Der Raum ist selbst ein Akteur des großen Schauspiels!

Seite 3: "Eine andere Sicht auf die Dinge der Welt"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die ich bislang jedem Astronauten gestellt habe und die sich auf den Overview-Effekt bezieht. Wäre es jetzt im kontrafaktischen Zeitalter nicht an der Zeit und höchste Eisenbahn, den Mächtigen, Politikern und Diplomaten der Welt die Chance zu offerieren, an Bord der Internationalen Raumstation ISS eine Konferenz abzuhalten und mit Blick auf den Planeten zu lernen, dass die Erde keine Grenzen kennt und der Homo sapiens evolutionsbiologisch gesehen dort nur einer ihrer Gäste ist.

Ulrich Walter: (lacht) Das wäre tatsächlich eine gute Idee, es wäre an der Zeit. Aber es wäre doch recht teuer!

Vor fast einem Vierteljahrhundert: Ulrich Walter bei der Arbeit im All. Bild: NASA

Wir müssten den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten einmal nach oben befördern! Er würde dies sogar aus eigener Tasche finanzieren können.

Ulrich Walter: (lacht) Natürlich wirkt der Overview-Effekt nachhaltig und er ist ein wichtiger Teil unserer Raumfahrt, da er einen Perspektivenwechsel ermöglicht. Man bekommt eine andere Sicht auf die Dinge der Welt.

Was ich aber nicht mag, ist, dass er immer wieder glorifiziert wird. Es ist ja nicht so, dass der Overview-Effekt der Weisheit letzter Schluss und das einzig Wahre der Raumfahrt sei. Ich bin einmal von der Grünen Partei kontaktiert worden mit der Bitte, einen Artikel über den Overview-Effekt zu schreiben, in dem ich vor allem über die Zerbrechlichkeit der Erde berichte. Ich lasse mich nicht partei-ideologisch instrumentalisieren.

Das ist in der Tat wenig begrüßenswert!

Ulrich Walter: Die waren sehr enttäuscht, als ich absagte.

Sie hätten bei einer anderen Partei eine Ausnahme gemacht?

Ulrich Walter: Nein. Ich würde mich auch nicht im religiösem Sinne äußern! Mir ist klar, dass ein Buch von mir mit dem Titel "Rendezvous mit Gott im All" ein Bestseller wäre. Aber meine Überzeugung im Leben ist, authentisch zu bleiben, vor allem meinem eigenen Gewissen gegenüber. Sie werden von mir nur Dinge hören, die meine Überzeugung widerspiegeln.

Für einen im All frei schwebenden Astronauten dürfte der Overview-Effekt sogar um einige Nuancen stärker sein. Bild: NASA

Sie durchschauen solche Suggestivmanöver!

Ulrich Walter: (lacht) Diese schon, aber Suggestion kann manchmal sehr subtil sein. Man muss sich manchmal zusammenreißen und bewusst Neutralität wahren. Man darf nichts überziehen und muss vermitteln, dass eben nicht alles so göttlich dort oben war. Wir haben nur alles aus einer anderen Perspektive gesehen. Nicht mehr und weniger!

Es gibt noch eine andere Perspektive, die ein im Orbit befindlicher Astronaut einnehmen kann. Und zwar indem er in die andere Richtung schaut. Mit anderen Worten: Haben Sie vom Space Shuttle aus das Band der Milchstraße gesehen?

Ulrich Walter: Ich habe es damals probiert. Das Problem war aber, dass die meiste Zeit über das Licht im Shuttle brannte, damit wir überhaupt etwas sehen konnten. Aber selbst wenn dieses ausgeschaltet war, war es nicht dunkel, weil bei uns ständig irgendwelche Kontroll-Lampen von diversen Instrumenten aufleuchteten.

Wir bekamen im Shuttle niemals eine ausreichende Dunkeladaptation hin. Das ist das Problem. Augen müssen mindestens 20 Minuten auf Dunkelheit adaptieren, damit man die Milchstraße in voller Schönheit erfassen kann. Man müsste die Augen 20 Minuten schließen und gezielt durchs Guckloch ins All schauen und dafür Sorge tragen, dass keine von der Seite kommende Lichtquelle stört.

Juri Gagarin. Viele Moon-Hoax-Befürworter zweifeln auch an seiner historischen Tat. Bild: alldayru.com

Einer Extrapolation von historischen Demografen zufolge haben auf diesem Planeten seit dem Aufkommen des Homo sapiens vor 100.000 Jahren zirka 108 Milliarden Artgenossen das Licht der Welt erblickt. Seit Gagarins Pionierflug 1961 waren bislang nur 541 Menschen im All. Sie dürfen sich daher getrost zu einer ungewöhnlichen Minderheit zählen, die eine Erfahrung durchlebt hat, die einzigartig ist. Eingedenk Ihrer orbitalen Erfahrung möchte ich Sie abschließend pathetisch fragen: Was wäre Ihre Botschaft, was geben Sie uns mit auf dem Weg?

Ulrich Walter: Wir leben in einem Zeitraum der Menschheitsgeschichte, die vor etwa 200.000 Jahre begann. Der Weg bis heute, der Kampf unserer Vorfahren bis heute, war unglaublich hart. Wir haben erst seit wenigen Jahrhunderten das Privileg, wissenschaftlich denken und handeln zu können. Erst vor wenigen Jahrzehnten haben wir einen Intelligenz- und Organisationsgrad erreicht, der es uns ermöglicht, Dinge zu erkennen und zu tun, die nachhaltig sind. Und ich halte es für ein extrem hohes Privileg, dass ich mich zu den wenigen Menschen in der gesamten Menschheitsgeschichte zählen darf, die als Raumfahrer diese einmalige Erfahrung machen durften.

Mein Weg ins All war viel unwahrscheinlicher als ein Lottotreffer. Er ist durch nichts bezahlbar. Es war pures Glück. Ich hätte genauso gut vor 4000 Jahren leben und beim Bau der Pyramiden als Sklave enden können. Nein, ich hatte das Glück, in eine Gesellschaft und in ein Land hineingeboren zu werden, das eine wissenschaftliche Kultur besitzt. Das ist gewiss ein großer Zufall. Nur das Privileg unser eigenen Existenz ist ein weitaus größerer Zufall.

Wir leben in dieser Welt und können über unsere eigene Existenz reflektieren und darüber philosophieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass es uns nicht gegeben hätte, ist viel, viel größer als unser Sein in dieser Welt. Wir sollten uns an dieser wunderbaren Tatsache und der betörenden Schönheit der Natur stets erfreuen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.