Der Sinn unehrlicher Bahn-Ansagen

Bild: Yannes Kiefer/Unsplash

Rund um Feiertage ist das Chaos bei der Deutschen Bahn zuverlässig besonders groß. Die Kommunikation zu Verspätungen und Streckensperrungen wirkt dabei oft lückenhaft. Das wird zu selten gewürdigt.

"Das war das erste und letzte Mal, dass wir es mit dem Zug probiert haben. Solch ein Chaos tue ich mir nicht nochmal an, kannste vergessen, Klima hin oder her. Das Auto ist hundertmal zuverlässiger als diese Deutsche Bahn. Dann müssen wir auch nicht in dieser Scheißkälte stehen!"

Grund der Erregung jenes Mannes, den ich hier so anonym zitiere, wie er mir in unserer Schicksalsgemeinschaft vor wenigen Tagen blieb, war eine Mitteilung der Blechelse. Aus den Lautsprechern an unserem Bahnsteig war gerade folgendes erschallt: "Information zu ICE 643 nach Berlin Ostbahnhof, Abfahrt 08:52, heute ca. 120 Minuten später. Wir bitten um Entschuldigung".

Die hoch-professionelle Emotionslosigkeit der Blechelse dürfte an der Verzweiflung wartender und gestrandeter Bahnkunden gelegentlich nicht unbeteiligt sein. Diese vom Computer aus Versatzstücken einer echten menschlichen Stimme zusammengebauten Bahnhofsdurchsagen unterscheiden nicht zwischen fünf Minuten Verspätung oder totalem Zugausfall.

Auch bei sehr unterschiedlichen Ursachen: "Grund dafür ist ein Notarzteinsatz am Gleis" oder "Grund dafür ist eine Verspätung aus vorangegangener Fahrt" – der Tonfall ist gleichermaßen ungerührt, obwohl Dramatik und Verantwortlichkeit doch weit auseinander liegen.

Wobei wir Fahrgäste schon den Eindruck haben, dass die Bahn auf Abwechslung bei ihren Begründungen achtet: neben den Klassikern Stellwerksausfall, technische Störung am Zug, Personen im Gleis und Verzögerungen im Betriebsablauf, die gelegentlich wie gewürfelt daherkommen, in Wahrheit aber wohl einfach nur oft alle gleichzeitig zutreffend sind, gibt es auch Schmankerl, die noch aufhorchen lassen, etwa: "Grund dafür ist das Betätigen der Notbremse."

Was die Blechelse genannte Automatenstimme ungerührt vorträgt, ist letztlich nur eine Chiffre für "Wir kriegen es halt gerade mal wieder nicht hin." Aber wie groß wäre die Verärgerung der Kunden erst bei solchen Klartext-Ansagen? Die umgehen wir doch selbst auch gerne.

Wer sagt schon, wenn er zu spät zu einem Treffen kommt: "Mir waren andere Dinge wichtiger als ihr, deshalb bin ich zwei Stunden zu spät, passt schon"? Schlechte Geschäfte gemacht? Wir sagen schlicht "wegen Corona". Tomatenanbau im Garten gescheitert? "Das Wetter". Diät nicht durchgehalten? "Ist wegen des Stoffwechsels". Wir lieben die Wahrheit verschleiernde Floskeln.

Wie riskant Emotionen und die alleine damit bekundeten Wahrheiten bei Bahndurchsagen sind, erleben Reisende im Zug. Denn im Fernverkehr spricht noch ganz individuell der jeweilige Zugchef. Da poltert es schon mal aus den Wagonlautsprechern: "Das Rauchverbot gilt nicht nur im Zug, sondern auch vor dem Zug. Wer am nächsten Bahnhof vor den Türen raucht, kann sein Gepäck gleich mitnehmen, die Fahrt endet dann dort."

Mal stottert ein Schaffner ins Mikrofon, er verstehe die Deutsche Bahn auch nicht immer, mal versucht sich einer mit etwas politischem Humor an der FFP2-Maskenpflicht, immer verletzen eindeutige Ansagen die Befindlichkeiten einzelner Kunden, die sich sofort beschweren, heutzutage gerne öffentlich auf Twitter, um den Handlungsdruck der Obrigkeit zu erhöhen.

Da sind Floskeln und der Mut zur Lücke besser. Gelegentlich sagt ein Zugchef gen Ende der Fahrt so etwas wie: "In wenigen Minuten erreichen wir pünktlich unseren Ziel- und Endbahnhof Hintertupfingen Nord." Ganz ohne "wegen" – und jeder darf sich fragen: Wie konnte das geschehen? Haben wir einen besonders tollen Hecht im Lokführerstand? Haben unsere Schaffner flotter gepfiffen als andere? Haben alle Weichen und Schranken und Signale versäumt zu streiken? Wurde hier Unmögliches möglich gemacht oder geben sich andere Bahnmitarbeiter nur weniger Mühe?

Der Zugchef lässt es klugerweise offen, und jeder kann sich seinen Teil denken. So wie wenn wir uns verabschieden und uns noch nicht für die Zukunft festlegen wollen. Zu entfernten Bekannten heißt es dann "man sieht sich", in Restaurants oder zum Schaffner sagen wir "Tschüss, bis zum nächsten Mal". Selbst wenn wir hoffen, dass es dazu niemals kommen wird.