Schüsse von Sarajewo lösten den Ersten Weltkrieg aus. Bild, Bild: Achille Beltrame/public domain

Wiederholt sich die Geschichte? Fast klingt es so bei Žižek, wenn er in die vulgärmarxistische Mottenkiste greift und mal einen starken Staat mit restaurativer Ordnungspolitik, mal die finale Katastrophe herbeizitiert, welche erst die Revolution auslösen kann. Er scheint da unentschlossen zwischen "Diktatur des Proletariats" und Anarchismus. Auch seine Forderung nach der Kontrolle der Produktionsmittel durch die Abhängigen und Ausgebeuteten ist nicht ganz neu.

Leiser, gleichsam existentialistisch, wurde Žižek in seinem Vortrag, als er auf die gegenwärtige Stimmung der Gesellschaft kam. Es herrsche ein Klima wie am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Alle sprachen damals über den Krieg, aber keiner tat etwas. So kam denn der Krieg. Walter Benjamins Aphorismus trifft auch auf diese apathische Situation zu: Dass es "so weitergeht", ist die Katastrophe.

An diesem Punkt bezeichnet Žižek sich als Fatalisten. Die Vergangenheit sei offen, aber die Zukunft ist verhängnisvoll geschlossen. Nur wissen wir nicht, welcher Art der Schluss ist, der auf uns zukommt. So schloss Žižek. Die Frage bleibt, ob es sich in dieser Ungewissheit nicht ganz gut leben lässt. Leben mit einem entspannten Verhältnis zur Angst.

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