Der Therapiestaat - die moderne Paternalismus-Maschine

"Betreutes Denken und Leben" und damit die Infantilisierung der Bürger schreiten voran

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Trotz aller Antipathie gegenüber dem Nationalstaat setzt heute das links-grüne Milieu voll auf ihn, wenn es um die Erziehung der Bürger zu besseren Menschen gehen soll - aber ebenso das rechtskonservative Lager zur Bewältigung von Migrations- und Beliebigkeitskrisen. Beide weisen der Verwaltung neue und mehr Aufgaben zu. Staaten, genauer: die staatliche Verwaltung, die Bürokratie, werden dabei emotional positiv als eine Art guter Freund der Bürger gesehen.

Klassische Liberale, die eine möglichst große individuelle Freiheit vom Staat wollen, gibt es anscheinend kaum mehr. Beim linken Milieu kommt das Paradox hinzu, dass sie nicht nur viele neue Regeln haben wollen, dies aber lieber nicht nationalstaatlich, sondern von der EU oder am besten globalistisch lösen möchten.

Politische Herrschaft

Die Rechtsunterworfenen hatten mit ihrem politischen Herrscher, dem Fürsten, schon immer zu teilen. Der Zehent, als Tributzahlung, war bereits im Altertum in verschiedenen Kulturen bekannt und über das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit üblich. Das war ein Zehntel des erwirtschafteten Einkommens eines Untertans (und seiner Familie), in Kriegszeiten waren es gerne mehr. Heute geht es übrigens im Schnitt bei Singles in Deutschland an die 40 Prozent.

Das Grundversprechen zwischen Herrscher und Untertan lautet: Zehent gegen Sicherheit der Person und des persönlichen Eigentums. Immer feiner ausziseliert durch das ausufernde Rechtssystem. Die Fiktion des Gesellschaftsvertrages ist dabei ein Erklärmodell. Kein einziger Bürger hat mit seinem Staat eine solche Vereinbarung geschlossen. Das neugeborene Kind ist bereits rechtsunterworfen, die Eltern haben nur so viel mitzureden, als das Kindswohl nicht gefährdet wird. Ja, in diesem Beitrag soll die verbreitete Staatsromantik gegen den Strich gebürstet, gelesen werden.

Waren lange Zeit die Kirchen die "moralische Anstalten" der Gesellschaft, die den Menschen vorgeschrieben haben, was sie tun und lassen sollten, so übernahm - als Nebeneffekt sowohl der Aufklärung wie der Industrialisierung - langsam die staatliche Bürokratie diese Aufgabe. Schulpflicht, Arbeitspflicht, Eheverbote gab es mannigfach Anfang des 19. Jahrhunderts; die Französische Revolution schaffte exzessiv neue Gesetze. Mit dem Bedarf an möglichst gesunden Soldaten und rascher "Instandsetzung" von im Krieg Verletzten setzte der medizinische Aufschwung ein. Die Herstellung von Volksgesundheit war militärisches und politisches Ziel. Brauchbare Ernährung und Hygiene sowie geordnete familiäre Verhältnisse waren dann ärztlich inspirierte Anfänge, die Lebensweise der rechtsunterworfenen Individuen für eine militärische Nutzung zu verbessern.

Der beginnende Wohlfahrtsstaat übernahm die Aufgabe der "moralischen Anstalt", seine Eliten und seine Bürokratie entwickelten, oft rigoroser als die Kirchen, Lebenshilfe, Anleitung zum Besseren für die Bürger als breitangelegtes Ziel, bis hin zur Eugenik. Diese wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg (wegen der Massaker an der jüdischen Bevölkerung in Europa) tabuisiert. In den letzten Jahrzehnten ist die Funktion der "moralischen Anstalt" von grünen Parteien und vor allem von NGOs ergänzend zum Staat übernommen worden.

Die Auflösung des Privaten

Das private Leben war eine dem Adel abgeschaute Errungenschaft des Bürgertums, eine Folge der ökonomischen Selbstständigkeit. Im 19. Jahrhundert war das private Leben gut trennbar vom öffentlichen Erscheinungsbild, das jedoch korrekt sein musste, was Auftreten, Kleidung und gute Sitten anlangte. Privat galt das Briefgeheimnis - sogar rechtlich abgesichert.

Das änderte sich, einerseits unter kommunistischer Perspektive, andererseits auch mit soziologischer Perspektive. Es war nicht Marx, sondern der bürgerliche Émile Durkheim, der davon schwärmte, dass gut geführte Schulen die Kinder auf ein gemeinschaftliches Leben trainieren könnten, das eben antikollektivistische Ausrichtungen vermeiden könne und letztlich die Familien mit allen ihren Fehlern durch die Gemeinschaft ersetzte. Die freundliche Gesellschaft, der man dankbar sein kann; Erziehung muss den Menschen realisieren, den die Gesellschaft haben will und deren innere Ökonomie das ebenso braucht.

Das ist nicht aus einem DDR-Schulprogramm, sondern das ist Èmile Durkheim, Anfang des 20. Jahrhunderts.1 Und es ist die Grundidee hinter der Kita ab 1, dem Kindergarten und der Einheitsganztagesschule, die von linken Parteien seit Jahrzehnten im Interesse aller (?), gefordert werden. Damit sollten Selbstbezogenheit, Individualismus und Diversität, deren Ursachen in den Familien verortet wurden, endgültig beseitigt werden. So das politisch linke Verständnis, das in den USA weit früher als in Europa übrigens, in diese Richtung entwickelt war, wie Christopher Lasch bemerkt.2

Zudem ermöglicht man damit den Eltern, in erster Linie den Frauen, die Teilhabe an den erwerbswirtschaftlichen Wohltaten - Berufsarbeit macht die Frau erst frei (allerdings nicht in der Arbeit). Die Wohlhabenden jedoch - egal ob links oder konservativ - versuchen dem zu entkommen und schicken ihr Kind lieber auf diversifizierte private Schulen und Hochschulen, um den staatlichen "Zertifizierungscontainern" auszuweichen.

Sozialisierung

Die (gesellschaftlich-staatliche) Sozialisierung der Reproduktion ist das Ziel des Staates, nachdem die Wirtschaft eine betriebliche (kapitalistische) Sozialisierung der Produktion erreicht hat. Management und Sozialtechnologen haben den Arbeitern ihr Know How weggenommen, ihre Kunstfertigkeit und Herstellungsgeheimnisse gewissermaßen verbetrieblicht und einem determinierten Arbeitsregime unterworfen. Genauso hält es die staatliche Verwaltung mit ihren Untertanen. Durchplanung der schulischen Ausbildung, Verlängerung und Erweiterung ins Kleinkindalter (Kindergarten). Ausbau von Sozialfürsorge, der Jugendämter, der Eheberatung, der Frauenberatung und der Präventivmedizin.

Die Sozialarbeit übernimmt elterliche Funktionen und nimmt gegebenenfalls den Eltern das Kind weg, bringt es unter staatliche Obhut, wenn das "Kindeswohl" gefährdet ist. Zugleich folgt für Jugendliche ein eigenes, mildes Strafrecht, denn der kriminelle Jugendliche wird nun nicht mehr als Täter, sondern primär als Opfer gesehen. Manche dehnen dieses Verständnis auch auf Erwachsene aus.

Dieser zivilisatorische Fortschritt setzt in den USA im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein und folgt in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Verankert ist das in den nationalen Rechtssystemen, europarechtlich und durch UN-Charta. Verstärkt durch NGOs, die sich als Aktivisten für Kinderrechte verstehen. Die Hochstilisierung von Lebewesen-Gruppen zu Opfergruppen kennen wir von Frauenschützern und Frauenschützerinnen, von Tierschützern, von Migrantenschützern, nun von Kinderschützern.

Gerade eben werden diejenigen, die keine Spenderorgane ausfassen, nebst einer zu wenig ausgelasteten und hochprofitablen Transplantationschirurgie, zu neuen Opfergruppen erklärt. Na klar, dass dies den Staat gehörig stört, eignet doch der Bürger dem Staat. Früher hätte man vielleicht gesagt: Der Tote gehört dem Volkskörper und hat sich umstandslos als Ersatzteillager benützen zu lassen, aber das wäre wohl zu viel der verräterischen Sprache.

Hat man ein Kind, hat dessen Peer Group aus der Schule längst die eigene Herkunftsfamilie obsolet gemacht. Die bestimmt nämlich - meist brav der Werbung einerseits oder aggressiven Impulsen andererseits folgend -, was angesagt ist. Nicht nur der linksinspirierte Christopher Lasch, auch der zeitlebens, um es neusprachlich zu sagen, ultralinks gebliebene Herbert Marcuse haben diese destruktive Intervention von Kommerz und Verwaltung in die private Familie beklagt. Sie verhindert zuverlässig das Erwachsenwerden eines Subjekts.