Der Raum, die Zeit, die Wahrheit und der Tod
In Luzern sprach man beim Symposium "Raum, Zeit und Jenseits" über das, was die Menschen wirklich interessiert. Oder doch daran vorbei?
Raum, Zeit und Jenseits war das Thema des diesjährigen, mittlerweile bereits fünften Symposiums zu Wissenschaft, Technik und Ästhetik im Luzerner Theater, das von René Stettlers Neuer Galerie Luzern im Zwei-Jahres-Rhythmus organisiert wird. Eine Veranstaltung, die einerseits mit erstaunlicher Beharrlichkeit die Flaute im allgemeinen Symposiums-Tourismus überlebt hat, die andererseits aber auch gerade heuer alles andere als unproblematisch war. Zum einen, was die zunehmende Mär von der Interdisziplinarität anbelangt, zum anderen und vor allem auf Grund eines deutlichen Verständlichkeitsproblems von englischsprachig dargebotenem quantenphysikalischen Formelkram vor einem großteils nicht in Physik geschulten Publikum.
Es gibt ein Leben vor dem Tod.
Laibach
Wer auf eine Konferenz mit dem hochmetaphysischen Titel "Raum, Zeit und Jenseits" fährt, der kommt mit Erwartungen in Form von Fragen. Und er darf sich bei einem Eintrittspreis von immerhin 90 Schweizer Franken (umgerechnet 65 Euro) wohl auch Antworten erwarten. Oder zumindest eine ohne viel spezifisches Kontextwissen verständliche Erörterung von fundamentalen Problemfeldern unserer Existenz - also von dem, was wir normalerweise ausblenden müssen, um in unserem Alltag nicht verrückt zu werden.
An Fragen der folgenden Art wäre zu denken: 'Gibt' es eine Welt jenseits von Raum und Zeit? Ist unsere Welt die ganze Welt, oder 'gibt' es eine übergeordnete Sphäre jenseits des kartesischen Gefängnisses, und treten wir etwa in diese nach dem Tod ein? Und so fragte mich auch ein Kollege, nachdem ich von der Konferenz zurückgekehrt war: "Und, gibt es ein Leben nach dem Tod?"
Doch vielleicht hätte ich, der mit schwerem metaphysischen Ballast und einer ebenso großen Erwartungshaltung nach Luzern gereist bin, den Konferenztitel genauer lesen sollen: "Raum, Zeit und Jenseits" stand da auf der Einladung, und das "und Jenseits" war durchwegs kursiv geschrieben. Die Doppelbedeutung hatte ich zunächst wohl überlesen: Da geht es also nicht nur um das Jenseits von Raum und Zeit, von dem wir offensichtlich nichts wissen (und einige sagen, wir wissen nicht einmal das), sondern das Jenseits kann auch Sachverhalte meinen, die über das Thema Raum und Zeit hinausgehen, also thematisch (und nicht raumzeitlich) jenseits von Raum und Zeit liegen. Rückblickend beschleicht mich das Gefühl, dass an beiden Tagen vor der ansonsten prächtigen Kulisse Luzerns vor allem über letzteres geredet wurde.
Buddhismus und Ayahuasca: Zwei Wege ins non-duale Jenseits?
"We have arrived", sagte der amerikanische Buddhismus-Forscher und -Praktiker Alan Wallace. Gemeint hat er (als einziger während der gesamten Konferenz?) dieses ominös bleibende Jenseits der ersten Art. Ihm ging es um die Unterscheidung von echten und falschen Vakuum-Zuständen des Bewusstseins im tibetanischen Buddhismus. Denn wer meint, er solle jetzt einmal an rein gar nichts denken (und schließlich auch noch aufhören, an dieses Denkverbot zu denken), der ist noch lange nicht in jenem "absoluten Raum der Phänomene", dem dharmadhatu angekommen, in dem sich die Welt als Non-Dualität (von Innen und Außen, von Geist und Materie) offenbart.
Aber bitte, reden wir bloß nicht darüber! Die meisten Erfahrungen eines Jenseits von Raum und Zeit sind nämlich unkommunizierbar und deshalb mit den herkömmlichen Methoden der empirischen Sozial- und Naturwissenschaft nicht zu erfassen. Alan Wallace hat diese Reibung zwischen Buddhismus und moderner Physik schön herausgearbeitet, und sein Vortrag war wohl der mystischste und schönste der gesamten Konferenz.
Der Psychologe Benny Shanon (Universität von Jerusalem) hat da schon etwas mehr Vertrauen in Empirie, wenn er es wagt, Erfahrungen zu systematisieren, die unter dem Einfluss der in der Amazonas-Region weit verbreiteten Droge Ayahuasca gemacht wurden. Shanon kommt aus der Linguistik, und so darf es wenig verwundern, dass er veränderte Bewusstseinszustände vor allem semantisch deutet.
Seine Versuchspersonen sahen, so berichtet er, nicht etwa ein Ding (etwa ein Auto), sondern vielmehr das Ding. Shanon verglich dies mit der platonischen Ideenwelt, doch auch Kants Ding an sich drängt sich auf. Erlaubt Ayahuasca einen Blick in die Welt jenseits von Raum und Zeit? Diese Frage wurde nicht beantwortet; und Shanon betonte mehrmals, dass er nur über die kognitive Innenwelt seiner Versuchspersonen erzählen würde. Schon hier also bereits Sense mit der Metaphysik.
Die Vergangenheit unter Artenschutz oder: Warum ist der Zeitpfeil so unbarmherzig?
Hat uns, die metaphysisch Fragenden, der Buddhist nur partiell und der Drogenforscher schon gar nicht mehr befriedigt, so waren es einmal mehr die Physiker, die zwar die grundlegenden Fragen durchaus angerissen haben, aber uns die Antworten konsequent schuldig geblieben sind. Ein Zitat des vor zwei Jahren verstorbenen Neurobiologen (und Buddhisten!) Francisco J. Varela kann als Motto der gesamten Konferenz gelesen werden:
"Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Antworten zu zerstören, sie bietet aber keinen Ersatz."
Wie gesagt, die Fragen wurden gestellt (und die Antworten vermieden): Warum können wir uns nur an unsere Vergangenheit erinnern, nicht aber an die Zukunft (wenn ich mich recht erinnere, hat das einmal Peter Weibel im Kontext der Endophysik gefragt)? Die Schweizer Quantenkosmologin Ruth Durrer hinterfragte zwar sehr wohl den immer für selbstverständlich gehaltenen zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, die Zunahme von Entropie (Unordnung) in einem System: Warum zum Teufel löst sich das Stück Zucker im Tee immer auf, und warum hat noch kein Mensch in unserer Welt das Gegenteil beobachtet - aufgelösten Zucker, der wieder zum Würfel wird?
Und der neuseeländische Mathematiker Matt Visser, der immerhin einen überaus spannenden Vortrag zur Möglichkeit von Wurmlöchern und Zeitreisen hielt, ergänzte ganz ähnlich:
"Warum kann man, wenn man ein Buch schreiben will, sich nicht die Files aus der Zukunft mailen, aus einer Zeit, als man das Buch schon geschrieben hat?"
Offensichtlich gibt es da etwas, was Stephen Hawking als "chronology protection principle" bezeichnet. Das, was geschehen ist, die Vergangenheit, ist vorbei und irreversibel. Dead and gone. Eigentlich schade. - Wie gesagt, das waren die Fragen. Die Antworten wurden nicht gegeben oder gingen im bruchstückhaften Taumel von Formeln auf Overhead und Powerpoint unter. Dabei wären ja nicht nur quantenkosmologische Antworten (Hawking, Smolin) möglich gewesen, sondern auch sprachphilosophische (wie etwa z.B. jene, dass die Fragen falsch gestellt sind) oder aber neurobiologische (wie etwa jene, dass die Möglichkeit, solche Fragen überhaupt zu denken, eine Art Überschussproduktion unseres Neocortex ist).
Also: Stimmt unsere Vorstellung von Zeit als irreversiblen, in die Zukunft zeigenden Pfeil, wobei die Vergangenheit in der Erinnerung abgelegt wird und die Zukunft immer unbekannt bleiben wird? Oder sollen wir diese Selbstverständlichkeit, über die man höchstens einmal in persönlichen Lebenskrisen oder im philosophischen Spektrum von Existenzialismus bis zu Prozessphilosophie nachdenkt, konsequenter als bislang hinterfragen?
Mit der Inbrunst einer der bedeutendsten wissenschaftlichen Revolutionen des Abendlandes schlug der kanadische Walforscher Peter C. Beamish vor, Zeit im Kontext der Erforschung von "rhythm based communication" als Horizontal- und Vertikalachse in einem dreidimensionalen Kontinuum zu definieren, das er als "ESSOS" (Event Space Sphere or Spheroid) bezeichnete. In diesem 'drehe' sich die Zeit, gleichsam einem Kugelschreiber, den man mit der Hand um die eigene Achse drehen kann.
Ich gestehe: Ich habe die Ausführungen von Beamish nicht verstanden - und möchte jedem gratulieren, der einen allgemein nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen seinen Versuchen zur rhythmusbasierten Kommunikation mit Walen (der Pavlovsche Hund ließ nicht nur einmal grüßen!) und der mathematischen Formel jener 'neuen' Längs- und Querzeit, der sogenannten Kitada-Zeit, herstellen kann. Mein persönlicher Verdacht ist, dass hier nicht etwa empirische Beobachtungen zu einem neuen Zeit-Konzept geführt haben, sondern vielmehr eine neue Formel für Zeit, bereits vorab von Kollegen rein mathematisch deduziert, empirischen Tierbeobachtungen übergestülpt wurde. Wie gesagt, lediglich ein Verdacht.
Der Pulsschlag des Kosmos
Time is but a memory.
Beth Gibbons
Und überhaupt: Die Eigenwelt der Mathematik. So ziemlich jeder Mathematiker und Physiker, der auf der Konferenz referierte, hatte seine eigene Definition von Zeit mitgebracht - unterstützt von mannigfaltigem, für Laien großteils völlig unverständlichem Formel- und Gleichungskram, wobei von Segal bis zu von Neumann viele Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts bemüht wurden (es muss betont werden, dass sich diese Konferenz nicht an ein Fachpublikum richtete!).
Für den Physiker David Ritz Finkelstein etwa ist Zeit "a composite rotation in N orthogonal planes". Eine Definition, die zwar quantenphysikalisch sicherlich irgendwie kohärent sein mag, aber auch so blutleer ist, dass einem erneut obiges Varela-Zitat in den Sinn kommt.
Doch was ist nun Zeit? "The pulse beat of the cosmos", hieß es dann wieder etwas sehr metaphorisch-blumig beim Fachkollegen Basil J. Hiley. Definitionen von Zeit, die an Erinnerung oder an Veränderung gekoppelt werden, wurden kurioserweise vom Publikum wiederholt erwähnt, von den Referenten aber nicht aufgegriffen. Spekulationen über die Zeit als vierte Dimension, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Charles Hinton, P. D. Ouspensky und Claude Bragdon entwickelt wurden und ein Schlupfloch in eine Welt jenseits des dreidimensionalen Raumes über mathematische Analogiebildung andachten, kamen nicht zur Sprache. Interessanterweise wurde nicht einmal Stephen Hawkings Theorie der Zeitkrümmung im Big Bang in Abkehr von der Auffassung einer Anfangssingularität erwähnt. Hätte man andere Leute einladen müssen?
Alexander Kluge hätte wohl auch viel zur Zeit zu erzählen gehabt, und vermutlich hätten viele Besucher mit seinem Film "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" mehr anfangen können als mit den Filmbeispielen der beiden (Quoten-?)Künstler des Symposiums, von Michael Snow und Char Davies. Ersterer widmete sich (in einem zwar durchaus trickreichen Spiel!) der Ununterscheidbarkeit von Dokumentation und Fiktion, und letztere führte ihre beiden Virtual-Reality-Installationen "Osmose" und "Ephemere" vor. Warum nur eine Filmpräsentation erfolgte, aber beide Installationen nicht vor Ort mit Datenhelm und -handschuh ausprobiert werden konnten, bleibt ein Geheimnis des Veranstalters. Ebenso, was beide Kunst-Präsentationen nun wirklich genuin mit Raum und Zeit zu tun hatten. Oder andersrum gefragt: Hat nicht jeder (Medien-)Künstler auch irgendwie mit Raum und Zeit zu tun, und schon gar mit Themen jenseits davon?
Zum Schluss, wie immer: Die Wahrheit und der Tod
Vielleicht sind die oben erwähnten Desiderate auch Esoterik, Pseudo-Wissenschaft oder sonstiger Schabernack, der von der avancierten Quantenphysik bereits hinter sich gelassen wurde - der Rezensent ist kein Mathematiker und auch kein Physiker, sondern nur ein interessierter Journalist. Doch mir sagt die wiederholte Lektüre von Ouspenskys "Tertium Organum" tausend Mal mehr über Raum und Zeit als David Finkelsteins Konstrukt eines "Chronosoms", dem er laut Biodaten in urrealistischer Manier "seit 40 Jahren hinterher jagt" (und dies, die Bemerkung sei gestattet, obwohl Finkelstein im möglichen Spektrum der Interpretationen der Quantenphysik deutlich dem konstruktivistischen Lager zuzurechnen ist).
"Zeit kommt in Wirklichkeit vom Experimentator", sagte Finkelstein in der x-ten Auflage eines naiven Trivialkonstruktivismus, der nicht nur dem non-dualistischen Philosophen Josef Mitterer, Leiter der Abschlussrunde des ersten Tages, wohl ein müdes Lächeln kosten würde. Denn mit Aussagen, die auf dualen Unterscheidungen beruhen (wie Experimentator [Subjekt] und untersuchtes System [Objekt]), hat man immer seine Schwierigkeiten, wenn man sie unhinterfragt und noch dazu in einem ontologischen Sinne ("in Wirklichkeit") verwendet.
Und so war es auch Josef Mitterer, der die Runde der Physiker am ersten Abend fragte, wie sie nun zur Wahrheit stehen würden. Dabei überraschte bei beiden Podiumsgesprächen ein Konsens, der vom Endophysiker Otto E. Rössler bis zum Quantenphysiker Henry P. Stapp reichte: Die Suche nach Wahrheit sei das Ziel der Wissenschaft, und die wahren Auffassungen würden sich durchsetzen.
Noch deutlicher als Josef Mitterer irritierte der Kulturwissenschaftler und Semiotiker Roger G. Uchtmann am zweiten Tag die durch die Bank wahrheitsliebenden Naturwissenschaftler: "Truth means death", warf er in den Raum, und erklärte das dann gleich wieder ganz darwinistisch. Ich möchte diese These abschließend umdrehen zu einem "Death means truth" und damit erneut die Kantsche Hoffnung verbinden, nach dem Tode dem Ding an sich ins Angesicht zu blicken.
Und Achtung: Als non-dualistischer Agnostiker in Bezug auf eine Welt jenseits von Raum und Zeit habe ich den letzten Satz freilich augenzwinkernd gemeint, wenngleich ich, gerade als ein am Leben hängender Biophilist, die Hoffnung doch nicht ganz aufgeben möchte! Auf das Luzerner Symposium muss ich auf alle Fälle zwecks tieferer Einsicht nicht mehr fahren. Im Diesseits gibt es spannendere Dinge.